New Yorks verschwundene Buchläden
und ein Besuch bei Sokrates

New York, 5. November 2008, 00:07 | von Dique

Georg Baselitz besitzt eine der besten Sammlungen manieristischer Druckgrafik, und über diese Sammlung gibt es das wunderschöne Buch »La Bella Maniera«, in welchem mir besonders die Stiche von Jacques Bellange ins Auge fallen.

Bellange ist ein Spätmanierist der Schule von Fontainebleau, und man weiß fast nichts über ihn. Seine Gemälde sind fast gänzlich zerstört, doch gibt es ca. 50 Stiche und einige Zeichnungen. Leichtschwebende figürliche Überlängungen, und das ist keine Kopiererei wie so häufig bei den späten Fontainebleau-Malern, sondern Handschrift und Erfindungsreichtum.

Bei bookfinder.com fand ich dann einen Ausstellungskatalog, »The Etchings of Jacques Bellange«, und weil der Laden in New York residiert, wollte ich also persönlich vorbeigehen, um das Stück zu erwerben.

Aber 1 University Place ist ein Apartment House, und da steht nichts von »Design Books«, wie der Laden heißen sollte. Ich habe natürlich auch die Telefonnummer nicht mitgenommen und stehe dumm da, frage aber trotzdem den Doorman und irgendeinen semi-uniformierten Delivery Man, ob sie vielleicht eine Ahnung haben.

Der Doorman hat keinen Schimmer, doch der Delivery Man sagt, dass die hier vor ca. 8 Jahren einen Laden gehabt hätten, »you’re eight years late, man«, sagt er und setzt nach einer kurzen Pause hinzu: »But if you want a book, why don’t you go to Barnes & Noble?« – »I’m not here because I want a book, you moron!«, sage ich dann aber nicht.

Wahrscheinlich operiert Design Books nur noch online. Aber weil wir einmal da sind, gehen wir gleich zur nächsten Adresse, denn hier im Umkreis der NY University gibt es einige interessante Buchläden. Über »12th Street Books« habe ich zum Beispiel noch gelesen, und tatsächlich gibt es unter der Adresse einen Laden, oder wenigstens die Überreste eines solchen, denn an der baumelnden Sonnenblende steht mit Sprühfarbe, dass sie nach Brooklyn umgezogen sind. Was für ein Tag.

Ein paar Straßen weiter dann die Rettung, »Strand Bookstore«. Motto dieses Ladens: »18 Miles of Books«, und genau so sieht es hier auch aus. Stunden später fällt uns ein, dass wir eigentlich endlich mal ins Metropolitan Museum of Art wollen, und wir lassen die Büchermeilen zurück, jeder ein paar Bändchen unterm Arm, wenn auch nicht den Bellange-Katalog.

Das Met schließt schon 17:30 Uhr, also haben wir keine Zeit für lange Lunches, und deshalb gibt es nur einen Oh Henry! Candy Bar, exakt den gleichen, den Sue Ellen Mischke, »the braless wonder«, in der Seinfeld-Episode »The Caddy« (7. Staffel, 12. Folge) in Jerrys Wohnung hinterlässt, also das Einwickelpapier, welches dann Jerry verrät, woraufhin folgender Dialog beginnt:

Kramer: I see. Yes. Little Miss Candy Bar paid a visit, didn’t she?
Jerry: Kramer, it is not what you think.
Kramer: Ahhhhh! I know what I think. I think you’re gaga over this dame. She’s twisted you around her little finger, and now, you’re willing to sell me, and Elaine, and whoever else you have to, right down the river.
Jerry: And what about you! Tryin‘ to bilk an innocent bystander out of a family fortune, built on sweat and toil, manufacturing quality Oh Henry! candy bars, for honest, hard-working Americans!
Kramer: You’re just out for sex!
Jerry: You’re just out for money!
Kramer and Jerry (together): Ahhhhh!

Die erdnussigen Riegel schmecken übrigens super, besser als Snickers, und als ich zu San Andi sage, dass ich mir davon einen Koffer mitnehmen werde, sagt er, dass ich dann auf komische Fragen der Zollbeamten sagen kann: »This is my Oh Henry! Candy Bar Fortune«, hehe.

Im Met rennen wir dann so schnell es geht zum »Sokrates«-Bild von David. Wir wünschten, Sébastien2000 wäre bei uns, der beste aller Speed Guides, oder dass wir wenigstens diese hässlichen, aber bequemen MBT-Schuhe tragen würden, die wir in Rom getestet haben. Im Zuge der Finanzkrise hat aber auch Sébastien2000 zu kämpfen, wie er per E-Mail mitteilt, macht er im Augenblick deutlich weniger Touren.

Sokrates sitzt auf dem Bett, und einer seiner Schüler reicht ihm den Schierlingsbecher. Der Becherüberreicher und auch die anderen Schüler befinden sich in dramatischen Posen der Fassungslosigkeit. Angeblich soll Sokrates am Vorabend seines Todes noch Gedichte verfasst haben. Auf die Frage eines Schülers, wie er denn zu diesem Zeitpunkt anfangen könne, Gedichte zu schreiben, obwohl er das vorher noch nie getan habe, antwortete der weise Mann: »Wann soll ich es denn sonst machen«, oder so ähnlich. (Anekdote)

Ansonsten gibt es im Met irgendwie alles, ein Rausch, mehrere dieser frühen Caravaggios mit lüsternen Knaben, die er für den frivol-dekadenten Kardinal del Monte (für die Betonung des Namens bitte die Hughes-Doku kucken) anfertigte, und gleich fünf (von denen wir nur vier sehen) der 36 oder 37 bekannten Vermeer-Bilder.

