Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 1):
»Kein Jahrhundertbuch«, aber »groß und kalt«

Leipzig, 11. November 2008, 07:06 | von Paco

Bis jetzt hat die Rezensionsschiene der Rezeption den Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littell immer nur als Ganzes betrachtet. Der Umblätterer widmet sich nun einigen Einzel­aspekten, denn das Buch enthält neben einigen grandios miss­lungenen Subgeschichten auch einige gelungene, interessante. Davor aber noch einige Pensées zum Status des Werks:

Die Fraktion, die das ganze Buch für einen schrottigen Literatur­versuch hält, der besser nicht veröffentlicht worden wäre, hat durchaus diskutable Punkte hervorgebracht (meine Lieblings­rezension in diesem Zusammenhang stammt von Iris Radisch).

Aber die von Jorge Semprún angeführte Gutfinde-Fraktion hat ebenfalls ihre Gründe, auch wenn sie oft ein bisschen zuviel gefeiert hat, wie man an Semprúns Diktum sehen kann, mit dem der Berlin Verlag die deutschsprachige Ausgabe bewirbt: »Es [das Buch] ist das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte.« (In der deutschsprachigen Diskussion wird diese Fraktion übrigens vom »Buchversteher« Klaus Theweleit angeführt.)

Hinsichtlich des literarischen Rangs der »Wohlgesinnten« hat Frank Schirrmacher in seiner Werkeinführung eine deutlich zurückgenommene Formulierung gefunden: »Es ist dies kein ›Krieg und Frieden‹, es ist, was sein literarisches Gelingen angeht, kein Jahrhundertbuch. Aber groß ist es dennoch. Groß und kalt.«

Obwohl damit der Vorabdruck des Romanbeginns in der Print-FAZ angekündigt wurde, ist diese Einschätzung nicht wirklich ein kontraproduktiver Knockout, da Schirrmacher mit dem Ansatz ›umstrittenes Buch‹ auch ganz geschickt den Diskurs in den neu gegründeten Reading Room (now Lesesaal) hinübergeleitet hat.

Diese eingeschränkte, aber anzuerkennende Größe, die sich eben auch und vor allem auf den Umfang bezieht, also die hohe Anzahl von Buchstaben und Seiten, hatte dazu geführt, dass Gallimard die Manuskripteinschickung 2006 umstandslos druckte und dass dem Buch im selben Jahr der Prix Goncourt zugesprochen wurde.

Der französische Literaturbetrieb ist bekanntlich seit gut 100 Jahren darauf geeicht, ein bestimmtes massives Fehlurteil nicht zu wiederholen. Mitschuldig an dieser psychologischen Disposition ist André Gide, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg Prousts »Recherche« für seine »Nouvelle Revue française« (aus der später die Éditions Gallimard hervorgingen) mit Pauken und Trompeten abgelehnt hatte (»un mondain amateur«!) und dies später als größten Fehler seines Lebens bereute.

Proust rechtfertigte sich später im letzten Band der »Recherche«, indem er schrieb, er sei nicht der »fouilleur de détails« (Detailversessene), für den man ihn hielte, sondern dass er im Schreiben »les grandes lois« suchte, die »großen Gesetze«, die auch Littell beschreiben will, indem er sich ebenfalls für die Ausbreitung von Details entscheidet, allerdings ganz anderen als Proust.

Wie auch immer. Über den ermüdend konservativen Stil des Buchs muss man nicht diskutieren. Dass Littell im ersten Brief an seine Übersetzer auch noch anmerkt, er habe da jetzt »die Tempora der französischen Verben in der großen Tradition Flauberts« eingesetzt, signalisiert eine peinliche Bildungsbürgerlichkeit und ist eine schreckliche Bestätigung der stilistischen Einfallslosigkeit Littells.

Der einzige gestalterische Eingriff ist die Beibehaltung einiger deutschsprachiger Vokabeln im französischen Original. Sicherlich nicht mehr als ein billiger Effekt (»cria l‘Aufseherin«, »pour la Heimat«, »le Häftlingskrankenbau« usw.), aber die Fremdheit bestimmter Wörter unterstreicht die Fremdheit der Gedanken, die Aue vor uns ausbreitet – ein angenehmer Schlag ins Gesicht, der in der deutschen Übersetzung leider ausfallen muss.

(Die Übersetzung von Hainer Kober ist übrigens sehr gut. Er hat aus dem Roman ein deutsches Buch gemacht, dessen fremdsprachliche Herkunft man beim Lesen nie unbeabsichtigt heraushört.)

Noch eine Bemerkung zur Makrostruktur: Gegen Ende des Romans, als sich Max Aue im Haus seines Schwagers Üxküll aufhält, hat er eine melancholische Eingebung:

»Ich sagte mir: Ich würde so gerne Klavier spielen können, so gerne noch einmal Bach hören, bevor ich sterbe.« (S. 1213)

« Je me disais : J’aurais tant voulu savoir jouer du piano, je voudrais tant entendre encore une fois du Bach, avant du mourir. » (p. 1241)

Das erfüllt er sich dann eben über 30 Jahre später mit der Niederschrift seiner Memoiren, die der Roman »Die Wohlgesinnten« darstellt. Er zwängt sie in das Korsett einer Bach’schen Suite mit der Abfolge Toccata – Allemandes I et II – Courante – Sarabande – Menuet (en rondeaux) – Air – Gigue.

Das soll dann ganz grob einige Zäsuren im Fortgang der verschiedenen Kriegs-Aventiuren betonen, löst das stilistische Problem des Buches freilich überhaupt nicht.

Matussek, Folge 97:
Die alten Feuchtgebiete

Leipzig, 9. November 2008, 16:40 | von Paco

Wie Nils Kahlefendt in seinem Umblätterer-Porträt im Börsenblatt 14/2008 einmal schrieb:

»Die englische Synopsis von Matusseks ›Kulturtipp‹-Blog ist eher etwas für Hardcore-Fans.«

Den Volltext der Passage gibt es bei zintzen.org (dort Abschnitt IV.). Also weiter. Nach den Folgen 56, 63, 69 und 85 folgt heute unser (wieder leicht verspäteter) Recap der Folge 97. Wie immer passiert alles in der sentimenta­lischen Genauigkeit der Einträge auf der Serien-Website TV.com. Have fun!

