Regionalzeitung (Teil 10)

Leipzig, 22. Oktober 2008, 21:44 | von Austin

 
  46.   erwiesen sich als Renner

  47.   der beliebte Fernsehstar

  48.   rasante Action

  49.   ein Mix aus bunten Themen

  50.   meisterten sie mit Bravour
 

Lovis Corinth in Leipzig

Leipzig, 21. Oktober 2008, 13:59 | von Paco

Vorgestern: Letzter Tag der Lovis-Corinth-Ausstellung im MDBK. Zeit für mich, noch mal kurz rüberzugehen und heute hier kurz zu berichten, wenn die Ausstellung schon abgebaut ist, wenn also gar keine Möglichkeit mehr besteht, dadurch bei anderen einen Besuchswunsch auszulösen. Indem wir so den Servicegedanken untergraben, geben wir der sympathischen Sigrid Löffler einmal mehr Recht.

Schon während ich die Treppe ins Souterrain (in dem die Wechselausstellungen immer stattfinden) nahm, begann dieses Summen, das sich durch die gesamte Ausstellung ziehen sollte.

Es handelte sich um das überkommene Camouflage-Lied »Love Is A Shield«. Irgendwann wurde mir genau klar: Jemand musste den Künstlervornamen »Lovis« laut vorgelesen und dabei eben diese ältliche Melodie assoziiert haben, die nun als Ohrwurm von Wirt zu Wirt weiterzog, obwohl dieser Soundtrack völlig konträr zu den Bildern stand.

Der in der Schreibung von V zu U latinisierte Vorname (aus Louis wurde eben Lovis) zeigt aber darüber hinaus sofort, mit was für einem Maler man es zu tun hat. Einem intellektuellen Maler, der sich zumindest vor seinem Schlaganfall 1911 vor allem an klassischen Vorbildern abarbeitete, hauptsächlich den Werken des holländischen/flämischen 17. Jahrhunderts.

Deshalb lag diese eine Museumsführerin, die das Gemälde »Geschlachteter Ochse« (1905) mit biografischen Details hinsichtlich irgendwelcher Schlachthausbesuche erklärte, auch erst mal falsch. Wie oft Corinth auch tierische Innereien live gesehen hat, das Bild ist eben vor allem eine manische Reprise des Rembrandt-Vorbilds.

So ging es weiter, mit der »Susanna im Bade« (1890) und den Mutter-Bildern zum Beispiel, immer wieder vor allem Rembrandt, dann aber eben doch auch anderen Sachen.

Das populärste Corinth-Bild, auch dieser Ausstellung, ist natürlich das »Mädchen mit Stier (Charlotte)« (1902). Wieder eine Anlehnung an ein Vorbild, diesmal an den besten Kuhmaler der Welt, Paulus Potter (natürlich ebenfalls Holland, ebenfalls 17. Jh.).

Von dessen Gemälde »Der junge Stier« (1647) weicht Corinth allerdings in einem wichtigen Punkt ab: Statt eines Hirten stellt er neben den Stier ein Abbild seiner Charlotte-Frau, die das sanft dreinblickende Stierungetüm holzhammerartig sanft mit einem rosa Seidenband als Leine gebändigt hat.

Im Umkreis dieses Bildes wurde sogar das »Love Is A Shield«-Gesumme von Grinsgeräuschen übertönt. Überhaupt war Corinth kein störrischer Gemetzelmaler. Die Leipziger Zusammenstellung hob auch den Quatschmacher hervor, der sich in albernen historischen Ritterkostümen selber porträtierte. Für diese Dichotomie hat Hanno Rauterberg in der »Zeit« eine schöne Formulierung gefunden: »Corinth, ein Vulkan, der auch Konfetti speien kann.«

Usw.

»Die Messe ist gelesen«

Konstanz, 20. Oktober 2008, 21:50 | von Marcuccio

Was für eine naheliegende, nichtsdestotrotz geile FAS-Headline für den Sonntag gestern, und für eine SONNTAGszeitung überhaupt.

Ich bin jetzt auch durch die FAS-Lit-Beilage vom vorletzten Wochenende: Tobias Rüthers Text zur JoachimKaiser-Biografie – voller Einlassungen und Anekdoten: Rainald Goetz, der leider nie zum Vorstellungsgespräch kam …

Meine Lieblingsstelle in der »Suada«: die Frage, wo Juli Zeh eigentlich steckt und die Mutmaßung:

»Bestimmt arbeitet sie zur Stunde an einem diesmal etwas ausführlicheren Essay über die Wirtschaftskrise und darüber, was speziell ihre Generation jetzt dagegen tun muss.«

Mäßig eigentlich nur Dirk Schümer, von dem ich ja sonst gern lese, aber vielleicht doch lieber über Slowfood- und andere italienische Themen als über deutsche Nachkriegsliteratur.

