Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 1):
»Kein Jahrhundertbuch«, aber »groß und kalt«

Leipzig, 11. November 2008, 07:06 | von Paco

Bis jetzt hat die Rezensionsschiene der Rezeption den Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littell immer nur als Ganzes betrachtet. Der Umblätterer widmet sich nun einigen Einzel­aspekten, denn das Buch enthält neben einigen grandios miss­lungenen Subgeschichten auch einige gelungene, interessante. Davor aber noch einige Pensées zum Status des Werks:

Die Fraktion, die das ganze Buch für einen schrottigen Literatur­versuch hält, der besser nicht veröffentlicht worden wäre, hat durchaus diskutable Punkte hervorgebracht (meine Lieblings­rezension in diesem Zusammenhang stammt von Iris Radisch).

Aber die von Jorge Semprún angeführte Gutfinde-Fraktion hat ebenfalls ihre Gründe, auch wenn sie oft ein bisschen zuviel gefeiert hat, wie man an Semprúns Diktum sehen kann, mit dem der Berlin Verlag die deutschsprachige Ausgabe bewirbt: »Es [das Buch] ist das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte.« (In der deutschsprachigen Diskussion wird diese Fraktion übrigens vom »Buchversteher« Klaus Theweleit angeführt.)

Hinsichtlich des literarischen Rangs der »Wohlgesinnten« hat Frank Schirrmacher in seiner Werkeinführung eine deutlich zurückgenommene Formulierung gefunden: »Es ist dies kein ›Krieg und Frieden‹, es ist, was sein literarisches Gelingen angeht, kein Jahrhundertbuch. Aber groß ist es dennoch. Groß und kalt.«

Obwohl damit der Vorabdruck des Romanbeginns in der Print-FAZ angekündigt wurde, ist diese Einschätzung nicht wirklich ein kontraproduktiver Knockout, da Schirrmacher mit dem Ansatz ›umstrittenes Buch‹ auch ganz geschickt den Diskurs in den neu gegründeten Reading Room (now Lesesaal) hinübergeleitet hat.

Diese eingeschränkte, aber anzuerkennende Größe, die sich eben auch und vor allem auf den Umfang bezieht, also die hohe Anzahl von Buchstaben und Seiten, hatte dazu geführt, dass Gallimard die Manuskripteinschickung 2006 umstandslos druckte und dass dem Buch im selben Jahr der Prix Goncourt zugesprochen wurde.

Der französische Literaturbetrieb ist bekanntlich seit gut 100 Jahren darauf geeicht, ein bestimmtes massives Fehlurteil nicht zu wiederholen. Mitschuldig an dieser psychologischen Disposition ist André Gide, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg Prousts »Recherche« für seine »Nouvelle Revue française« (aus der später die Éditions Gallimard hervorgingen) mit Pauken und Trompeten abgelehnt hatte (»un mondain amateur«!) und dies später als größten Fehler seines Lebens bereute.

Proust rechtfertigte sich später im letzten Band der »Recherche«, indem er schrieb, er sei nicht der »fouilleur de détails« (Detailversessene), für den man ihn hielte, sondern dass er im Schreiben »les grandes lois« suchte, die »großen Gesetze«, die auch Littell beschreiben will, indem er sich ebenfalls für die Ausbreitung von Details entscheidet, allerdings ganz anderen als Proust.

Wie auch immer. Über den ermüdend konservativen Stil des Buchs muss man nicht diskutieren. Dass Littell im ersten Brief an seine Übersetzer auch noch anmerkt, er habe da jetzt »die Tempora der französischen Verben in der großen Tradition Flauberts« eingesetzt, signalisiert eine peinliche Bildungsbürgerlichkeit und ist eine schreckliche Bestätigung der stilistischen Einfallslosigkeit Littells.

Der einzige gestalterische Eingriff ist die Beibehaltung einiger deutschsprachiger Vokabeln im französischen Original. Sicherlich nicht mehr als ein billiger Effekt (»cria l‘Aufseherin«, »pour la Heimat«, »le Häftlingskrankenbau« usw.), aber die Fremdheit bestimmter Wörter unterstreicht die Fremdheit der Gedanken, die Aue vor uns ausbreitet – ein angenehmer Schlag ins Gesicht, der in der deutschen Übersetzung leider ausfallen muss.

(Die Übersetzung von Hainer Kober ist übrigens sehr gut. Er hat aus dem Roman ein deutsches Buch gemacht, dessen fremdsprachliche Herkunft man beim Lesen nie unbeabsichtigt heraushört.)