Matusseks Kulturtipp (2006 and on)

Ep. Title: »Matusseks Bücherschau: Die alten Feuchtgebiete«
Episode Number: 97 (Complete Episode Guide)
First Aired: September 25, 2008 (Thursday)
URL: http://www.spiegel.de/video/video-36686.html

Synopsis

»This is blog #99,« Matussek keeps saying when it’s only blog entry #97. He obviously wants to antedate the 100th episode of his show. As always with Matussek, there’s a message behind this seemingly obvious faux pas. By insisting on what is evidently untrue, Matussek carries on a tradition that originated with great authors such as Max Frisch. Also in this episode, Matussek revives the birthday party for infamous »BILD« columnist Franz Josef Wagner which took place at the Springer headquarters. He soon changes the topic, though, and starts talking about Frauenliteratur (Women’s Literature), suggesting that women are »the better people.«

Cast

Star: Matthias Matussek (himself)

Recurring Role: Goethe (himself)

Guest Star: unidentified staff member (carrying stuff to and fro behind Matussek’s back), Mathias Döpfner (himself), Kai Diekmann (himself), Franz Josef Wagner (himself), Hillary Clinton (external footage), Sarah Palin (external footage), John McCain (external footage).

Compositing/Production: Jens Radü

Memorable Quotes

Matussek: »Die Vorbereitungen für den 100. Blog laufen, große Gala, wer hätte das gedacht: Matussek wird hundert.«

Matussek: »Noch mal für Franz Josef [Wagner] und all die anderen, die mit dem Zählen durcheinander gekommen sind: Das hier ist Blog 99, nächste Woche ist Blog 100.«

Matussek: »Charlotte Roche will erst mal ausspannen und Urlaub machen. Ich hab gehört, mit einem Teil ihrer Tantiemen hat sie sich Österreich gekauft.«

Matussek: »… Eberhard von Kuenheim, dann doch eher Männerliteratur, ›In großer Höhe fliegt der Adler am besten allein‹, ergebnisorientiert, ich lese hier nichts von Hämorrhoiden, [das Buch ist] also auch nicht bestsellertauglich, befürchte ich.«

Matussek: »Wer kann schon Steinmeier und Merkel wirklich auseinanderhalten?«

Trivia

Running time of this episode: 7’33 mins.

Matussek wears no suspenders in this episode after the opening credits.

»Der alte Schirrmacher« (»good old Schirrmacher«) is not mentioned in this episode. The same goes for Ding and Dong (i. e., Mephisto). Also Goethe is only seen in footage for an earlier episode where he accompanies Matussek and Australian author Gregory David Roberts to a restaurant in downtown Bombay (1:25 minutes in).

As always, Matussek uses the abbreviation »blog« when actually referring to a »blog entry« (or rather, »vlog entry,« or »vlog post«). Some inexperienced would-be bloggers suggest that this shows how he doesn’t have the foggiest notion about what he is doing. (Them noobs have nooo idea, hehe.)

This 97th episode ushers in the confusion surrounding the festivities of Matussek’s upcoming 100th vlog entry. Just take Matussek’s little chit-chat with Franz Josef Wagner where the latter one goes: »I haven’t seen the 99th yet.« – »It’s not there yet,« answers Matussek. Of course, this bears a double meaning. He was directing the alleged 99th episode in that very moment. But this also indicates that Matussek was well aware of what he was doing there. He tells us the 99th episode »is not there yet,« although he starts off by saying: »This IS blog #99.« Just compare this to the first sentence of Max Frisch’s celebrated novel »Stiller«: »I am not Stiller,« he writes. »This is the 99th blog,« Matussek says, a clear allusion to the Swiss author.

Mathias Döpfner, CEO of Axel Springer, is seen delivering a speech in honor of Franz Josef Wagner but little can be overheard.

The footage showing Hillary Clinton, Sarah Palin, and John McCain, was provided by SPIEGEL TV.

His words concerning Sarah Palin seem to be favorable yet in an interview with the Hamburg newspaper »Abendblatt« Matussek revises his thoughts: »In meinem letzten Blog hab ich Sarah Palin als neuen, konservativen Typ Feministin bewundert, schon weil mir die traditionellen Feministinnen so auf die Nerven gehen, und nicht nur mir. Jetzt allerdings hat mir Irene Dische ein absolut dämliches Palin-Interview geschickt und mit mir geschimpft, und ich schäme mich in Grund und Boden.« – While we’re at it: The name of mentioned author Irene Dische can be pronounced either way: »Dische, Disky, Dish.« This is intel provided by Adriano Sack who interviewed Dische for the German edition of »Vanity Fair«.

Allusions

Matussek mentions that Kai Diekmann, editor-in-chief of »BILD«, Europe’s biggest yellow press newspaper, cranks up the blog business by installing a »Leserblogger« project. This enigmatic remark might refer to an actual project called »Blattkritik« where celebrities are asked to criticize the current edition of »BILD« in front of a camera. The first guest to appear was Germany’s current Foreign Minister, Frank-Walter Steinmeier, on Sept. 22, 2008, just 3 days before this episode of »Matussek« aired. (BILDblog indicates that Steinmeier might have had ulterior motives for his far too gentle »criticism« but that’s another story.)

»Alle sind auf der Suche nach den neuen ›Feuchtgebieten‹,« says Matussek. This refers to the bestselling teenage novel »Feuchtgebiete« by Charlotte Roche whose English edition, »Wetlands«, is about to hit the market.

The jury of the renowned German Book Prize is referred to as »behämmert« (»nutty«, »screwy«) because they didn’t care to put Roche’s megaselling book on their longlist for the 2008 award.

This episode contains excerpts from episode 62, »Bücher 2008 – Die neuen Tabubrüche sind da!«, that aired on January 8, 2008. Matussek is seen flipping through some brochures announcing Charlotte Roche’s novel »Feuchtgebiete.« He reads the advertising text and screams, »Um Gottes Willen!« (»For God’s sake!«)

Subsequently, the title of this episode, »Die alten Feuchtgebiete«, is then coined as Matussek looks at a reproduction of Titian’s »Venus of Urbino« in one of the catalogues he is browsing. »The old wetlands« thus may refer to whatever you might see in this fabulous painting.