Übrigens, die »Teenage«-Besprechung in der Beilage der werktäglichen FAZ ist mit einem Bild von Franz Marc illustriert, witzigerweise musste ich sofort an Austins Diktum denken, über das Paco und ich uns im Kunsthaus Zürich unterhielten: Franz Marc ist der Deko-Maler fürs Mädchenzimmer.

Die FAZ-Rezensionen sind immer vollkornig, d. h. man kann die echt nur stückweise zu sich nehmen, wird dafür aber ausnahmslos nahrhaft versorgt und nicht so wischi-waschi-softi wie zuletzt vom neuen ZEIT-Literatur-Magazin, in dem man das Meiste vergessen kann und den Rest auch – bis auf Ursula März‘ Homestory bei Ruth Klüger.

Laut Dirk Knipphals (»buchmessern«) wird da hinter den Kulissen wohl noch um die Ausrichtung gerungen (Greiner vs. Illies).

Überhaupt ist ja ein ziemlicher Trend zur Ausdifferenzierung zu erkennen. Die FAZ macht jetzt sogar eine extra Buchmessenzeitung (!), mit People-Kram und Pics wie in der »Bunten« (schon gesichtet? Jürgen Dollase: in PDF Nr. 5, S. 12).

Insofern hoffe ich wirklich, dass die klassischen Rezensionsfriedhöfe noch viele Jahre weiter leben, weil die eben auch wirklich ein Service sind und das Saisonpanorama bieten.

Ende der Durchsage bzw. um zum Titel zurückzukommen: Amen.

Wie die FR das FAZ-Titelbilder-Voting erfand

Konstanz, 19. Oktober 2008, 20:12 | von Marcuccio

–Auch schon gevotet?
–Nee.
–Aber schon gehört?!
–Was?
–Na, wovon die halbe Halbwelt flüstert …
–???
–Von dem FAZ-Titelbilder-Voting, das ja eigentlich die FR erfunden hat. Genauer gesagt Arno Widmann, als er am 12. Juli diese Hymne anstimmte:

Das Foto ist inzwischen meistens völlig unerwartet und die Bildunterschrift klärt dieses Überraschungsmoment nicht flugs auf, »um die Leser« – wie es auf Journalistenschulen heißt – »abzuholen«, sondern spielt mit ihm, treibt es weiter bis zur Selbstpersiflage.

Tatsächlich ist das Seite-1-Foto der F-Zeitung nur selten ein klassisches Nachrichtenbild (dann ohne Strich direkt an den Aufmacher-Artikel gekittet). Meistens bildet das Titelbild eine Nische für sich, vom informationsjournalistischen Nachrichten-Rest durch einen mitteldicken Strich getrennt. Gedeiht hier also so was wie ein neues Feuilleton über dem Strich? Wenn man Widmann glauben darf, schon:

Man lese den von durchtriebenster Jean Paulscher Umständlichkeit inspirierten FAZ-Zehnzeiler, der gestern unter dem Foto von Seite eins stand: »›Unterteuft‹ nannte Thomas Mann die Tiefenschichten deutscher Geschichte und Politik (im ›Doktor Faustus‹), ein Wort aus dem Bergbau, wo Schächte nicht einfach gebohrt, sondern abgeteuft werden. Das Wort hat aber auch etwas von Taufe und Teufel in sich, weshalb es zu weitreichenden Betrachtungen über die unterschwellige Religion mancher Politik taugen könnte (zum Beispiel in der Atompolitik). Unser Bild zeigt eine Nische im Endlager Schacht Konrad mit der heiligen Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute.«

Ein Klick ins Titelbilder-Mosaik und schon ist Widmanns Lieblingsnische (2. von links, 2. von unten) zu entdecken. »Auf sie soll’s tausend Preise regnen«, sagt Widmann, der seinerseits aber auch einen Preis verdient hat, für seine FAZ-Foto-Love-Story.