Wir haben uns zeitlich völlig vertan, und weil wir hier und heute eh nicht mehr viel reißen können, verziehen wir uns auf die Dach­terrasse, auf der wir von einem dieser erzhässlichen Jeff-Koons-Ballonhunde begrüßt werden, dafür gibt es aber eine schöne Aussicht über den Central Park.

Und wenn ich endlich einen iPod hätte, würde ich jetzt »How fortunate the man with none« von Dead Can Dance hören, in dem Brendan Perry folgende Strophe singt:

You heard of honest Socrates
The man who never lied
They weren’t so grateful as you’d think
Instead the rulers fixed to have him tried
And handed him the poisoned drink
How honest was the people’s noble son
The world however didn’t wait
But soon observed what followed on
It’s honesty that brought him to that state
How fortunate the man with none

Abendessen in China Town, im Wo Hop, welches im Zagat (ohne den geht San Andreas nirgendwo mehr rein) als »the basement from hell« angekündigt wird, und außerdem wird eine Brücke zu Woody-Allen-Filmen geschlagen, die ich nicht verstehe, anyway, »the food is excellent«, steht auch im Zagat und stimmt, besonders die Fried Dumplings.

In der Frick Collection:
Wie von Neo Rauch, nur in gut

New York, 4. November 2008, 00:05 | von Dique

Bevor wir ins Theater zu den »39 Steps« gehen, sehen wir uns nach dem Frühstück noch die Frick Collection an, welche stark an die Wallace Collection in London erinnert und, wie ich später bei Wikipedia lese, wurde Henry Clay Frick, der die Kunstwerke zusammengetragen hat, in der Tat von einem Besuch in selbiger Sammlung zu seiner eigenen Kunstvilla inspiriert.

Auch die Themenwahl ist ähnlich, es gibt da einen Fragonard-Saal, viele dieser schönen pompösen englischen Portraits von Gainsborough, Lawrence und Reynolds, ein paar schöne Turners und gleich 3 Gemälde von Vermeer. Aber eben kaum Religiöses oder Militärisches, Themen, die auch der Marquis von Hertford nicht in seiner Sammlung haben wollte.

San Andreas erwähnte bereits das Thomas-More-Portrait von Holbein, welches das Publikum mitunter geschlossen auf die Knie fallen lässt, und gleich gegenüber hängt das vielleicht spektakulärste Werk der Sammlung, der »St. Francis« von Giovanni Bellini. Die New York Times schrieb dazu im Oktober 1915, kurz nachdem Frick es für $250.000 gekauft hatte [PDF]:

When the painting was shown in the Old Masters‘ Exhibition at Burlington House the London critics greeted it with enthusiasm. Sir Sidney Colvin said of it: »It is perhaps the most important page of imaginative landscape painting produced in Italy in the late fifteenth century, and, moreover, is wholly original and exceptional in its treatment of the theme.«

And original it is, in warmem gelblichem Ton, der heilige Franz steht aufrecht vor seiner Höhle, die ausnahmsweise hell und wohnlich erscheint und vor der sich ein eingezäunter Steingarten befindet, ein imposanter Esel steht auf der Wiese und man sieht sogar eine Schnur für die Türklingel. Im Hintergrund, gar nicht weit weg, ist die Stadt, und über den Himmel ziehen Kumuluswolken, farblich sieht es von weitem sehr modern aus, wie von Neo Rauch, nur in gut, und das um 1480.

Die gelbe Sonne spendet spätherbstliche Wärme, doch wir müssen ins dunkle Theater, »The 39 Steps«, wie erwähnt. In der Pause gehe ich zum Restroom, vor dem sich eine Schlange aufreiht. Vor mir ein freundlicher Herr im McCain-Outfit, graue Hose, marineblauer Blazer, und der sagt zu mir, in breitem amerikanischen Englisch: »It’s like a poker game!« – »Like a poker game?« – »Full house, waiting for a flush!«

Naja, zumindest das Stück war hilarious, aber das wissen wir ja schon von San Andreas. Wir gehen dann doch noch mal zum Central Park und stehen am Jackie Kennedy Onassis Reservoir und schauen aufs Wasser. Neben uns spricht irgendein Jogger mit zwei Frauen. Er verabschiedet sich gerade und ruft den beiden im Weggehen hinterher: »And please, if you possibly can, vote for Obama!«

Und wir waren noch immer nicht im Metropolitan Museum of Art …

Neulich, am Broadway

New York, 3. November 2008, 00:02 | von San Andreas

Wenn man sich der TKTS-Bude auf dem Times Square von Uptown her nähert, kann man schon das Board sehen, auf dem die verfügbaren Tickets aufleuchten. Halfprice, da muss man nehmen, was man kriegt. Heute am Samstag wird’s extra schwierig werden, es ist date night, viel Volk unterwegs. Vom Flug bin ich etwas erschlagen, vielleicht haben sie ja etwas Leichteres im Angebot …

To be or not to be. Die Broadway-Verwurstung des Klassikers tritt ein schweres Erbe an, denn wer balanciert schon Drama, Farce, Politik und Screwball so meisterlich wie Lubitsch. Niemand tut das, obwohl Mel Brooks vor 25 Jahren eine durchaus achtbare Hommage zustande brachte.

Schaut man das Original heute an, überrascht es durch seine zeitlose Frische; die Broadway-Produktion hingegen wirkt schon beim ersten Ansehen angestaubt und altbacken. Die Pointen sind rar gesät und sitzen nicht, die Dramaturgie lässt kein Fettnäppchen aus, stolpert hölzern von Klischee zu Klischee, das Ensemble entwickelt kaum den Hauch einer Chemie.

David »Sledge Hammer« Rasche gibt Josef Tura, einen kapriziösen, letztendlich schlechten Schauspieler, aber er spielt ihn schlicht schlecht, als grotesk chargierenden Theatertölpel. Wie fein nuanciert war Jack Benny in der Rolle gewesen; ihm nahm man auch Turas couragierte Charaden im folgenden Nazigetümmel ab.