Noch eine Bemerkung zur Makrostruktur: Gegen Ende des Romans, als sich Max Aue im Haus seines Schwagers Üxküll aufhält, hat er eine melancholische Eingebung:

»Ich sagte mir: Ich würde so gerne Klavier spielen können, so gerne noch einmal Bach hören, bevor ich sterbe.« (S. 1213)

« Je me disais : J’aurais tant voulu savoir jouer du piano, je voudrais tant entendre encore une fois du Bach, avant du mourir. » (p. 1241)

Das erfüllt er sich dann eben über 30 Jahre später mit der Niederschrift seiner Memoiren, die der Roman »Die Wohlgesinnten« darstellt. Er zwängt sie in das Korsett einer Bach’schen Suite mit der Abfolge Toccata – Allemandes I et II – Courante – Sarabande – Menuet (en rondeaux) – Air – Gigue.

Das soll dann ganz grob einige Zäsuren im Fortgang der verschiedenen Kriegs-Aventiuren betonen, löst das stilistische Problem des Buches freilich überhaupt nicht.

7 Reaktionen zu “Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 1):
»Kein Jahrhundertbuch«, aber »groß und kalt«”

  1. Gregor Keuschnig

    Diese eingeschränkte, aber anzuerkennende Größe, die sich eben auch und vor allem auf den Umfang bezieht, also die hohe Anzahl von Buchstaben und Seiten, hatte dazu geführt, dass Gallimard die Manuskripteinschickung 2006 umstandslos druckte und dass dem Buch im selben Jahr der Prix Goncourt zugesprochen wurde.
    Schöne Ironie. Der Grund für die Bepreisung liegt m. E. im Ritterschlag durch Jorge Semprún, der dadurch eine Art ästhetisches Monopol auf das Buch bekam. Damit wurde ja auch in Deutschland Werbung gemacht, wobei die Spekulation, das Buch alleine durch seine(n) Fürsprecher gegenüber Kritik zu immunisieren glücklicherweise nicht aufgegangen ist. Das ist nicht unwesentlich das Verdienst der Radisch-Kritik, die in sich allerdings auch kritikwürdig ist.

    Aber ich möchte den weiteren Fortgang hier erst noch abwarten.

  2. Paco

    Gregor, deine Kritik der Radisch-Kritik interessiert mich sehr. Ich halte sie für eine Sternstunde wütenden Feuilletons mit fast schon Heribert-Prantl-haften Zügen.

    Im Folgenden wird es hier weniger um Lit.kritik gehen, das Feld hast du ja selber schon bravourös abgegrast.

  3. Gregor Keuschnig

    Ein kursorischer Versuch: Radischs Kritik ist da ungenau, wo sie das kritisiert, was offensichtlich ihrer Meinung nach nicht sein darf. Wenn sie schreibt, Littells Bestreben sei es, seinen Helden und die Ideologie, die er vertritt, zu veredeln und gleichsam „hoch zu schreiben“ und von einer verstörende[n] Arbeit am nationalsozialistischen Mythos spricht, so kommt mir das reichlich spröde und ein bisschen zu vereinfachend daher. Sie suggeriert damit, dass Nazis nur als tumbe Schwachköpfe oder blutrünstige Monster darzustellen seien. Ihre Schlussfolgerung, Littell stelle den Täter als unschuldig dar, ist falsch. Es handelt sich bei Aue deutlich nicht um einen „Unschuldigen“, sondern um jemanden, der keine Schuld empfindet. Das ist ein grosser Unterschied und dürfte von jedem halbwegs versierten leser auch als solcher empfunden werden.

    Mein grösster Kritikpunkt ist jedoch die Stelle, wo sie schreibt: Das ungelöste Geheimnis, warum unsere Großväter zu mitleidlosen Mördern wurden, hat dieser Roman nicht gelöst. (Dieses unsere hat ja ein grosses Echo ausgelöst; ich lasse das mal beiseite.) Als wäre es die Aufgabe des Romans (gewesen), dieses Geheimnis zu lüften? Darf jemand seine eigenen Ansprüche an ein Buch als Leitfaden für die Beurteilung machen? Und was soll dieser Satz Oder nur insofern gelöst, als er die Schuldfrage entkräftet? Die Schuldfrage ist natürlich mitnichten entkräftet. Nur weil Aue eine Art Kollektivschuldprinzip vertritt, ist darüber rein gar nichts ausgesagt.