Frieze, Zoo, Manifesto Marathon

London, 19. Oktober 2008, 08:13 | von Dique

»Erstaunt über die Dinge und wegen meiner Unwissenheit fragte ich einen von meinen Kölner Freunden mit jenem Vergilvers: ›Was will die Menge am Flusse? Was verlangen die Seelen?‹« – Petrarca

Frieze Art Fair, und in der Stadt brodeln die Kunstevents in deren Fahrwasser. Neben der Frieze im Regent’s Park gibt es die Zoo in der Royal Academy und in der Serpentine Gallery den Manifesto Marathon, und da bin ich gerade, und es lesen Ingo Niermann und Zak Kyes.

Ich bekomme das Gelesene nur fetzenweise mit, höre aber immer wieder das Wort ›Vril‹, eine Art Kraft, welche sich die Menschen nutzbar machen können. Ich denke natürlich an »The Coming Race« von Edward Bulwer-Lytton. Ich las das Buch auf Deutsch, »Vril oder Eine Menschheit der Zukunft«.

Vril ist eine geheimnisvolle Kraft, welche eine unter der Erde lebende Zivilisation beherrscht. Jeder Verschwörungstheoretiker denkt dann natürlich an die Vril-Gesellschaft, eine angebliche Geheimgesellschaft, die sich ihren Namen angeblich von Bulwer-Lyttons Buch geliehen haben soll. Ich nehme das so hin und rede darüber, bis ich darauf hingewiesen werde, dass Niermann nicht ›Vril‹ sagte, sondern ›Drill‹.

Conan O’Brien hatte früher den Sidekick Andy Richter, und ich erinnere mich an einen Sketch, in dem die beiden im Central Park sind und plötzlich »the Woody Allens« sehen. Man sieht also einige Leute herumlaufen, die wie Woody Allen gekleidet sind, also »the Woody Allens«, sehr bizarr.

Ich erinnere mich daran, weil ich gerade Gilbert & George über die Wiese spazieren sehe, es sind nur die beiden, also Gilbert und George, aber mir kommen sie wie viel mehr vor, und ich sitze wie geplant mit Stefan von rebell.tv auf einer Bank unweit der Serpentine Gallery, und er winkt ihnen zu, und Gilbert (oder George?) winkt zurück.

Die Lesungen finden mehr oder weniger unter freiem Himmel statt, in diesem Holzgebilde von Frank Gehry, welches schon seit ein paar Monaten vor der Galerie steht. Kurz bevor Yoko Ono liest, gehen wir essen.

Dialektologie mit dem »Spiegel«

Konstanz, 18. Oktober 2008, 10:45 | von Marcuccio

Dass Leserbriefe für mich Feuilleton sind, dürfte sich ja mittlerweile herumgesprochen haben. Heute frage ich mich, ob ich neulich nicht eine Kategorie vergessen habe: das Bastian-Sick-Double, das nach gegenwärtiger Sachlage nur durch Matthias Matussek – und zwar mit Hilfe von Martin Walser –, nicht aber durch Alexander Osang gebannt werden kann. Doch immer schön der Reihe nach:

Auf S. 15 des aktuellen »Spiegel« (Nr. 42/2008) wird Alexander Osang von einem Leser aus Mainz für seine miserable Dialekt-Transkription kritisiert. Osang hatte in seiner Reportage »Pamelas Prinz« einen Pforzheimer Bordellbesitzer mit den Worten zitiert:

»Schöne Frau und schönes Auto. Pascht zusamme.«

»›Pascht zusamme‹ hat der Prinz mit Sicherheit nicht gesagt«, entrüstet sich nun der Leserbriefschreiber, nach unserer Typologie wohl eine Mischung aus Beschwerdeopportunist und Co-Referent, und erklärt:

»Das ist eine verbreitete Unart Norddeutscher, das süddeutsche Idiom misszuverstehen. Das ›sch–t‹ statt ›s–t‹ wird nicht bei allen Endungen verwendet. Das heißt ›passt‹ wie im Hochdeutschen, eventuell auch ›basst‹ – nie und nimmer aber ›pascht‹ –, vielleicht schon, weil man es ›sonscht‹ mit ›baschteln‹ oder ›Bascht‹ verwechseln könnte.«

Witzigerweise gibt es im selben »Spiegel«-Heft aber auch mal Norddeutsche, die es können. Auf S. 196 transkribiert Matthias Matussek einen Satz von Martin Walser:

»Das ischt doch alles Hysterie«.