Von Enzensberger zu Hans Hoffmann:
Der rote Pullunder und der fein gemalte Igel

New York, 6. November 2008, 23:50 | von Dique

Heute ein bisschen Starkult, wir gehen in Tom’s Restaurant auf der Upper West Side frühstücken. Es ist das Seinfeld-Diner (Monk’s Cafe), jedenfalls von außen, die Innenaufnahmen wurden woanders gedreht. An den Wänden hängen ein paar signierte Devotionalien, ansonsten ist es ein eher typisches Diner, und wir essen Eggs Benedict.

Der »Spiegel« kostet hier etwas über 8 Dollar, und man bekommt ihn am besten in irgendeinem Universal Press Store, von welchen es leider zu wenige gibt. Für die aktuelle Ausgabe (45/2008) haben sich Matthias Matussek und Markus Brauck mit Hans Magnus Enzensberger in dessen Münchner Wohnung getroffen (S. 76-78).

Die Konstellation Matussek/Enzensberger erlebten wir ja auch neulich im »Kulturtipp« (Folge 63, Trivia), als der SPON-Vlogger ebenfalls bei Enzensberger vorbeischaute, um sich nach dem Verbleib von ›Ding‹ zu erkundigen und auch Hinweise bekam.

Dieses Mal geht es bei der Begegnung aber um den Crash der Weltwirtschaft, das Chaos an den Börsen und die Krise des Kapitalismus. Passend zum Thema trägt Enzensberger einen blutroten Pullunder, und das erinnert mich an eines dieser wunderschönen Fotos von Tina Barney.

Wäre das Autorenfoto tatsächlich von ihr, würde es sicher den Titel »Der rote Pullunder« tragen und würde sich wunderbar in ihre »The Europeans«-Arbeiten einreihen. (Man vergleiche »The Yellow Wall«.) Das Enzensberger-Bild hat eine ähnlich »oszillierende Stille« und Ausgewogenheit wie ihre Portraits.

Enzensberger braucht eine Weile, bis er sich bei seinem Auftritt im Wirtschaftsfeuilleton des »Spiegel« wohl fühlt und beginnt skeptisch und zurückhaltend:

»Warum fragen Sie mich? (…) Ich habe noch nicht einmal Geld verloren. Also warum fragen Sie ausgerechnet mich?«

Das anfängliche Zögern weicht dann aber schnell der abgeklärten Analyse und einer gehörigen Portion Marx:

»Das ist doch grandios. Das ›Kapital‹ war immer ein tolles Buch. Stark in der Analyse, schwach in der Prophezeiung. Und im Kalten Krieg hätte ein solcher Satz noch einen Skandal ausgelöst. Heute dagegen kann der Kapitalismus damit sehr gut leben. Die Kritik ist es doch, was ihn am Leben hält. Hätte es die nicht gegeben, wäre er schon längst an die Wand gefahren.«

Die Tina-Barney-Assoziation schreit eigentlich nach einem Besuch des Museum of Modern Art, denn dort sollen ein paar ihrer Fotos hängen. Vor dem MoMA stehen aber leider immer irgendwie Schlangen und außerdem müssen wir noch mal ins Met, allerdings nicht, ohne uns vorher noch die Adele Bloch-Bauer von Klimt in der »Neuen Galerie« anzusehen.

Die »Neue Galerie« wurde von Ronald Lauder gegründet und widmet sich moderner Kunst aus dem deutschsprachigen Raum, neben Klimt und Schiele gibt es auch viele Objekte der Wiener Werkstätten. Der Teil, in dem normalerweise die Sammlung der deutschen Expressionisten hängt, ist mit einer Alfred-Kubin-Sonderaustellung belegt, also kein Kirchner heute.

Umso schneller gelangen wir ins Met und sehen uns endlich, wie angekündigt, die 300 ausgewählten Montebello-Ankäufe aus 30 Jahren an. Die Ankündigung in der New York Times hatte nicht zu viel versprochen, es handelt sich tatsächlich um »a wonder-cabinet situation, an exercise in proprietorial pride, an unabashed, if surprisingly low-key, display of fabulousness«.

Wir staunen uns durch die Räume, die kleine Duccio-Madonna ist sicher der größte Hit, 45 Millionen Dollar waren vor einigen Jahren für dieses um 1300 entstandene Werk bezahlt worden. James Beck, der Gründer von ArtWatch, bezeichnete das Stück in seinem Buch »From Duccio to Raphael. Connoisseurship in Crisis« als Fälschung, blieb mit dieser Meinung aber relativ allein, und wir wollen ihm auch keinen Glauben schenken.

Wir gehen dann weiter, und es gibt einige Wände mit Altmeisterzeichnungen, Leonardo, Bronzino, Parmigianino, und sogar eine von Jacques Bellange! Und dann passiert das Erstaunliche, ein paar Meter weiter an der gleichen Wand erweckt etwas meine Aufmerksamkeit, und ich nähere mich ungläubig der kleinen Gouache eines Igels, und dann gibt es keinen Zweifel mehr: Es ist ein Hans Hoffmann.

Hoffmann ist der wohl wichtigste Vertreter der so genannten Dürer-Renaissance und war im späten 16. Jahrhundert bei Rudolf II. in Prag tätig. Bekannt ist er vor allem durch seine feinen aquarellierten Tierzeichnungen, darunter einige Kopien, aber auch eigene Erfindungen.

Mehrere seiner Hasenbilder wurden in den letzten Jahren für hohe Summen versteigert. 2001 wurde in New York ein Hase, am Waldrand sitzend, für $2.4 Mio. an das Getty Museum verkauft, und Anfang dieses Jahres ging eine wunderschöne Kopie von Dürers Feldhasen bei Lempertz in Köln unter den Hammer. Und zwar ohne Skandal, obwohl sich dieser Feldhase ursprünglich in der Kunsthalle Bremen befunden hatte – nach dem Krieg geriet er dann »in die Hände der Russen – und war weg« (FAZ).