Ein netter Gag gelingt immerhin, als während Turas fürchterlicher Rezitation des Hamlet-Monologs sich ein Herr mit Uniform und Blumenstrauß im Publikum erhebt und Entschuldigungen flüsternd den Saal verlässt – die Zeile »To be or not to be« war das Signal für ihn gewesen, Turas Frau zum heimlichen Techtelmechtel hinter der Bühne aufzusuchen. Eine schöne Umsetzung des Theater-im-Theater-Themas, aber man hätte die Chance nutzen sollen, ebenfalls seinen Sitzplatz zu räumen, Halfprice hin oder her.

*

Dienstagabend, 40 Minuten vor Vorhang. Heute hab ich es auf »All My Sons« abgesehen; eine Bekannte versicherte mir, das Miller-Stück wäre »riveting«, doch ausgezeichnete Kritiken und Starpower (John Lithgow, Katie Holmes, Dianne Wiest, Patrick Wilson) würden es wahrscheinlich hard-to-get machen. »A Man for All Seasons« wäre auch interessant, die Geschichte um Thomas Morus, passend zu Holbeins prächtigem Gemälde in der Frick Collection. Leider auch sehr gute Kritiken … Aber da entdecke ich, noch an der Ampel stehend, einen ziemlich kurzen Titel am Board, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte …

Equus. Auch dieses Stück von Tony Shaffer ist ein Revival, die Ur-Premiere war am Old Vic in London, 1973. Dann kam es an den Broadway, und seine Qualität zog viele hochkarätige Kräfte an; in über 1000 Performances spielten u. a. Anthony Hopkins, Richard Burton und Anthony Perkins die Rolle von Martin Dysart, dem Psychologen, der die Beweggründe des Stallburschen Alan Strang zu entschlüsseln sucht, sechs Pferde mit einem Hufpick zu blenden.

Sidney Lumet verfilmte das Material mit Burton, doch das in diesem Fall unangenehm explizite Medium schmälerte irgendwie den Geist des Stücks. Vielleicht hat Daniel Radcliffe den Film deswegen nicht angesehen; er liefert seine eigene Interpretation des Adoleszenten, der die Repressionen seiner Erziehung mit einer Art selbstgebauter Pferde-Religion kompensiert.

Das klingt krude, aber das Stück entwickelt eine bestechende innere Logik. Dysart fischt in den juvenilen Abgründen, fördert religiöse Indoktrination, fehlgeleitete Sexualität und befremdliche Rituale zutage, kommt aber letztlich nicht umhin, Strang um seine genuine Leidenschaft zu beneiden. Selbst in permanentem Selbstbetrug gefangen, realisiert er die Unfreiheit des Individuums, im Zaum gehalten von den Zügeln der Gesellschaft.

Schwerwiegende Einsichten, erstaunlich leichtfüßig vermittelt von Richard Griffiths, dessen fantastische Bühnenpräsenz nicht nur von dem mächtigen Übergewicht herrührt, das der Mann um sich herum versammelt hat. Griffiths strahlt eine Wahrhaftigkeit aus, die man im Theater häufig genug vermisst, lässt geschriebenen Text so wirken, als wäre er ihm gerade eingefallen.

Selbst Shaffers ausufernde, symbolbeladene Monologe gehen über Griffiths direkt ins Blut. Seine Szenen mit Radcliffe knistern, sie überwinden die Psychiatrie-Klischees der Geschichte mühelos und entwickeln in szenischen Überblendungen eine wunderbare Plastizität. Die berührendsten Szenen aber trägt Radcliffe allein; wohldosierte Bühneneffekte verdichten seine Soli zu schaurigen, orgiastischen Schlüsselmomenten. Besonders das Ende des ersten Aktes lässt einem den Atem stocken.

Dass der Neunzehnjährige die letzte Viertelstunde des Stücks ohne einen Fetzen Stoff am Leib auf der Bühne verbringt, ist dann auch eher seiner Kompromisslosigkeit und Integrität zuzuschreiben als dem PR-Kalkül seines Agenten. Freilich drängen sich nach der Vorstellung autogrammheischende VerehrerInnen am Bühnen­ausgang; sie werden den jungen Wizard jedoch künftig mit etwas anderen Augen betrachten.

*

Mit Dique, der endlich in der Stadt ist, will ich eine sonntägliche Matinee-Vorstellung besuchen; wir sind kein Risiko eingegangen und haben die Tickets online geordert – das kleine, aber feine Cort Theatre in der 48th Street ist womöglich schnell ausgebucht. Auf dem Programm steht ein Stück, das Dique in London längst hätte sehen können, denn dort läuft es seit zwei Jahren …

The 39 Steps. Am Broadway wird die Adaption mit dem Präfix »Alfred Hitchcock’s« angepriesen, während im West End mit »John Buchan’s« der Autor der Romanvorlage von 1915 angeboten wird, dessen Name dort wohl noch geläufig ist. Das Stück steht aber weder dem Roman noch Hitchcocks hervorragendem Film besonders nahe, denn hier haben wir eine Karikatur des Stoffes, eine unbändige, bunte Comedy, die so over-the-top ist, dass es schon wieder Spaß macht.

Nur vier Akteure teilen sich Dutzende von Rollen, wechseln Identitäten, Kostüme, Dialekte mitten im Gespräch, hasten in fliegenden Szenenwechseln von Schauplatz zu Schauplatz. Da gerät das Stück zur Liebeserklärung an das Theater schlechthin: mit einfachsten Mitteln werden ruckzuck frappierende Illusionen geschaffen. Da werden ein paar Kisten und einige vorbeifahrende Schilder zur schnaufenden Eisenbahn, verschiebbare Türen und hochgehaltene Fensterrahmen schaffen imaginäre Räume, während ausgefuchstes Sound- und Lichtdesign die Täuschung perfekt macht.