Sagt der zur aktuellen Finanzkrise, und hier ist das »ischt« (unter Eingeborenen ja eigentlich nur »isch«) tadellos, ja sogar sehr gut beobachtet, weil nachgerade typisch: Nicht nur für Walser, sondern auch für Wolfgang Schäuble oder Volker Kauder, wenn sie Hochdeutsch intonieren, aber tatsächlich nur ihren Dialekt überkorrigieren.

»Der Spiegel«, diese Woche das deutsche Mundartmagazin.

Autobahn 38

Leipzig, 17. Oktober 2008, 10:15 | von Paco

Why do people visit places where other people were born, lived, fought, or died?

Autobahn 38

There was no time to waste on October 3rd, 2008, the 18th anniversary of the German reunification. This journey along the German autobahn A38, from East to West, from Leipzig to Göttingen, could only take one day. 21 sleepless hours, to be precise.

Es war eine Ein-Tages-Expedition, die eigentlich ganz anderen Zwecken dienen sollte und gedient hat. Aber jetzt gibt es eben auch dieses kleine Nebenprodukt. Stefan von VEB Film Leipzig war bei der Tour mit der Kamera dabei, ohne dass es weiter auffiel. In den genau 2 Wochen, die seit der Expedition vergangen sind, hat er einen 23-minütigen Kurzfilm ganz nach seinem experimentellen Gusto gebastelt (Lizenz: CC BY-SA).

»Autobahn 38« heißt er. Der wüste Crossover aus Doku- und Fiction-Elementen, YouTube-Chic, Freestyle, Parodie, Anspielung, Hochkultur, Subkultur usw. handelt chronologisch schon noch von den einzelnen Stationen der Reise. Die Auswahl und der Zusammenschnitt der Bilder und Szenen allerdings schieben den Film ins Gonzo-Department.

Die eigentlichen Expeditionsziele scheinen im Film kaum durch. Die meisten Stationen wurden einfach weggelassen oder sind nur mit einem undeutlichen Standbild präsent. Dagegen wird viel Raum gelassen für (sagen wir mal:) exzessive Genreszenen.

Doch letztlich ist gerade dadurch die Ausgangsfrage der ganzen Reise auch das Thema des Films: »Was soll man als Tourist schon groß machen?« Und sie verschärft sich eben, wenn man an einem Tag nicht nur eine oder zwei, sondern gleich an die 40 superlati­vische ›Sehenswürdigkeiten‹ besucht, mit denen das Umland der A38 so vollgestopft ist.

Den kompletten Film gibt es bei YouTube:
http://www.youtube.com/watch?v=5BqeYg0WeRI

Er kann auch direkt heruntergeladen werden (341 MB, 512×384 Pixel):
http://archive.org/download/Autobahn.38/Autobahn.38.EngSub.XviD.avi

Oder indirekt hier (2 RAR-Dateien, die entpackt werden müssen):
http://rapidshare.com/files/154778864/Autobahn.38.part1.rar
http://rapidshare.com/files/154785091/Autobahn.38.part2.rar

Oder hier als Torrent bei der Pirate Bay:
http://thepiratebay.org/torrent/4451323/Autobahn_38_German_EngSub.XviD.avi

Es gibt auch eine HQ-Version (682 MB, 720×540 Pixel):
http://archive.org/download/Autobahn.38/Autobahn.38.EngSub.HQ.XviD.avi

Und eine LQ-Version (167 MB, 360×270 Pixel):
http://archive.org/download/Autobahn.38/Autobahn.38.EngSub.LQ.XviD.avi

Außerdem gibt es den kompletten Film in guter Auflösung bei blip.tv:
http://blip.tv/file/1366131/

Und hier noch eine Synopsis im PDF-Style aufstrebender Berliner Galerien:
http://vebfilm.net/Autobahn.38.Synopsis.pdf

Who Watches the Watchmen?

Hamburg, 15. Oktober 2008, 12:22 | von San Andreas

Die Verfilmung des epochalen Comic-Romans von Alan Moore

Epochal? Sagt wer? Nun ja, alle. Es stimmt zwar, hierzulande fiel »Watchmen«, diese meisterliche Fortentwicklung des Superhelden-Genres, nicht eben auf fruchtbaren Boden, als der Carlsen-Verlag sie 1989 veröffentlichte. Da erschloss gerade mal Tim Burtons erster »Batman«-Film breitere Fankreise; von einer tief wurzelnden Comic- und Superheldenkultur, wie sie in den Staaten seit Jahrzehnten schon existierte, konnte keine Rede sein.