Der Hase tauchte unter dubiosen Umständen wieder auf und, ziemlich einmalig in so einem Fall, die Bremer ließen die Auktion durchgehen und kassierten dafür die Hälfte der ca. 700.000 ersteigerten Euro.

Wir bestaunen den wunderbaren Hoffmann-Igel und denken an unseren Lieblingssatz von Vasari, der natürlich einem anderen Zusammenhang entstammt und andere Werke meint:

»Diese werden von all denjenigen, die sich mit derartigen Dingen auskennen, wahrlich für wunderschön gehalten.«

Beim Abendessen erzähle ich einem befreundeten Kunstexperten von dem fein gemalten Igel im Met und will gerade noch die Postkarte zeigen, welche ich mir davon mitgenommen habe, da winkt er schon ab, denn nach seiner Ansicht sei das Bild nichts als eine Fälschung.

Es gebe zwei findige Italiener, die diese Art von Tiergouachen in hoher Qualität herstellen, in Renaissance-Rahmen fassen und dann verkaufen, und da komme es schnell mal zu Fehleinschätzungen bezüglich der Echtheit.

Mit einem Indianerblick à la Larry David versuche ich diese Aussagen im Gesicht meines Gegenübers zu verifizieren, aber es gelingt nicht, und niedergeschlagen kaue ich auf meinem Steak, American Beef French Style im Les Halles, Empfehlung von San Andreas und sogar aus Vor-Zagat-Zeiten, er besitze sogar ein Kochbuch des ehemaligen Chefs, Anthony Bourdain.

Bourdain ist ein rechter Rüpel, nachzulesen in seinem Wikipedia-Artikel. Er hat mal eine Kobra gegessen (komplett mit noch schlagendem Herzen), das Rektum eines Warzenschweins sowie den Augapfel eines Seehunds. Das Ekligste, das er je gegessen hat, war aber nach eigener Aussage ein Chicken McNugget.

Usw.

New Yorks verschwundene Buchläden
und ein Besuch bei Sokrates

New York, 5. November 2008, 00:07 | von Dique

Georg Baselitz besitzt eine der besten Sammlungen manieristischer Druckgrafik, und über diese Sammlung gibt es das wunderschöne Buch »La Bella Maniera«, in welchem mir besonders die Stiche von Jacques Bellange ins Auge fallen.

Bellange ist ein Spätmanierist der Schule von Fontainebleau, und man weiß fast nichts über ihn. Seine Gemälde sind fast gänzlich zerstört, doch gibt es ca. 50 Stiche und einige Zeichnungen. Leichtschwebende figürliche Überlängungen, und das ist keine Kopiererei wie so häufig bei den späten Fontainebleau-Malern, sondern Handschrift und Erfindungsreichtum.

Bei bookfinder.com fand ich dann einen Ausstellungskatalog, »The Etchings of Jacques Bellange«, und weil der Laden in New York residiert, wollte ich also persönlich vorbeigehen, um das Stück zu erwerben.

Aber 1 University Place ist ein Apartment House, und da steht nichts von »Design Books«, wie der Laden heißen sollte. Ich habe natürlich auch die Telefonnummer nicht mitgenommen und stehe dumm da, frage aber trotzdem den Doorman und irgendeinen semi-uniformierten Delivery Man, ob sie vielleicht eine Ahnung haben.

Der Doorman hat keinen Schimmer, doch der Delivery Man sagt, dass die hier vor ca. 8 Jahren einen Laden gehabt hätten, »you’re eight years late, man«, sagt er und setzt nach einer kurzen Pause hinzu: »But if you want a book, why don’t you go to Barnes & Noble?« – »I’m not here because I want a book, you moron!«, sage ich dann aber nicht.

Wahrscheinlich operiert Design Books nur noch online. Aber weil wir einmal da sind, gehen wir gleich zur nächsten Adresse, denn hier im Umkreis der NY University gibt es einige interessante Buchläden. Über »12th Street Books« habe ich zum Beispiel noch gelesen, und tatsächlich gibt es unter der Adresse einen Laden, oder wenigstens die Überreste eines solchen, denn an der baumelnden Sonnenblende steht mit Sprühfarbe, dass sie nach Brooklyn umgezogen sind. Was für ein Tag.

Ein paar Straßen weiter dann die Rettung, »Strand Bookstore«. Motto dieses Ladens: »18 Miles of Books«, und genau so sieht es hier auch aus. Stunden später fällt uns ein, dass wir eigentlich endlich mal ins Metropolitan Museum of Art wollen, und wir lassen die Büchermeilen zurück, jeder ein paar Bändchen unterm Arm, wenn auch nicht den Bellange-Katalog.

Das Met schließt schon 17:30 Uhr, also haben wir keine Zeit für lange Lunches, und deshalb gibt es nur einen Oh Henry! Candy Bar, exakt den gleichen, den Sue Ellen Mischke, »the braless wonder«, in der Seinfeld-Episode »The Caddy« (7. Staffel, 12. Folge) in Jerrys Wohnung hinterlässt, also das Einwickelpapier, welches dann Jerry verrät, woraufhin folgender Dialog beginnt:

Kramer: I see. Yes. Little Miss Candy Bar paid a visit, didn’t she?
Jerry: Kramer, it is not what you think.
Kramer: Ahhhhh! I know what I think. I think you’re gaga over this dame. She’s twisted you around her little finger, and now, you’re willing to sell me, and Elaine, and whoever else you have to, right down the river.
Jerry: And what about you! Tryin‘ to bilk an innocent bystander out of a family fortune, built on sweat and toil, manufacturing quality Oh Henry! candy bars, for honest, hard-working Americans!
Kramer: You’re just out for sex!
Jerry: You’re just out for money!
Kramer and Jerry (together): Ahhhhh!

Die erdnussigen Riegel schmecken übrigens super, besser als Snickers, und als ich zu San Andi sage, dass ich mir davon einen Koffer mitnehmen werde, sagt er, dass ich dann auf komische Fragen der Zollbeamten sagen kann: »This is my Oh Henry! Candy Bar Fortune«, hehe.