Einmal verwandelt sich die komplette Bühne in ein zweidimen­sionales Schablonentheater; die halsbrecherische Flucht des Protagonisten vor feindlichen Doppeldeckern zündet unmittelbar Assoziationen mit »North by Northwest«, und als links auf der Anhöhe ein kleiner Schattenriss-Hitchcock hochklappt, kann sich kaum ein Zuschauer ein lautstarkes Schmunzeln verkneifen.

Dann und wann brechen Momente der Ironie das überzeichnete Schauspiel: Als sich einmal alle vier Darsteller auf der Bühne befinden, erscheint plötzlich eine Hand hinter dem Vorhang und feuert einen Schuss ab. Alle halten verdutzt inne, schauen sich ratlos an, und der tödlich Getroffene beschwert sich, bevor er theatralisch darniedersinkt: »It was supposed to be a cast of four!«

Das ist Wegwerf-Theater im besten Sinne, hier zeugt jede Improvisation von höchster Kunstfertigkeit, jedes liebevolle Detail von kindlicher Begeisterung für das Medium. »The 39 Steps« mag leichte Kost sein, doch kommt das Stück weitaus ehrlicher daher also so manch aufgeblasenes, überproduziertes Broadway-Spektakel. Warum einen echten Wasserfall auf die Bühne wuchten, wenn es auch ein wackelnder Duschvorhang tut. Und wenn dann Bernard Herrmanns Psycho-Geigen kreischen, ist ein weiterer Lacher gebongt.

Babylon, BBQ und ein Éclair

New York, 2. November 2008, 05:07 | von Dique

Ankunft JFK. Fast eine Stunde an der Passkontrolle, Lektüre »Persian Fire« von Tom Holland:

»Immigrants, whether slaves and exiles or mercenaries and merchants, thronged the streets of Babylon – history’s first truly multicultural city. Even after the loss of her independence to Cyrus, she had remained the Near East’s supreme melting-pot, her streets filled with a thousand different tongues, the roaring of exotic animals and the flashing of strange birds …«

Dann endlich mit dem AirTrain nach Howard Beach und von dort mit der Metro nach Manhattan, dort treffe ich San Andreas an 42nd Street Ecke 8th Avenue. Gleich weiter in die Pharmacy auf der anderen Straßenseite, um mit Paracetamol versetzten Hustensaft gegen die anklingende Erkältung zu kaufen. Leider gibt es mein bevorzugtes All-in-One von Beechams nicht und ich beginne mich mit einem vergleichbaren Produkt zu kurieren.

Wir gehen dann ins Daisy May’s zum Abendessen, laut dem Zagat (den schleppt San Andreas tatsächlich mit sich rum) das beste BBQ in New York. Sehr einfacher Order-at-the-Counter-Laden, Pappteller und Plastikbesteck, und wir unterhalten uns über »The Graduate«, weil uns das Besteck daran erinnert, wie Ben (Dustin Hoffmann) vom Mann seiner zukünftigen Affäre, Mrs. Robinson, zur Seite genommen wird und dieser zu ihm sagt: »I want to say one word to you. Just one word.« Und nachdem Ben versichert hat, dass er zuhört, sagt er: »Plastics.«

Es gibt dann Ribs, Beef Brisket und vier Side Dishes (Sweet Potato Mash, Creamy Spinach, Dirty Cajun Rice und Corn with Cheese). Die Ribs sind in der Tat ausgezeichnet, das Brisket kommt unerwartet in sehr kleinen Stücken, und wir fragen uns, ob wir vielleicht falsch bestellt haben.

In der New York Times schrieb neulich Holland Cotter in seinem Artikel »A Banquet of World Art, 30 Years in the Making« über den scheidenden Met-Kurator Philippe de Montebello und eine Ausstellung von 300 Werken, die unter seiner Ägide eingekauft wurden, 300 von 84,000(!), die er in dieser Zeit absegnete:

»The 300 objects in the show represent a tiny fraction, and a madly eclectic one. Chinese scrolls, Greek vessels, Oceanic effigies and an 18th-century American pickle holder share the spotlight, with no object privileged as better – grander, rarer, prettier – than any other. This is a wonder-cabinet situation, an exercise in proprietorial pride, an unabashed, if surprisingly low-key, display of fabulousness.«

Darauf freuen wir uns dann morgen, jetzt noch schnell irgendwo in der Nähe auf Kaffee und Éclair und ab ins Bett.

Knigge und die Filmpiraterie

Konstanz, 1. November 2008, 17:41 | von Marcuccio

Manche meinen ja, das »Baader-Meinhof-Ärgernis«

»fängt schon mit dem Vorspann an. Dort wird man als zahlender Kunde erstmal wieder eingeschüchtert und mit Gefängnis bedroht, weil man ja theoretisch diesen Superdupi Film abfilmen und im Internet anbieten könnte. (…) Das ist genauso frech wie diese nicht vorspulbaren Spots auf Kauf-DVDs, in denen mehrere Jahre Knast angedroht werden, wenn man diese DVD jemals auch nur im Ansatz kopieren sollte. Als zahlender Kunde muss ich mich erstmal einschüchtern lassen?«

Nein, und deswegen kann man schon mal festhalten: Diese Angriffsrhetorik gehört zu den nervigsten neueren Film-Paratexten überhaupt.

Ginge der Pirateriehinweis nicht auch anders? Höflicher, stilvoller, umgänglicher? Vielleicht so wie gestern, im Kino.