Aber was revisionistische Neo-Western für das ebenfalls uramerikanische Western-Genre waren, verkörperte »Watchmen« für die ausreichend strapazierten Helden der Comic-Welt: eine ernüchternd realistische, vielschichtige Relativierung, die in ihrer retrospektiven Sicht viel über die Essenz des Genres verriet und nebenbei eine beeindruckende Relevanz als gesellschaftskritische Studie der Zeit des Kalten Krieges entwickelte.

Der Zwölfteiler war praktisch die erste der nun so populären ›graphic novels‹, wurde mit dem renommierten Hugo Award ausgezeichnet und taucht als einziges Comic überhaupt in der »Time Magazine«-Liste der 100 besten Romane aller Zeiten auf. Der Klappentext zitiert bescheiden »Lost«-Chefautor Damon Lindelof, der da meint, »Watchmen« wäre »the greatest piece of popular fiction ever produced.«

Da spricht ein Fan, na klar, aber das Werk steht tatsächlich ziemlich einzigartig da. Seine dicht betexteten Panels vermitteln eine eigentümlich reizvolle ›alternate history‹: In diesem Amerika sind Comic-Superhelden Geschichte, und ebenso verschwunden sind die maskierten Aushilfs-Helden, die es sich nach dem Vorbild der gezeichneten Weltenretter zum Ziel gesetzt hatten, in einer verwahrlosten Gesellschaft für Recht und Ordnung zu sorgen.

Weite Kreise hatte die Bewegung gezogen, bis sie in den Siebzigern per Gesetz verboten wurde. Diverse Erzählebenen verschaffen Einblicke in zwei Generationen dieser ›masked adventurers‹, von denen nur einer – Dr. Manhattan – tatsächlich über Superkräfte verfügt.

Seine bloße Existenz beeinflusst das Weltgeschehen, verkörpert Dr. Manhattans unumschränkte Macht über jegliche Materie doch eine Art ultimative Superwaffe. Jeder Aggressor muss mit verheerenden Gegenmaßnahmen rechnen, handelt er gegen den Behüter dieser Waffe – und der heißt USA (unter Führung eines von Watergate verschont gebliebenen Nixon). So verschärft sich der schwelende Konflikt der Supermächte, die sich nervös gegenüberstehen, Abschreckungspotenziale abwägend, wettrüstend, den Finger am Abzug.

Eine Eskalation scheint unvermeidlich, und die Gewißheit um einen nuklearen Krieg läßt die Menschen resignieren. Es ist ein trostloses, heruntergekommenes New York, in dem wir die ehemaligen Helden treffen: dunkle Gassen, triste Wohnsilos, dazwischen Atomschutzbunker und verdreckte Bürgersteige. Auf einem davon haucht unsanft der Comedian sein Leben aus, und auch andere Minutemen – ein Zusammenschluss einiger Selbstjustizler – werden plötzlich Opfer mysteriöser Attacken. Zu allem Überfluss verlässt Dr. Manhattan nach einer Rufmordkampagne kurzerhand den Planeten – was die entsprechenden militärpolitischen Folgen hat. Während im Osten schon die Panzer rollen, führen die Nachforschungen der maskierten Helden auf die Spur einer weitreichenden Verschwörung.

Welch heilsame Therapie die Watchmen-Geschichte für das Helden-Genre darstellte, lässt sich kaum überschätzen. Dekonstruktion und Revitalisierung zugleich, eröffnete sie eine »Was wäre wenn«-Perspektive, die geläufige Archetypen und Plotmuster negierte und dadurch erst bewusst machte. Heldentaten waren hier nur mehr wehmütige Erinnerungen, wie an Jugendsünden, und die alternden Protagonisten, von denen keiner die Sympathie des Lesers wirklich verdiente, streiften nur widerwillig ihre alten Kostüme über, um das Ableben ihres Kollegen zu untersuchen.

Und dabei mochte den nie jemand leiden. Ein Rüpel war das, ein Zyniker und ein Prolet. Nahtlos eingebaute Rückblenden erzählen Episoden aus seiner und anderer Figuren Vorgeschichte; auf diesem Wege erschließen sich ihre Charaktere. Der Comic erreicht dabei einen psychologischen Realismus, der bis dato in diesen Gefilden unbekannt war. Seine Dramaturgie kommt nachgerade filmisch daher, gibt ein Gefühl von Kamerabewegung und diffiziler Montage.