Im Met rennen wir dann so schnell es geht zum »Sokrates«-Bild von David. Wir wünschten, Sébastien2000 wäre bei uns, der beste aller Speed Guides, oder dass wir wenigstens diese hässlichen, aber bequemen MBT-Schuhe tragen würden, die wir in Rom getestet haben. Im Zuge der Finanzkrise hat aber auch Sébastien2000 zu kämpfen, wie er per E-Mail mitteilt, macht er im Augenblick deutlich weniger Touren.

Sokrates sitzt auf dem Bett, und einer seiner Schüler reicht ihm den Schierlingsbecher. Der Becherüberreicher und auch die anderen Schüler befinden sich in dramatischen Posen der Fassungslosigkeit. Angeblich soll Sokrates am Vorabend seines Todes noch Gedichte verfasst haben. Auf die Frage eines Schülers, wie er denn zu diesem Zeitpunkt anfangen könne, Gedichte zu schreiben, obwohl er das vorher noch nie getan habe, antwortete der weise Mann: »Wann soll ich es denn sonst machen«, oder so ähnlich. (Anekdote)

Ansonsten gibt es im Met irgendwie alles, ein Rausch, mehrere dieser frühen Caravaggios mit lüsternen Knaben, die er für den frivol-dekadenten Kardinal del Monte (für die Betonung des Namens bitte die Hughes-Doku kucken) anfertigte, und gleich fünf (von denen wir nur vier sehen) der 36 oder 37 bekannten Vermeer-Bilder.

Wir haben uns zeitlich völlig vertan, und weil wir hier und heute eh nicht mehr viel reißen können, verziehen wir uns auf die Dach­terrasse, auf der wir von einem dieser erzhässlichen Jeff-Koons-Ballonhunde begrüßt werden, dafür gibt es aber eine schöne Aussicht über den Central Park.

Und wenn ich endlich einen iPod hätte, würde ich jetzt »How fortunate the man with none« von Dead Can Dance hören, in dem Brendan Perry folgende Strophe singt:

You heard of honest Socrates
The man who never lied
They weren’t so grateful as you’d think
Instead the rulers fixed to have him tried
And handed him the poisoned drink
How honest was the people’s noble son
The world however didn’t wait
But soon observed what followed on
It’s honesty that brought him to that state
How fortunate the man with none

Abendessen in China Town, im Wo Hop, welches im Zagat (ohne den geht San Andreas nirgendwo mehr rein) als »the basement from hell« angekündigt wird, und außerdem wird eine Brücke zu Woody-Allen-Filmen geschlagen, die ich nicht verstehe, anyway, »the food is excellent«, steht auch im Zagat und stimmt, besonders die Fried Dumplings.

In der Frick Collection:
Wie von Neo Rauch, nur in gut

New York, 4. November 2008, 00:05 | von Dique

Bevor wir ins Theater zu den »39 Steps« gehen, sehen wir uns nach dem Frühstück noch die Frick Collection an, welche stark an die Wallace Collection in London erinnert und, wie ich später bei Wikipedia lese, wurde Henry Clay Frick, der die Kunstwerke zusammengetragen hat, in der Tat von einem Besuch in selbiger Sammlung zu seiner eigenen Kunstvilla inspiriert.

Auch die Themenwahl ist ähnlich, es gibt da einen Fragonard-Saal, viele dieser schönen pompösen englischen Portraits von Gainsborough, Lawrence und Reynolds, ein paar schöne Turners und gleich 3 Gemälde von Vermeer. Aber eben kaum Religiöses oder Militärisches, Themen, die auch der Marquis von Hertford nicht in seiner Sammlung haben wollte.

San Andreas erwähnte bereits das Thomas-More-Portrait von Holbein, welches das Publikum mitunter geschlossen auf die Knie fallen lässt, und gleich gegenüber hängt das vielleicht spektakulärste Werk der Sammlung, der »St. Francis« von Giovanni Bellini. Die New York Times schrieb dazu im Oktober 1915, kurz nachdem Frick es für $250.000 gekauft hatte [PDF]:

When the painting was shown in the Old Masters‘ Exhibition at Burlington House the London critics greeted it with enthusiasm. Sir Sidney Colvin said of it: »It is perhaps the most important page of imaginative landscape painting produced in Italy in the late fifteenth century, and, moreover, is wholly original and exceptional in its treatment of the theme.«

And original it is, in warmem gelblichem Ton, der heilige Franz steht aufrecht vor seiner Höhle, die ausnahmsweise hell und wohnlich erscheint und vor der sich ein eingezäunter Steingarten befindet, ein imposanter Esel steht auf der Wiese und man sieht sogar eine Schnur für die Türklingel. Im Hintergrund, gar nicht weit weg, ist die Stadt, und über den Himmel ziehen Kumuluswolken, farblich sieht es von weitem sehr modern aus, wie von Neo Rauch, nur in gut, und das um 1480.

Die gelbe Sonne spendet spätherbstliche Wärme, doch wir müssen ins dunkle Theater, »The 39 Steps«, wie erwähnt. In der Pause gehe ich zum Restroom, vor dem sich eine Schlange aufreiht. Vor mir ein freundlicher Herr im McCain-Outfit, graue Hose, marineblauer Blazer, und der sagt zu mir, in breitem amerikanischen Englisch: »It’s like a poker game!« – »Like a poker game?« – »Full house, waiting for a flush!«

Naja, zumindest das Stück war hilarious, aber das wissen wir ja schon von San Andreas. Wir gehen dann doch noch mal zum Central Park und stehen am Jackie Kennedy Onassis Reservoir und schauen aufs Wasser. Neben uns spricht irgendein Jogger mit zwei Frauen. Er verabschiedet sich gerade und ruft den beiden im Weggehen hinterher: »And please, if you possibly can, vote for Obama!«

Und wir waren noch immer nicht im Metropolitan Museum of Art …

Neulich, am Broadway

New York, 3. November 2008, 00:02 | von San Andreas

Wenn man sich der TKTS-Bude auf dem Times Square von Uptown her nähert, kann man schon das Board sehen, auf dem die verfügbaren Tickets aufleuchten. Halfprice, da muss man nehmen, was man kriegt. Heute am Samstag wird’s extra schwierig werden, es ist date night, viel Volk unterwegs. Vom Flug bin ich etwas erschlagen, vielleicht haben sie ja etwas Leichteres im Angebot …

To be or not to be. Die Broadway-Verwurstung des Klassikers tritt ein schweres Erbe an, denn wer balanciert schon Drama, Farce, Politik und Screwball so meisterlich wie Lubitsch. Niemand tut das, obwohl Mel Brooks vor 25 Jahren eine durchaus achtbare Hommage zustande brachte.