Noch läuft die Eiswerbung. Dann geht das Licht wieder an, damit auch alle im Hellen auf den Eisverkäufer warten können. Jede Minute Verspätung ein Eis weniger, sage ich immer.

Neben mir kramt Palma ihre neueste Errungenschaft raus. Adolph Freiherr von Knigge: »Über den Umgang mit Menschen«.

»Eure Cover-Version unseres Libro del Cortegiano. Aus einem italienischen Epochenwerk für den Adel wurde eine deutsche Stilfibel für das Bürgertum.«

(Woher kennt sie eigentlich das Wort Stilfibel? Egal.)

Ich halte dagegen, dass zwischen Castiglione und Knigge immerhin 260 Jahre und eine Aufklärung liegen. Trotzdem: irgendwie ein Missverständnis, dass Knigge zum Knigge für Tischregeln und Kleiderkonventionen verkam … Übrigens sagt Palma tatsächlich »Njiddsche«. Wie eine Mischung aus »Gnocchi« und »Dittsche«.

Der Eisverkäufer ist im Saal (endlich!). Während tatsächlich noch was gekauft wird, flüstert mir Palma den Knigge ein. Über den Umgang mit Frauen. Über den Umgang mit Juden. Mit Geistlichen. Mit Gelehrten, Künstlern und Kaufleuten. Mit Fürsten, Vornehmen und Reichen. Mit Bauern, mit Tieren, mit »sich selbst« … und – das scheint gerade jetzt, wo das Licht runterdimmt und der Film endlich losgeht, angebracht: Über den Umgang mit Raubkopierern:

»Einige meiner Schriften sind in Wien und Leipzig nachgedruckt worden; sollte einer von der berüchtigten Zunft etwa auch auf dies Büchelchen eine korsarische Unternehmung von der Art wagen wollen, so dient demselben die Nachricht, daß alle Vorkehrungen getroffen sind, den Schaden eines solchen Diebstahls auf den Räuber fallen zu machen.«

Der Witz ist, dass Adolph Freiherr von Knigge das vor 220 Jahren schrieb (»Hannover, im Jänner 1788«). Am besten wir Kinogänger machen jetzt auch eine korsarische Unternehmung und projizieren den Satz mit unserem Handy-Beamer so lange an die Kinoleinwand, bis die Branche spannendere Urheberrechtshinweise textet.

Die Metapher »2.0«

Konstanz, 31. Oktober 2008, 18:28 | von Marcuccio

Wie lange sagen wir eigentlich noch »2.0«? Das frage ich mich schon länger, auch heute wieder, wo mir via »Börsenblatt«-Newsletter eine Anzeige für einen Reader zum Thema E-Book in die Mailbox flattert:

»Gutenberg 2.0« heißt das Werk. Gab es eigentlich in den letzten 2,0 Jahren etwas, das noch nicht 2.0 war? Was und wieviel muss eigentlich noch 2.0 werden, damit es mal wieder was Neues (3.0? bestimmt nicht, hehe) geben kann.

Und ich bin mir meiner Mitschuld (»Lesen 2.0«) ja durchaus bewusst, möchte an dieser Stelle aber trotzdem Dirk Knipphals danken. Denn ich glaube, es war Feuilletonpremiere, als er neulich (taz vom 18. 9.) schon mal versuchsweise so etwas wie einen Nachruf auf die Chiffre verfasste, um sie – weil’s so schön ist – doch noch ein letztes Mal selbst in Anspruch zu nehmen:

»Aus dem engeren Umfeld von Internet und Update hat sich diese Chiffre längst gelöst. Sie besagt nur noch, dass irgendetwas anders geworden ist als früher, und zwar leichter, anpassungsfähiger, aber dennoch keineswegs unverbindlich. Von der Ehe 2.0 hat man schon gelesen (man redet in ihr auch miteinander) und auch vom Hausputz 2.0 (offenbar gibt es besonders leistungsfähige Staubwischtücher).«

Wann aber kommt der wahre, lange Ganzseiter über den Anfang vom Ende der Endung 2.0? Vielleicht druckt die FAZ – wie seinerzeit das Genom – ja auch einfach mal seitenweise 2.0-Belege ab. In Form von Wortfeldern und Tag Clouds, das wäre vielleicht ein echter Nachruf 2.0.

Thomas Buddenbrook zur Finanzkrise:
»Wenn alles schon wieder abwärts geht …«

Konstanz, 30. Oktober 2008, 22:31 | von Marcuccio

20 Jahre später als Daniel Kehlmann lese ich dann auch endlich mal die »Buddenbrooks«, halb inspiriert von Kehlmanns Rede, halb getrieben von Panik, den Buddenbrooks womöglich alsbald unvorbereitet im deutschen Fernsehfilm-Kino zu begegnen.

Und es ist jetzt natürlich Zufall (oder doch Fügung? nein, einfach nur banal!), dass ich just heute auf Seite 431 angelangt bin: Das ist gut die Mitte in der Fischer-Taschenbuchausgabe von November 1996 (812.-836. Tausend) und zugleich der Punkt, wo Tom Buddenbrook eigentlich alles hat: einen Stammhalter, einen Posten im Senat, ein neues Haus. Allein …

»Ich weiß, daß oft die äußeren, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstieges erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht. Diese äußeren Zeichen brauchen Zeit, anzukommen, wie das Licht eines solchen Sternes dort oben, von dem wir nicht wissen, ob er nicht schon im Erlöschen begriffen, nicht schon erloschen ist, wenn er am hellsten strahlt …«

Was Tom da zu seiner Schwester Tony sagt, lässt nicht nur weiter großepische Niedergangsdiagnostik (»Verfall einer Familie«) erwarten. Es liest sich irgendwie auch wie eine Miszelle zu den rekordniedrigen Arbeitslosenzahlen inmitten der globalen Finanzkrise.

