Lesen 2.0:
Die F-Zeitung folgt Jochen Schmidt ins Netz

Konstanz, 15. Februar 2008, 07:20 | von Marcuccio

Seit knapp zwei Wochen gibt es den Reading Room der F-Zeitung: Jonathan Littell zum Lesen, Hören, Diskutieren soll ein »Pilotprojekt« sein, und man ist wohl kein großer Prophet, wenn man die Idee einer Blogosphäre für »FAZ-Gesinnte« schon jetzt als genialen Coup bezeichnet, mit dem die F-Zeitung ihr zuletzt doch eher altbackenes Alleinstellungsmerkmal »Feuilletonroman« ins 21. Jahrhundert rettet.

Denn wenn wir das weidlich kritisierte Marketing-, Experten- und Herausgeber-Tamtam einfach mal beiseite lassen. Dann bleibt als Role Model eines solches Lese-Events im Netz immer noch Jochen Schmidt, an den dieser Tage mal wieder kein Kritisier-Feuilleton erinnert hat:

Schmidt-liest-Proust hieß sein Projekt und war die sympathische Kompensation einsamen Lese-Inputs durch bloggenden Output, frei nach dem Motto: Ich teile euch mit, was und wie ich lese. Und ich lese (Prousts »Recherche« auch wirklich zu Ende), weil ich Leselust und Leselast mit euch teile, weil ihr hoffentlich protestiert, wenn ich vorher aufhöre, weil ihr mich animiert, durchzuhalten. 3.500 Seiten Proust sind ja eigentlich eine Ansage zum Eremitendasein. Aber 3.500 (mit-)geteilte Seiten Proust sind vielleicht die einzig reelle Chance, über ein Buch, das alle kennen und kaum einer wirklich gelesen hat, ins Gespräch zu kommen.

Und es muss ja gar nicht immer gleich Proust sein. Neulich zum Beispiel. Wollte ich mit Paco über dieses Buch quatschen, und er hatte es prompt noch nicht gelesen. Sollte er es dann endlich mal getan haben (Forza! hehe), habe ich die Hälfte schon wieder vergessen. Wie praktisch ist da ein Blog, das Unterhaltungen über Lektüreerlebnisse, für die es offline gar nicht immer den richtigen Zeitpunkt gibt, antizipiert und archiviert.

Es geht beim Lesen 2.0 also einerseits um das, was Literaturwissenschaftler wie Heinz Schlaffer als »mitgeteilte Lektüre« bezeichnen: das gesellige Gespräch über Literatur, das wir alle brauchen (Der Umgang mit Literatur. In: Poetica 31 (1999), S. 1-25). Und andererseits um »schreibendes Lesen«: Doch gerade das scheinbar harmlose Anmerken, Kommentieren und Reinschmieren in die Bücher konfrontiert unsere werten Bibliotheken ja immer wieder mit diesen Aufsehen erregenden Fällen von Zerstörungswut.

Reading Rooms und Lese-Blogs leisten, so gesehen, echte Prävention. Sie schützen nicht nur die Bücher, sie bewahren auch uns selbst – vor asozialer Lese-Vereinsamung ebenso wie vor einem unüberlegten Eintritt in den Jane Austen Club, hehe. Und dass auch eine schwarmähnliche Interessengemeinschaft im Netz so richtig schwärmerisch sein kann, hat der Schmidt-liest-Proust-Fanclub ja sowieso schon vorgeführt:

»Dankeschön Jochen! Dein Blog war wie ein Advents­kalender, dessen Türen jeder für sich öffnen konnte, wann er wollte und der uns jeden Tag mit einer für uns neuen Süßigkeit überraschte.« (hier)

Für Jonathan-Littell-Aficionados funktioniert das jetzt wahrscheinlich ganz ähnlich. Na ja, fast. Im Reading-Room der F-Zeitung wird halt nicht genascht; hier will und bekommt man echtes Vollkorn-Feuilleton: Oder was sonst wäre die tägliche Frage, die zur »Wohlgesinnten«-Verdauung anregen soll? Und nichts gegen Vollkorn: Jeder, der schon mal länger in Weißbrotländern gelebt hat, weiß erst, was gutes deutsches Schwarzbrot wert ist.

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Als Einstieg in den Schmidt liest Proust-Kosmos, die ersten beiden Einträge:
http://vertr.antville.org/20060719/

Eine Reaktion zu “Lesen 2.0:
Die F-Zeitung folgt Jochen Schmidt ins Netz”

  1. READING ROOM | Gegenlese : Littell in den Kategorien der Kritik at in|ad|ae|qu|at

    […] FAZ- “Reading Room” ( Tag bzw. Folge 16 ) im Sinne einer sine ira et studio vollzogenen Lektüre 2.0 mitzuziehen , präsentiert in|ad|ae|qu|at einige Elemente der bislang erschienenen Besprechnungen […]

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