Schaut man das Original heute an, überrascht es durch seine zeitlose Frische; die Broadway-Produktion hingegen wirkt schon beim ersten Ansehen angestaubt und altbacken. Die Pointen sind rar gesät und sitzen nicht, die Dramaturgie lässt kein Fettnäppchen aus, stolpert hölzern von Klischee zu Klischee, das Ensemble entwickelt kaum den Hauch einer Chemie.

David »Sledge Hammer« Rasche gibt Josef Tura, einen kapriziösen, letztendlich schlechten Schauspieler, aber er spielt ihn schlicht schlecht, als grotesk chargierenden Theatertölpel. Wie fein nuanciert war Jack Benny in der Rolle gewesen; ihm nahm man auch Turas couragierte Charaden im folgenden Nazigetümmel ab.

Ein netter Gag gelingt immerhin, als während Turas fürchterlicher Rezitation des Hamlet-Monologs sich ein Herr mit Uniform und Blumenstrauß im Publikum erhebt und Entschuldigungen flüsternd den Saal verlässt – die Zeile »To be or not to be« war das Signal für ihn gewesen, Turas Frau zum heimlichen Techtelmechtel hinter der Bühne aufzusuchen. Eine schöne Umsetzung des Theater-im-Theater-Themas, aber man hätte die Chance nutzen sollen, ebenfalls seinen Sitzplatz zu räumen, Halfprice hin oder her.

*

Dienstagabend, 40 Minuten vor Vorhang. Heute hab ich es auf »All My Sons« abgesehen; eine Bekannte versicherte mir, das Miller-Stück wäre »riveting«, doch ausgezeichnete Kritiken und Starpower (John Lithgow, Katie Holmes, Dianne Wiest, Patrick Wilson) würden es wahrscheinlich hard-to-get machen. »A Man for All Seasons« wäre auch interessant, die Geschichte um Thomas Morus, passend zu Holbeins prächtigem Gemälde in der Frick Collection. Leider auch sehr gute Kritiken … Aber da entdecke ich, noch an der Ampel stehend, einen ziemlich kurzen Titel am Board, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte …

Equus. Auch dieses Stück von Tony Shaffer ist ein Revival, die Ur-Premiere war am Old Vic in London, 1973. Dann kam es an den Broadway, und seine Qualität zog viele hochkarätige Kräfte an; in über 1000 Performances spielten u. a. Anthony Hopkins, Richard Burton und Anthony Perkins die Rolle von Martin Dysart, dem Psychologen, der die Beweggründe des Stallburschen Alan Strang zu entschlüsseln sucht, sechs Pferde mit einem Hufpick zu blenden.

Sidney Lumet verfilmte das Material mit Burton, doch das in diesem Fall unangenehm explizite Medium schmälerte irgendwie den Geist des Stücks. Vielleicht hat Daniel Radcliffe den Film deswegen nicht angesehen; er liefert seine eigene Interpretation des Adoleszenten, der die Repressionen seiner Erziehung mit einer Art selbstgebauter Pferde-Religion kompensiert.

Das klingt krude, aber das Stück entwickelt eine bestechende innere Logik. Dysart fischt in den juvenilen Abgründen, fördert religiöse Indoktrination, fehlgeleitete Sexualität und befremdliche Rituale zutage, kommt aber letztlich nicht umhin, Strang um seine genuine Leidenschaft zu beneiden. Selbst in permanentem Selbstbetrug gefangen, realisiert er die Unfreiheit des Individuums, im Zaum gehalten von den Zügeln der Gesellschaft.

Schwerwiegende Einsichten, erstaunlich leichtfüßig vermittelt von Richard Griffiths, dessen fantastische Bühnenpräsenz nicht nur von dem mächtigen Übergewicht herrührt, das der Mann um sich herum versammelt hat. Griffiths strahlt eine Wahrhaftigkeit aus, die man im Theater häufig genug vermisst, lässt geschriebenen Text so wirken, als wäre er ihm gerade eingefallen.

Selbst Shaffers ausufernde, symbolbeladene Monologe gehen über Griffiths direkt ins Blut. Seine Szenen mit Radcliffe knistern, sie überwinden die Psychiatrie-Klischees der Geschichte mühelos und entwickeln in szenischen Überblendungen eine wunderbare Plastizität. Die berührendsten Szenen aber trägt Radcliffe allein; wohldosierte Bühneneffekte verdichten seine Soli zu schaurigen, orgiastischen Schlüsselmomenten. Besonders das Ende des ersten Aktes lässt einem den Atem stocken.

Dass der Neunzehnjährige die letzte Viertelstunde des Stücks ohne einen Fetzen Stoff am Leib auf der Bühne verbringt, ist dann auch eher seiner Kompromisslosigkeit und Integrität zuzuschreiben als dem PR-Kalkül seines Agenten. Freilich drängen sich nach der Vorstellung autogrammheischende VerehrerInnen am Bühnen­ausgang; sie werden den jungen Wizard jedoch künftig mit etwas anderen Augen betrachten.

*

Mit Dique, der endlich in der Stadt ist, will ich eine sonntägliche Matinee-Vorstellung besuchen; wir sind kein Risiko eingegangen und haben die Tickets online geordert – das kleine, aber feine Cort Theatre in der 48th Street ist womöglich schnell ausgebucht. Auf dem Programm steht ein Stück, das Dique in London längst hätte sehen können, denn dort läuft es seit zwei Jahren …

The 39 Steps. Am Broadway wird die Adaption mit dem Präfix »Alfred Hitchcock’s« angepriesen, während im West End mit »John Buchan’s« der Autor der Romanvorlage von 1915 angeboten wird, dessen Name dort wohl noch geläufig ist. Das Stück steht aber weder dem Roman noch Hitchcocks hervorragendem Film besonders nahe, denn hier haben wir eine Karikatur des Stoffes, eine unbändige, bunte Comedy, die so over-the-top ist, dass es schon wieder Spaß macht.