    Den ästhetischen Budenzauber dieses Buches hat Radisch grandios seziert. (Das ist beispielsweise wunderbar: Die antike Sexualtragödie, die bis in die letzten Winkel der feuchten Schwester-Vulva ausgekostet wird, bleibt ein küchenpsychologischer Nebenschauplatz. Und eine vulgärerotische Primanerfantasie, die dadurch nicht an Attraktivität gewinnt, dass sie in den trüben rassepsychologischen Niederungen des Romans noch einmal aufgegriffen wird.) Radischs ist sicherlich einer der Feuilleton-Höhepunkte des Jahres. Trotz dieser Ungenauigkeiten.

  4. Paco

    Sehr gut auf den Punkt gebracht! Warum jemand zum Mörder wurde, ist sowieso nicht am Beispiel Max Aues erklärbar, da er »gegen jede historische Wahrscheinlichkeit entworfen« ist, wie komischerweise auch Radisch selbst schreibt. Ich habe ihre Bemerkung deshalb immer dahingehend verstanden, dass man vielleicht bei den anderen Figuren Erklärungen dafür findet, warum sie morden bzw. dabei helfen. Nur kommen andere Figuren kaum so ausführlich vor, dass eine weitreichendere Motivforschung möglich wäre (Typen à la Mandelbrod und Leland beziehe ich da lieber gar nicht mit ein, da ihre Unwahrscheinlichkeit noch größer ist als die Aues).

    Insofern stimme ich dir zu: Der Roman verspricht diese Art historisch genauer Motivforschung an keiner Stelle. Was Littell in Interviews dazu verlautbart, ist kein Problem des Romans.

    Beim Thema ›Kollektivschuldprinzip‹ sind die »Wohlgesinnten« dann aber in der Tat innovativ, denn es geht darin nicht um den nochmaligen Nachweis deutscher Kollektivschuld. Littell verfolgt auch keinen historiografischen Ansatz à la Goldhagen oder Aly, sein Ansatz ist letztlich doch ein literarischer, denn es geht ihm ganz allgemein um die conditio humana. Deshalb ist Littell so viel daran gelegen, stetig die nichtdeutschen Beteiligten, Unterstützer oder Befürworter des Holocaust aufzuzählen, allen voran die Ukrainer/»Askaris«, aber auch die belgischen Royalisten der Legion »Wallonien« sowie überhaupt alle möglichen ausländischen Krieger an der Ostfront, bis hin zu den französischen Autoren um »Je suis partout« (und Aue selber ist ja als Schuldiger eben auch Deutscher UND Franzose).

  5. Gregor Keuschnig

    Ja, meine Formulierung „Kollektivschuld“ war missverständlich und falsch verwendet. Interessant fand ich allerdings, dass Aues Ausführungen hierzu viel eher als Kollektivunschuld-These herangezogen werden könnten (und von ihm auch so aufgefasst werden). Neu ist daran vielleicht, dass dies von einem intellektuellen Standpunkt aus geschieht, der nicht moralisch urteilt (über das eigene Verhalten), sondern eher eine „akademische“ Sicht bevorzugt. Und das dies im Laufe des Buches auch wechselt, denn es gibt auch Stellen, in denen er den „Führer“ quasi als „Vollstrecker“ des Volkswillens sieht (was zur in diesem Zusammenhang perversen Vokabel der Pflichterfüllung führt).

    Dass es (auch und gerade) bei der SS ein grosses Potential nichtdeutscher „Helfer“ gab – das ist allerdings auch ziemlich bekannt. Vielleicht wenig (literarisch) verarbeitet (es hätte einem deutschen Autor leicht als Verharmlosung ausgelegt werden können), aber eine Neuigkeit an sich ist das nicht. Bei Littell gibt es nie einen Zweifel, dass die Kommandogewalt in deutschen Händen liegt bzw. bleibt.

  6. Paco

    ›KollektivUNschuld-These‹, das ist doch mal ein Begriff! Ansonsten d’accord, ich fand es hinsichtlich der nicht-moralischen Perspektive, aus der Aue schreibt, auch bezeichnend, dass seine Verdrängungsleistung dann auch nicht den Holocaust betrifft, sondern die eigene Familientragödie (dazu später mehr in –schätzungsweise– Teil 10 dieser kl. Reihe).

    Und du hast Recht, dass Wehrmacht und SS multinationale Unterstützer gefunden haben, ist tatsächlich keine neue Erkenntnis, es fällt aber auf, wie überproportional oft Aue auf Nichtdeutsche trifft, mir fallen jetzt auf die Schnelle noch die Kroaten im Kessel von Stalingrad ein und die Versprengten der Division Charlemagne, denen er noch in den letzten Kriegstagen begegnet.

  7. Gregor Keuschnig

    …Teil 10..okay, ich bin gespannt (ehrlich!)

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