Die FAS vom 26. 10. 2008:
Peter Richter meets Gerhard Richter

Lipsia, 30. Oktober 2008, 00:27 | von Paco

für Joachim Lottmann,
il peggior fabbro :-)

Die beste deutsche Literatur entsteht im Moment oft direkt als Automaten­übersetzung ins Italienische. Siehe Joachim Lottmann, il peggior fabbro, der das mit seinem Text »Barack Obama in Italia« so gemacht hat (tazblogs, 23. 7. 2008). Sia come sia, quello che manca è un rundown della FAS in italiaaano, quindi, ragazzi, lo facciamo adesso:

Bene, è stata un’edizione dominata dall’articolo in apertura della rubrica ›Feuilleton‹: Peter Richter ha incontrato Gerhard Richter (»Vor einem Wasserfall aus Farbe«, pag. 25). Tutti e due sono nati a Dresda, tutti e due hanno lo stesso cognome. Non sarebbe il ›Feuilleton‹ della FAS, se non venisse tematizzato. Il dialogo dei due diventa un po‘ improduttivo, fortunatamente, dal momento che …

»… deswegen sprachen wir dann eben doch über den Namen Richter und darüber, dass ihm ein Lehrer einmal riet, sich aus Karrieregründen lieber Waltersdorf zu nennen, nach seinem Heimatort; aber so etwas machen, von Schmidt-Rottluff bis Baselitz, nur Expressionisten. Er sei seinem Ziehvater sehr dankbar für den Namen, und auch seine Kinder trügen ihn gern. Wir einigten uns darauf, dass fehlende Seltenheit kein Makel sei, sondern schön wie die seriellen Objekte von Donald Judd.«

Ecco! L’occasione per l’articolo sono due mostre, una nel museo Ludwig a Colonia (»Abstrakte Bilder«), l’altra nel museo Morsbroich di Leverkusen (»Übermalte Fotografien«).

Delle altre cose che ho letto:

Bernard Henri-Lévy e Claudius Seidl prendono le parti di Milan Kundera (come del resto molti altri al momento).

Johanna Adorján si intrattiene con la ricomparsa Grace Jones.

Reich-Ranicki scrive di Stefan Zweig.

Peter Körte ci mostra come la TV tedesca distrugga (congiuntivo!) il cinema del paese.

E Stefan Niggemeier propone una trasmissione dal nome »XY … ungelesen« (divertente!).

(eccetera)

Christian Kracht in Leipzig

Leipzig, 26. Oktober 2008, 10:19 | von Paco

Eigentlich hatte ich gestern Abend schon was vor, dann rief aber Millek an. Frage: Ob ich mit zu der Kracht-Lesung komme. Nun wusste jeder in Leipzig, dass es bei der diesjährigen Kracht-Tour keine Leipziger Lesung geben würde, weil irgendetwas nicht geklappt hatte.

Nun also doch. Auf der Homepage stand nichts davon: »24.10. Berlin, 26.10. Göttingen.« Und am 25.10.: kein Leipzig. Aber auf MySpace, sagte Millek. Er hatte tatsächlich Recht. »25.10. Leipzig, Galerie Bode & Rillert.« Ich hatte von dem Ort noch nie gehört, aber laut Millek handelte es sich dabei um einen spontan eingerichteten Lesungsraum, der sich in einem der verfallenden Häuser in der Langen Straße befinden sollte.

Wir warteten vor dem Haus noch eine Weile auf einige Leute. Der Eintritt war schönerweise frei. Als aber plötzlich jemand mit Barbourjacke aufkreuzte, baute sich sofort ein Connewitz-Punk vor der Türe auf und verlangte 8 Euro Eintritt. Als er merkte, dass die anstandslos bezahlt wurden, machte er weiter, kam so auf fast 50 Euro, übertrieb es aber schließlich. Als er einem Abiturienten 20 Euro abknöpfen wollte, schubste der ihn einfach beiseite und beschimpfte ihn.

Als dieser Spaß vorbei war, gingen wir ins Gebäude. Kracht musste schon dagewesen oder durch einen Hintereingang angelangt sein. Er las auch schon, hörte allerdings nach etwa 5 Minuten mitten im Satz wieder auf. Danach verging mindestens eine Viertelstunde, bis sich ein Moderator zu ihm gesellte, ein Literaturwissenschaftler namens Schubert, der aber gerade sein Studium abgebrochen hatte, wenn das richtig bei mir ankam.

Er habe das neue Kracht-Buch »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« nach eigenen Angaben erst heute »angelesen«, das allerdings »in einem Rutsch«. Es sei wohl eher eine lange Erzählung, kein Roman. Aber natürlich trotzdem irgendwie gut, wenn es auch, wie immer bei Kracht, unfertig erscheine, »angekocht« (genau das hat er wirklich gesagt), aber nicht bis zum Ende durchgezogen.

Leichter Tumult im Publikum, aber eher fröhlich, in Erwartung irgendeines Folge-Ereignisses. Kracht lächelte und sagte auf charmante Weise: »Er hat ja Recht.« Ein Johlen setzte ein, und dann sagte der Literaturwissenschaftler Schubert noch ein paar Dinge, nicht viel, auch weniger über das Buch selber, wenigstens immer rückgekoppelt an Bemerkungen, die oft mit »in unserer heutigen Zeit« begannen.

Dann las Kracht den Anfang des Buches. Bei der Stelle, wo sich der Protagonist bis zur »militärischen Heeresleitung der 5. Armee« durchfragt (in der Originalausgabe auf S. 30), hielt Kracht kurz inne und schaute leicht irritiert auf uns.

Jemand begann zu klatschen, andere auch kurz, vielleicht weil dieser militärhistorische Benennungsbrei angesichts der jüngsten SS-Rang-Orgien von Jonathan Littell eine Wohltat war, je ne le sais pas, aber vielleicht wird mal ein pazifistischer Schlachtruf daraus.