Lautmalereien, Denkblasen und Bewegungslinien sucht man vergeblich, stattdessen findet man klare, tiefenscharfe Panels voller Querverweise und Symbole (der blutbefleckte Smiley, die tickende Doomsday Clock), liest profunde, teils parallel montierte Dialoge, bedeutungsschwangere Schlagzeilen auf umherliegenden Zeitungen und Graffiti auf beschmierten Häuserwänden (eins davon, »Who watches the Watchmen?«, ein Zitat aus Juvenals »Satiren«, gibt dem Werk seinen Titel).

Postmoderne Zwischenböden bereichern den Text, zunächst in Form einer ›story within a story‹ – eine existenzialistische Seefahrergeschichte, die ein Comicfan an einem Zeitungsstand Tag für Tag liest (und die wir so Stück für Stück mitverfolgen), spiegelt Elemente der Watchmen-Handlung. Des Weiteren finden sich zwischen den Kapiteln Protokolle, Briefwechsel, Zeitungsartikel, Ausschnitte aus Memoiren – fiktive Zeitzeugen, die eine glaubbare, komplexe Welt aufspannen.

Ihr Schöpfer, Alan Moore, erfüllt die Ikonografie des Genies: wirres Einstein-Haar, wallender Rasputin-Bart, düsterer Beethoven-Blick. Er gilt als Gallionsfigur der modernen Comic-Szene, an seinem Input entzündeten sich Strömungen, die nicht zuletzt dem Superheldengenre zu einer lang anhaltenden Renaissance verholfen haben.

Bis heute findet das Genre neue Bezüge, die es auszuloten lohnt, und es sind gerade die Wechselwirkungen mit unserer schnöden Wirklichkeit, die, wie vor zwanzig Jahren in »Watchmen«, die anregendsten Beiträge liefern. Der Realismus in »The Dark Knight«, die Selbstironie von »Hancock«, das Undercover-Heldentum in »Heroes«, sie alle sind ohne den Einfluss von Moore nicht vorstellbar.

I’m never going to watch this fucking thing.

So lauten die Worte, die der Meister für die anstehende Verfilmung von »Watchmen« übrig hat. Warum so verbittert? Sein »V für Vendetta« hat in den Händen der Wachowskis doch eine kongeniale Filmadaption ergeben. Gut, »From Hell« war weniger gelungen, und von »The League of Extraordinary Gentlemen« wollen wir gar nicht reden. Moore hat jedoch generell kein Interesse an den Verfilmungen seiner Werke, er möchte nicht damit belästigt werden, und er will auch keinen Cent damit verdienen.

Sein gutes Recht, wiewohl gerade im Falle »Watchmen« sein Rat von großer Hilfe sein könnte. Seit vielen Jahren schon wurde eine Verfilmung angestrebt, und verschiedene Regisseure haben sich an dem Stoff die Zähne ausgebissen. Terry Gilliam arbeitete bereits 1989 verschiedene Treatments aus, um dann die Waffen zu strecken: zu komplex der Stoff, zwei Stunden reichen nicht aus, gebt mir fünf, und ich mach’s.

Nachdem Darren Aronofsky Interesse gezeigt hatte, jedoch wegen zu hoher Budgetforderungen eine Abfuhr erteilt bekam, gedieh das Projekt 2004 in den Händen von Paul Greengrass relativ weit. Schauspieler wie Tom Cruise und Jude Law begannen sich um die Rollen zu streiten, zum fertigen Skript wurden bereits Designstudien angefertigt, als Paramount plötzlich den Stecker zog. Zu riskant, zu teuer, die Zielgruppe zu klein.

Und so scheint der Film, der es nun in die Postproduktion geschafft hat und im März 2009 starten soll, ein paar Nummern kleiner auszufallen. Was überhaupt nicht schlecht sein muss. Allzu bekannte Gesichter in den Heldenrollen wären der Watchmen-Prämisse abträglich, die ja dadurch besticht, dass die Figuren dem Leser oder Zuschauer als Jedermänner ohne jeglichen Ballast begegnen, bar jeden Vorlebens in Dutzenden Comic-Episoden. Und Tom Cruise als Ozymandias? Muss nicht sein.

Manchem »Watchmen«-Liebhaber treten jedoch Schweißperlen auf die Stirn, wenn er den Namen des Regisseurs erfährt, der den Job übernommen hat. Zack Snyder ist das nämlich – und seine Referenzen belegen nicht gerade ein untrügliches Gespür für feinsinnige Sozialkritik und politische Metaebenen. Aber er verehrt die Vorlage abgöttisch, wie man hört, und wir wollen ihm gerne eine Chance geben. Der Trailer schaut schon mal ganz gut aus.