Nur vier Akteure teilen sich Dutzende von Rollen, wechseln Identitäten, Kostüme, Dialekte mitten im Gespräch, hasten in fliegenden Szenenwechseln von Schauplatz zu Schauplatz. Da gerät das Stück zur Liebeserklärung an das Theater schlechthin: mit einfachsten Mitteln werden ruckzuck frappierende Illusionen geschaffen. Da werden ein paar Kisten und einige vorbeifahrende Schilder zur schnaufenden Eisenbahn, verschiebbare Türen und hochgehaltene Fensterrahmen schaffen imaginäre Räume, während ausgefuchstes Sound- und Lichtdesign die Täuschung perfekt macht.

Einmal verwandelt sich die komplette Bühne in ein zweidimen­sionales Schablonentheater; die halsbrecherische Flucht des Protagonisten vor feindlichen Doppeldeckern zündet unmittelbar Assoziationen mit »North by Northwest«, und als links auf der Anhöhe ein kleiner Schattenriss-Hitchcock hochklappt, kann sich kaum ein Zuschauer ein lautstarkes Schmunzeln verkneifen.

Dann und wann brechen Momente der Ironie das überzeichnete Schauspiel: Als sich einmal alle vier Darsteller auf der Bühne befinden, erscheint plötzlich eine Hand hinter dem Vorhang und feuert einen Schuss ab. Alle halten verdutzt inne, schauen sich ratlos an, und der tödlich Getroffene beschwert sich, bevor er theatralisch darniedersinkt: »It was supposed to be a cast of four!«

Das ist Wegwerf-Theater im besten Sinne, hier zeugt jede Improvisation von höchster Kunstfertigkeit, jedes liebevolle Detail von kindlicher Begeisterung für das Medium. »The 39 Steps« mag leichte Kost sein, doch kommt das Stück weitaus ehrlicher daher also so manch aufgeblasenes, überproduziertes Broadway-Spektakel. Warum einen echten Wasserfall auf die Bühne wuchten, wenn es auch ein wackelnder Duschvorhang tut. Und wenn dann Bernard Herrmanns Psycho-Geigen kreischen, ist ein weiterer Lacher gebongt.

Babylon, BBQ und ein Éclair

New York, 2. November 2008, 05:07 | von Dique

Ankunft JFK. Fast eine Stunde an der Passkontrolle, Lektüre »Persian Fire« von Tom Holland:

»Immigrants, whether slaves and exiles or mercenaries and merchants, thronged the streets of Babylon – history’s first truly multicultural city. Even after the loss of her independence to Cyrus, she had remained the Near East’s supreme melting-pot, her streets filled with a thousand different tongues, the roaring of exotic animals and the flashing of strange birds …«

Dann endlich mit dem AirTrain nach Howard Beach und von dort mit der Metro nach Manhattan, dort treffe ich San Andreas an 42nd Street Ecke 8th Avenue. Gleich weiter in die Pharmacy auf der anderen Straßenseite, um mit Paracetamol versetzten Hustensaft gegen die anklingende Erkältung zu kaufen. Leider gibt es mein bevorzugtes All-in-One von Beechams nicht und ich beginne mich mit einem vergleichbaren Produkt zu kurieren.

Wir gehen dann ins Daisy May’s zum Abendessen, laut dem Zagat (den schleppt San Andreas tatsächlich mit sich rum) das beste BBQ in New York. Sehr einfacher Order-at-the-Counter-Laden, Pappteller und Plastikbesteck, und wir unterhalten uns über »The Graduate«, weil uns das Besteck daran erinnert, wie Ben (Dustin Hoffmann) vom Mann seiner zukünftigen Affäre, Mrs. Robinson, zur Seite genommen wird und dieser zu ihm sagt: »I want to say one word to you. Just one word.« Und nachdem Ben versichert hat, dass er zuhört, sagt er: »Plastics.«

Es gibt dann Ribs, Beef Brisket und vier Side Dishes (Sweet Potato Mash, Creamy Spinach, Dirty Cajun Rice und Corn with Cheese). Die Ribs sind in der Tat ausgezeichnet, das Brisket kommt unerwartet in sehr kleinen Stücken, und wir fragen uns, ob wir vielleicht falsch bestellt haben.

In der New York Times schrieb neulich Holland Cotter in seinem Artikel »A Banquet of World Art, 30 Years in the Making« über den scheidenden Met-Kurator Philippe de Montebello und eine Ausstellung von 300 Werken, die unter seiner Ägide eingekauft wurden, 300 von 84,000(!), die er in dieser Zeit absegnete:

»The 300 objects in the show represent a tiny fraction, and a madly eclectic one. Chinese scrolls, Greek vessels, Oceanic effigies and an 18th-century American pickle holder share the spotlight, with no object privileged as better – grander, rarer, prettier – than any other. This is a wonder-cabinet situation, an exercise in proprietorial pride, an unabashed, if surprisingly low-key, display of fabulousness.«

Darauf freuen wir uns dann morgen, jetzt noch schnell irgendwo in der Nähe auf Kaffee und Éclair und ab ins Bett.

Knigge und die Filmpiraterie

Konstanz, 1. November 2008, 17:41 | von Marcuccio

Manche meinen ja, das »Baader-Meinhof-Ärgernis«

»fängt schon mit dem Vorspann an. Dort wird man als zahlender Kunde erstmal wieder eingeschüchtert und mit Gefängnis bedroht, weil man ja theoretisch diesen Superdupi Film abfilmen und im Internet anbieten könnte. (…) Das ist genauso frech wie diese nicht vorspulbaren Spots auf Kauf-DVDs, in denen mehrere Jahre Knast angedroht werden, wenn man diese DVD jemals auch nur im Ansatz kopieren sollte. Als zahlender Kunde muss ich mich erstmal einschüchtern lassen?«

Nein, und deswegen kann man schon mal festhalten: Diese Angriffsrhetorik gehört zu den nervigsten neueren Film-Paratexten überhaupt.