Ich weiß die Stelle auch deshalb noch so genau, weil Kracht den Satz dann noch einmal las. Er und kein anderer ist also der Erfinder der Prosalesung mit da capo.

Nachdem Kracht das Buch zugeschlagen und sich bedankt hatte, sammelten sich draußen die ungefähr 30-40 Lesungsgäste und tauschten ihre MySpace-Adressen aus. Mir war die feuchte Luft in dem Gemäuer irgendwie nicht bekommen, ich strebte nach Hause, wo es mir dann schlagartig besser ging, etwas später kam Millek noch mal vorbei und wir sahen einen Visconti-Film bis zur Hälfte.

 
(Edit: Auch im gelblog und bei walloftime wird über die Lesung berichtet. Die Ankündigung ist noch mal hier.)

Und noch ’ne Liste:
The 500 Greatest Movies Of All Time

Hamburg, 24. Oktober 2008, 12:50 | von San Andreas

Die neue »Empire« kommt mit 100 verschiedenen Covern in die Läden. Jeder möchte sein Lieblingsmotiv haben. Tumultartige Zustände. Ein Student mit Schlafsack hat sich »Citizen Kane« gesichert, während sich hinten zwei Mädchen um »Donnie Darko« prügeln. Ein Mittvierziger hält Jimmy Stewart und Cary Grant in den Händen und kann sich ums Verrecken nicht entscheiden.

Ein Teenager stopft das letzte »Dark Knight«-Exemplar in seine Schultasche, als einer mit Sonnenbrille »Dirty Dancing« aus dem Regal reißt – »Für meine Freundin«, wie er dem Mann mit der Aktentasche zuruft, der auch danach gegriffen hatte, sich nun aber mit »Amélie« zufrieden geben muss.

Eine ältere Dame schnappt sich »Fight Club« und zieht damit fragende Blicke auf sich, doch regelrechtes Entsetzen verursacht der Langhaarige mit dem Ikea-Beutel, der sich anschickt, sämtliche noch verbliebenen Exemplare zu packen und zur Kasse zu schleppen. Weit kommt er nicht, ein schmieriger Italiener fängt ihn ab und macht ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Der Mittvierziger eilt mit dem zur Waffe gerollten »Vertigo« zur Hilfe, doch der Langhaarige händigt dem Italiener bereits zähneknirschend den »Godfather« aus.

Das wichtigste Cover der ganzen Aktion, denn laut der »most ambitious movie poll ever attempted« stellt dieses Werk die schiere Krönung der Filmgeschichte dar. Nanu? Hatte den Platz nicht »Citizen Kane« abonniert? Wohl nicht nach Meinung der teilnehmenden 10.000 »Empire«-Leser sowie der 150 Hollywood-Schaffenden und 50 führenden Kritikern, die eingeladen worden waren, ihre persönlichen Top-10s in einen Topf zu schmeißen.

Zur Gewichtung der Stimmen findet sich keine Info, aber das Ergebnis zeigt, dass hier das filmbegeisterte Volk das Sagen hatte, weniger die Spezialisten und Kapazitäten. Die nämlich tendieren dazu, ehrfurchtgebietende, mit akademischer Reputation beladene Meilensteine an die Spitze zu wählen (siehe die aktuelle Liste des American Film Institute).

Wie das kommt, ist klar. Es geht um Image und Selbstdarstellung: Ein ehrwürdiges Gremium wie das AFI möchte öffentlich genau mit diesen Werken identifiziert werden. Individuelle Vorlieben treten hinter dieser Selbstverständigung zurück, das kollektive Bewusstsein diktiert eine gewisse Objektivierung: Famose Genrewerke mit womöglich gefährlich hohem Unterhaltungswert haben gegenüber zeitlosen, filmgeschichtlich verdienstvollen Filmereignissen das Nachsehen.

David Finchers Wahlzettel »Butch Cassidy« »8 1/2« »Chinatown« »All the President’s Men« »Dr. Strangelove« »Citizen Kane« »Days of Heaven« »Alien« »Paper Moon« »Rear Window« »Monty Python & The Holy Grail« »Being There« »Jaws« »Zelig« »American Graffiti«

Dagegen fördern anonyme, offene Abstimmungen in der breiten Masse ganz ohne Hintergedanken einfach mal die Lieblingsfilme der Leute zutage. Und »Citizen Kane«, diese »Kathedrale von Film« (»Empire«), kann man vergöttern wegen seiner handwerklichen Kühnheit, seiner thematischen Wucht, seiner dramaturgischen Perfektion – richtig lieben aber kann man ihn nicht.

So ist es auch nicht wirklich die Qualität, die von solche Umfragen gemessen wird – diese Kategorie ist auf ewig unscharf und subjektiv. Wer mag schon beurteilen, ob »Godfather« oder »Kane« der bessere Film sei; die »Empire«-Liste zeigt lediglich, dass Don Vito Corleone unter (vornehmlich britischen) Filmenthusiasten dieser Tage beliebter ist als Charles Foster Kane (Platz 28). Aus welchen Gründen auch immer.