A propos Trailer: In jenem zu »300« hatte Snyder die erste »Watchmen«-Testeinstellung versteckt und mit seiner Frau gewettet: Die war sich nämlich sicher, niemand würde das Bild registrieren, während Zack glaubte, es würde praktisch sofort entdeckt werden. Zack gewann die Wette.

Bionade-Biedermeier jetzt auch als Kaffee-Remix

Konstanz, 12. Oktober 2008, 08:54 | von Marcuccio

Das Schöne am Feuilleton ist ja, dass es das doppelte Privileg hat, »die Krise« (seit Wochen der neue Beiname für den Wirtschaftsteil der FAS)

a) unterhaltsamer als alle anderen Ressorts zum Thema zu machen oder

b) eben auch gar nicht – und stattdessen weiter abgetaucht zu berichten über wirklich wichtige Dinge wie zum Beispiel: Kaffee.

Dessen Konsum fällt wohl spätestens seit Carl Gottlieb Hering in die Allzuständigkeit des Ressorts, behauptete aber erst in den letzten Jahren Eigenständigkeit. Zur Crema des noch jungen Genres würde ich (neben unserer Google-Earth-Datei natürlich) auf jeden Fall mal Martin Reichert und Christopher Schmidt zählen:

Reichert mit seinem legendären Legalize-it-Beitrag in der taz (»Konsensdroge Nummer eins«). Schmidt, der uns das Soundsystem einer Espressomaschine mit Wolfgang Petersen erklärte: »Unter dem extremen Druck stöhnt und ächzt das Material, bevor der Ka-Leu die erlösenden Worte spricht: ›Das muss das Boot abkönnen!‹«

In der taz vom vorletzten Samstag geht Jan Feddersen den notwendigen nächsten Schritt. Sein Porträt der Coffee-Shop-Kette Aran macht klar, dass es nach der Grundversorgung zunehmend um Diversifizierung geht, um die feinen Unterschiede zwischen Starbuck’s, McCafé & Co einerseits und Aran-Lifestyle andererseits.

Feddersens Idee ist die einer Milieuskizze: Aran als die bessere Kaffeehauskette für die besseren Menschen. Doch ein Heißgetränk und ein paar aufgebrühte Allgemeinplätze über die Selbstveredler in den Slowfood-Städten des reichen deutschen Südens machen noch keine gute Cover-Version des »Bionade-Biedermeier«. Umso mehr noch mal Glückwunsch an Hennig Sußebach, dessen Original demnach schon jetzt das Zeug zum Klassiker hat.

Erinnerungen: Paul Newman

Hamburg, 11. Oktober 2008, 13:26 | von San Andreas

Auch Paul Newman ist von uns gegangen. In den Feuilletons wurde sein Leben und Wirken in großformatigen Elogen gewürdigt. Rollenmuster wurden analysiert, sein Charakter ergründet, seine Skandalabstinenz herausgestellt, sein soziales Engagement goutiert, seine Nudelsoßen gelobt. Alles d’accord.

Er war einer jener Schauspieler, die man meinte persönlich zu kennen, wohl weil hinter vielen seiner Rollen Newman selber vorwitzig hervorzublinzeln schien. Ein großartiger Mensch musste das sein: smart, ironisch, generös, lässig, grundsympathisch. Paul Newman war all das, wir sind davon überzeugt.

Gut sah er auch noch aus. Blendend geradezu, aber sein Aussehen verstellte nie den Blick auf den menschlichen Kern seiner Figuren. Durch seine blauen Augen entdeckte man gebrochene Existenzen, ambivalente Helden, liebenswerte Verlierer, grantelnde Zyniker. Stereotypen mochte er nicht, so scheint’s, ebenso wenig wie Manierismen und Allüren.

Newman gelang der einzigartige Coup, eine Figur im Abstand eines Vierteljahrhunderts in zwei unterschiedlichen Filmen zu verkörpern. »The Hustler« mag der bessere, weil profundere Film von beiden sein, aber allein jenen Fast Eddie Felson nach so vielen Jahren wiederzutreffen, macht »The Color of Money« zum Ereignis.