Ginge der Pirateriehinweis nicht auch anders? Höflicher, stilvoller, umgänglicher? Vielleicht so wie gestern, im Kino.

Noch läuft die Eiswerbung. Dann geht das Licht wieder an, damit auch alle im Hellen auf den Eisverkäufer warten können. Jede Minute Verspätung ein Eis weniger, sage ich immer.

Neben mir kramt Palma ihre neueste Errungenschaft raus. Adolph Freiherr von Knigge: »Über den Umgang mit Menschen«.

»Eure Cover-Version unseres Libro del Cortegiano. Aus einem italienischen Epochenwerk für den Adel wurde eine deutsche Stilfibel für das Bürgertum.«

(Woher kennt sie eigentlich das Wort Stilfibel? Egal.)

Ich halte dagegen, dass zwischen Castiglione und Knigge immerhin 260 Jahre und eine Aufklärung liegen. Trotzdem: irgendwie ein Missverständnis, dass Knigge zum Knigge für Tischregeln und Kleiderkonventionen verkam … Übrigens sagt Palma tatsächlich »Njiddsche«. Wie eine Mischung aus »Gnocchi« und »Dittsche«.

Der Eisverkäufer ist im Saal (endlich!). Während tatsächlich noch was gekauft wird, flüstert mir Palma den Knigge ein. Über den Umgang mit Frauen. Über den Umgang mit Juden. Mit Geistlichen. Mit Gelehrten, Künstlern und Kaufleuten. Mit Fürsten, Vornehmen und Reichen. Mit Bauern, mit Tieren, mit »sich selbst« … und – das scheint gerade jetzt, wo das Licht runterdimmt und der Film endlich losgeht, angebracht: Über den Umgang mit Raubkopierern:

»Einige meiner Schriften sind in Wien und Leipzig nachgedruckt worden; sollte einer von der berüchtigten Zunft etwa auch auf dies Büchelchen eine korsarische Unternehmung von der Art wagen wollen, so dient demselben die Nachricht, daß alle Vorkehrungen getroffen sind, den Schaden eines solchen Diebstahls auf den Räuber fallen zu machen.«

Der Witz ist, dass Adolph Freiherr von Knigge das vor 220 Jahren schrieb (»Hannover, im Jänner 1788«). Am besten wir Kinogänger machen jetzt auch eine korsarische Unternehmung und projizieren den Satz mit unserem Handy-Beamer so lange an die Kinoleinwand, bis die Branche spannendere Urheberrechtshinweise textet.

Die Metapher »2.0«

Konstanz, 31. Oktober 2008, 18:28 | von Marcuccio

Wie lange sagen wir eigentlich noch »2.0«? Das frage ich mich schon länger, auch heute wieder, wo mir via »Börsenblatt«-Newsletter eine Anzeige für einen Reader zum Thema E-Book in die Mailbox flattert:

»Gutenberg 2.0« heißt das Werk. Gab es eigentlich in den letzten 2,0 Jahren etwas, das noch nicht 2.0 war? Was und wieviel muss eigentlich noch 2.0 werden, damit es mal wieder was Neues (3.0? bestimmt nicht, hehe) geben kann.

Und ich bin mir meiner Mitschuld (»Lesen 2.0«) ja durchaus bewusst, möchte an dieser Stelle aber trotzdem Dirk Knipphals danken. Denn ich glaube, es war Feuilletonpremiere, als er neulich (taz vom 18. 9.) schon mal versuchsweise so etwas wie einen Nachruf auf die Chiffre verfasste, um sie – weil’s so schön ist – doch noch ein letztes Mal selbst in Anspruch zu nehmen:

»Aus dem engeren Umfeld von Internet und Update hat sich diese Chiffre längst gelöst. Sie besagt nur noch, dass irgendetwas anders geworden ist als früher, und zwar leichter, anpassungsfähiger, aber dennoch keineswegs unverbindlich. Von der Ehe 2.0 hat man schon gelesen (man redet in ihr auch miteinander) und auch vom Hausputz 2.0 (offenbar gibt es besonders leistungsfähige Staubwischtücher).«

Wann aber kommt der wahre, lange Ganzseiter über den Anfang vom Ende der Endung 2.0? Vielleicht druckt die FAZ – wie seinerzeit das Genom – ja auch einfach mal seitenweise 2.0-Belege ab. In Form von Wortfeldern und Tag Clouds, das wäre vielleicht ein echter Nachruf 2.0.

Thomas Buddenbrook zur Finanzkrise:
»Wenn alles schon wieder abwärts geht …«

Konstanz, 30. Oktober 2008, 22:31 | von Marcuccio

20 Jahre später als Daniel Kehlmann lese ich dann auch endlich mal die »Buddenbrooks«, halb inspiriert von Kehlmanns Rede, halb getrieben von Panik, den Buddenbrooks womöglich alsbald unvorbereitet im deutschen Fernsehfilm-Kino zu begegnen.

Und es ist jetzt natürlich Zufall (oder doch Fügung? nein, einfach nur banal!), dass ich just heute auf Seite 431 angelangt bin: Das ist gut die Mitte in der Fischer-Taschenbuchausgabe von November 1996 (812.-836. Tausend) und zugleich der Punkt, wo Tom Buddenbrook eigentlich alles hat: einen Stammhalter, einen Posten im Senat, ein neues Haus. Allein …

»Ich weiß, daß oft die äußeren, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstieges erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht. Diese äußeren Zeichen brauchen Zeit, anzukommen, wie das Licht eines solchen Sternes dort oben, von dem wir nicht wissen, ob er nicht schon im Erlöschen begriffen, nicht schon erloschen ist, wenn er am hellsten strahlt …«

Was Tom da zu seiner Schwester Tony sagt, lässt nicht nur weiter großepische Niedergangsdiagnostik (»Verfall einer Familie«) erwarten. Es liest sich irgendwie auch wie eine Miszelle zu den rekordniedrigen Arbeitslosenzahlen inmitten der globalen Finanzkrise.