Comedy »The Apartment« (12) »Dr. Strangelove« (26) »Some like it hot« (27) »Kind Hearts and Coronets« (42) »The Big Lebowski« (43) »This is Spinal Tap« (48) His Girl Friday (58) The King of Comedy (87)

Allein die Resonanz des Publikums kann helfen, die Qualität eines Films irgendwie greifbar zu machen. Man kann sich einen Teil dieses Publikums herausnehmen – die Kritiker – und auf deren objektiveres Urteilsvermögen hoffen. Finden viele Rezensenten einen Film ganz prima, dann schält sich aus dem Rauschen des Diskurses die gleichsam offizielle Auffassung heraus: »Dies ist ein guter Film.«

Wir alle wissen, das klappt nicht immer. Aber es ist ein Trugschluss zu glauben, die Einbeziehung von Hinz und Kunz in die Erhebung würde ihre Aussagekraft weiter schmälern. Das Gegenteil ist der Fall: Nur so werden unliebsame Störfaktoren der Kritiker-Subkultur nivelliert. Noch besser ist es, wenn die Umfrage zeitlich nicht befristet ist, wie die IMDb-Top-250, dann verabschieden sich nämlich auf lange Sicht Modeerscheinungen und Zeitgeistfavouriten auf die hinteren Ränge.

Top 20 »The Godfather« (1) »Raiders of the Lost Ark« (2) »The Empire Strikes back« (3) »The Shawshank Redemption« (4) »Jaws« (5) »GoodFellas« (6) »Apocalypse Now« (7) »Singin’ in the Rain« (8) »Pulp Fiction« (9) »Fight Club« (10) »Raging Bull« (11) »The Apartment« (12) »Chinatown« (13) »Once Upon a Time in the West« (14) »The Dark Knight« (15) »2001: A Space Odyssey« (16) »Taxi Driver« (17) »Casablanca« (18) »The Godfather Part II« (19) »Blade Runner« (20)

Die Spitzenplätze belegen nun auf jeden Fall Werke, die prototypisch für das stehen, was in den Augen der Filmgemeinde ganz großes Kino ist. Diese Filme stellen die Essenz dessen dar, was die Filmkunst über die Jahre hervorgebracht hat, und dabei ist es nebensächlich, ob der Beurteilende darüber im Bilde ist, warum genau diese Filme so gut funktionieren.

Truffaut war oft daran gescheitert, Hitchcocks »The Lady Vanishes« filmanalytisch zu sezieren, weil er ein ums andere Mal in den Bann der Geschichte gezogen wurde. Hitchcock hatte eben den Dreh raus, Emotionen und Inhalte per Filmsprache zu vermitteln. Dass dieser Prozess so reibungslos funktioniert, macht den Film zu einem guten Film; wie er funktioniert, muss allenfalls Filmstudenten interessieren.

Statistik Knapp die Hälfte der Filme sind 25 Jahre oder älter. Der älteste Film stammt von 1924 (»Greed«, Platz 399), der neueste von 2008 (»Wall-E«, Platz 373). Die Liste enthält 24 Sequels. 14 Filme stammen von deutschen Regisseuren (Herzog, Lang, Lubitsch, von Donnersmarck, Reitz, Hirschbiegel, Murnau, Petersen, Wenders, Stroheim).

Nun gibt es viel mehr gute Filme als diese Liste fassen kann; manch einer mag etwa David Lynchs »Inland Empire« (keine Platzierung) für genauso gut oder besser halten wie »Raiders of the Lost Ark« (Platz 2). Doch für einen Listenplatz muss ein Film nicht nur gut sein, er muss auch wichtig sein. Er muss ein Eigenleben entwickeln, kulturell verhandelt werden, zitiert werden, über sich selbst hinauswachsen, er muss beeinflussen und inspirieren. Vor allem, er muss gesehen werden, erinnert werden, geliebt werden.

»Inland Empire« möchte gar nicht geliebt werden. Ein sehr spezieller Film ist das, und er ist sich seiner Unzugänglichkeit bewusst (wäre er das nicht, wäre er schlecht). Gerade deswegen greifen sich Individualisten den Film als Talisman, genießen das wohlige Gefühl, außerhalb der grauen Masse zu stehen, einen eigenen Geschmack zu besitzen. Bitteschön.

Doch das Gerede von Massentauglichkeit, Kommerz und Mainstream verfehlt oft genug den Kern. Dabei ist es so einfach: Gute Filme können erfolgreich sein, aber nicht alle erfolgreichen Filme sind gut. Tatsächlich ist Kino seinem Wesen nach nicht für Eliten gemacht. Film ist am besten, wenn er allen gefällt, so unglaublich das klingt. Denn wie kaum eine andere Kunst lebt er vom Zuspruch des Publikums, ja er ist darauf angewiesen, dass diese Interaktion funktioniert. Film muss gefallen, um zu überleben.

Regie Spielberg (11) Scorsese (8) Hitchcock (7) Kubrick (7) Burton (6) Kurosawa (6) Allen (6) Wilder (5) De Palma (5) Coen (5) Jackson (5) Coppola (5) Tarantino (5) Lynch (4) Lucas (4) Huston (4) Reiner (4) Zemeckis (4) Cameron (4) Raimi (4) Lumet (4) Nolan (4) Wyler (4) Linklater (4)

Schlimm ist das nicht. Dass es ein Film darauf anlegt, verstanden zu werden, heißt ja nicht, dass er sämtlichen zerebralen Ballast abwürfe und seinen Anspruch auf Kindergartenniveau drosselte. Er wird nur versuchen, formal an das Alltagserleben des Publikums anzuknüpfen, dessen Erfahrungen und Erwartungen einzubeziehen und, ausgehend von vertrauten Konzepten, eine interessante Geschichte zu erzählen, die mit Wirkungsmomenten nicht geizt.

Großes Kino ist keine introvertierte Nischenkunst. Und so ist die neue Liste kein zu belächelndes Konstrukt bemühter Ranking-Spielchen, sie ist ein Schnappschuss lebendiger Filmkultur. Leute lieben nun mal Listen, sie schaffen Überblick über ein weites Feld. Und regen an: Die »Empire«-Top-500 versammelt dann doch etliche ungesehene Juwelen, nicht bloß die üblichen Verdächtigen. Ach so, Moment: »The Usual Suspects«, Platz 61, also doch.