Pflichtbewusst gab Hollywood ihm für die Rolle einen Oscar, mit 61 Jahren schien es an der Zeit, aber bei Lichte besehen überragen andere Leistungen den zweiten Felson. Claudia Lenssen erinnert in ihrem Nachruf an Filme wie »Cat on a Hot Tin Roof«, »Hombre« oder das wunderbare Spätwerk »Nobody’s Fool«.

Gern erinnern wir uns auch an Lumets »The Verdict«. Newmans Darstellung des abgehalfterten Winkeladvokaten mit Neigung zum Alkohol ist grandios, und wenn man nur einen einzigen Gerichtsfilm im Leben sehen möchte, weil man das Genre eigentlich nicht mag, that’s the one.

Bei Lenssen findet der Film nur kurze Erwähnung. Und Newmans berühmteste Rollen streift die Frau gar nur im Nebensatz: »Butch Cassidy and the Sundance Kid« wäre ein »Märchen um ein smartes Banditen-Duo«, und »The Sting« lediglich dessen »mäßiger Folgefilm«. Excuse me?

Zum einen erzählt »Butch & Sundance« die einigermaßen wahre Geschichte der Herren Robert Leroy Parker und Harry Alonzo Longabaugh (der Name ihrer Bande wird zwar nicht genannt, aber man kennt ihn: »The Wild Bunch«), zum anderen ist der Film ja wohl der brillanteste Alternativ-Western, der je das Licht der Leinwand erblickte.

BC: I think we lost ’em. Do you think we lost ’em?
SK: No.
BC: Neither do I.

George Roy Hills umwerfende, fast postmoderne Genre-Kollage gibt keinen Pfifferling auf Konventionen, erhebt sich bei aller Komik mühelos über die Schublade harmloser Unterhaltung und erfindet nebenbei das Genre des ›Buddy Movies‹. Im kollektiven Filmgedächtnis bleiben u.a. Newmans Fahrradfissematenten zum Bacharach-Song, der Sprung der Verfolgten in den gähnenden Abgrund sowie der legendäre Freeze Frame am Ende des Films.

»The Sting« kommt genauso epochal daher, eine so leichtfüßige wie facettenreiche Studie der Kultur der ›con men‹ von Chicago, ebenfalls stilsicher in Szene gesetzt von George Roy Hill (der später noch »Slap Shot« mit Newman drehte). Der Ragtime-Soundtrack mag nicht in die Zeit der 30er Jahre passen, aber er passt in den Film, setzt perfekt den augenzwinkernden Ton.

DL: Mr. Shaw, we usually require a tie at this table … if you don’t have one we can get you one.
HG: Hey, that’d be real nice of you, Mr. Lonneman!
DL: Lonnegan.
HG: [nods, belches]

Große Klasse: Newman als Bauernfänger Henry Gondorff, der beim Poker mit Mobster Doyle Lonnegan (Robert Shaw) den beschwipsten Haudrauf markiert, um dann gewiefter zu betrügen als der. Wo die vier Buben plötzlich herkommen, weiß man nicht, aber Lonnegans Moment ohnmächtigen Zorns ist schier köstlich.

Die ›Daily Poll‹ der IMDb präsentierte letzte Woche die memorabelsten Rollen des Paul Newman; »Butch« und »Sting« wurden nur noch überflügelt von »Cool Hand Luke«, dem Südstaaten-Gefängnis-Drama, das zeigte, dass ein Mann fünfzig Eier am Stück essen kann, wenn er nur will. Die raue Menschlichkeit des Films berührt nach wie vor, und Newmans unbeugsamer Luke wurde zum prototypischen Rebell.

Redford war hier nicht dabei, aber in einer wunderbaren Parallelität der Schicksale spielte er Jahre später in »Brubaker« die Hauptrolle – ebenfalls ein Knastdrama in den Südstaaten, ebenfalls von Stuart Rosenberg, ebenfalls um einen kämpferischen Idealisten, nur eben auf der anderen Seite der Gitterstäbe.

»I have lost a real friend. My life – and this country – is better for his being in it.« – Robert Redford

Newman und Redford hatten der Filmgeschichte eigentlich noch einen dritten gemeinsamen Film hinzufügen wollen, eine Adaption des Bryson-Klassikers »A Walk in the Woods«. Der rapide abbauende Newman hatte das Projekt jedoch in letzter Minute absagen müssen.

Seine Rolle wäre die von Stephen Katz gewesen, einem übergewichtigen, ungehobelten Ex-Alkoholiker. Newman hätte die Rolle sicher aufs vortrefflichste ausgefüllt, so wie wir ihn kennen. Und wir kennen ihn.