Archiv des Themenkreises ›Nominiert 2007‹


Das Autorenfoto-Pingpong

Konstanz, 21. November 2007, 21:02 | von Marcuccio

Es ist Palmas Artikel des Jahres: ein Beitrag, der das Autorenfotojahr 2007 ihrer Meinung nach überhaupt erst einläutete, ein Gespräch aus der guten, alten »Zeit« (Nr. 4/2007), das im Neujahrskater des noch frischen Feuilletonjahres 2007 leicht übersehen worden sein könnte.

Da trafen sich mit Ursula März und Claudia Schmölders (»Hitlers Gesicht«) zwei ausgewiesene Feuilletonfrauen, breiteten stapelweise Verlagskataloge vor sich aus und unterhielten sich einfach mal über Autorenfotos, zum Beispiel über Peter Handke (hier Suhrkamp-PDF öffnen und auf S. 3 das Foto checken):

»Er ist im Profil zu sehen, ganz wichtig. Das ist schon georgemäßig.«

»Aber es gibt doch Dutzende Schriftsteller, die im Profil fotografiert wurden.«

»Ja, aber George wollte aussehen wie Dante. Die frühe Ikonografie von Fürsten war eine Profilikonografie […].«

Fast schon ein Autorenfoto-Pingpong, wie das auf Augenhöhe hin und her ging. Der Witz der ganzen Sache war, dass die Damen März und Schmölders in Wahrheit eine Art »Was bin ich?« mit Autorenfotos spielten:

»Auf welchem Bahnhof kommen wir denn mit diesem Foto an?« 

»Außerordentlich attraktiv, jung, leicht geöffneter Mund, mit Rückenlicht fotografiert, so dass die langen Haare besser zur Geltung kommt [sic!]. Undefinierbar zwischen Film und public life. […] Auf alle Fälle […] ein absoluter Ausweis des visuellen Zeitalters. Die Botschaft dieses Fotos lautet: Komm in meine Lesung. Lern mich leibhaftig kennen. Und das ist für die Literatur schon ein problematischer Aspekt. […] Die Botschaft des Bildes ist rein biologisch und kosmetisch. Das hat mit Text gar nichts zu tun.«

»… aber eben ganz viel mit Paratext«, flötet mir Palma, fast schon erregt, ins Ohr. Indes sinniere ich noch, wo & wann ich Marisha Pessl eigentlich zum ersten Mal ›begegnet‹ bin. Ich glaube, es war irgendwann im Frühling in der FAS: der wunderbare (wieder mal ein wunderbarer) Artikel von Johanna Adorján, der einerseits total auf Homestory machte und andererseits vermittelte, dass die literarische und visuelle Makellosigkeit dieser jungen Autorin der Gattung »American Streber« (Georg Diez) irgendwo auch ein Gefängnis sein muss.

Doch zurück zum »Zeit«-Gespräch, das eigentlich ein Wahnsinn war: Zum ersten Mal im deutschen Feuilleton (sagt Palma) wurde ein literarischer Bücherfrühling ausschließlich anhand der Optik seiner Autorinnen und Autoren besprochen. 

Und Palma hat Recht:

Ein solches Unterfangen, angesiedelt irgendwo zwischen Lavater und »Bunte«-Stylecheck, gehört hier schon allein deshalb nominiert, weil es ganz unmerklich eine Schallmauer durchbrach. Wo die Kritik heutzutage Debütantinnen fast schon prophylaktisch auf Fräuleinwunder-Fakes testet und auch so manches Debüt der männlichen Kollegen als Mogelpackung entlarvt, war ein klärendes Gespräch halt einfach mal überfällig. Hier wurde, als Plauderthema getarnt, ein Phänomen besprochen, ein latentes Dauerthema der letzten und nächsten Jahre, für das man noch gar keinen richtigen Namen hat.

Jedenfalls ist sich Palma ziemlich sicher: Für irgendjemanden da draußen war es bestimmt auch eine echte Steilvorlage, aus der früher oder später endlich das noch immer nicht geschriebene Standardwerk über das Autorenfoto enstehen kann. Palma wörtlich: »Mehr Zuspiel kann und mag man vom Feuilleton doch gar nicht erwarten.«


Jochen Schmidt über »Curb Your Enthusiasm«

Madrid, 22. September 2007, 13:57 | von Paco

Ich bin hier, um Jochen Schmidt zu retten. So wie das einige Feuilletonisten schon nach dem diesjährigen Bachmann-Wettbewerb getan haben, bei dem Schmidt mit dem ohne Zweifel besten Text im Rennen leer ausging.

Jedenfalls, vor genau einer Woche hat J. S. im Aufmacher (!) der Wochenendbeilage der S-Zeitung über »Curb Your Enthusiasm« berichten dürfen. Und jetzt sind es Teile der deutschsprachigen »Curb«-Szene, die ihm übel wollen. Warum? Kommt gleich.

»Das Leben ist doch viel zu kurz, um auf Enthusiasmus verzichten zu können«, sagte Rüdiger Safranski am Dienstag im FR-Interview. True that, und deshalb stelle ich jetzt schon mal fest: Jochen Schmidt’s the maaan!

Es hat zwar vor ihm auch schon mal einen »Curb«-Review von Oliver Kalkofe gegeben (im »Eulenspiegel« oder irgendwo, mal beim Umblättern in der Bahnhofsbuchhandlung aufgeschnappt), und auch Maxim Biller hat die Serie mal irgendwann empfohlen in einer der Redaktionsempfehlungsrubriken der FAS.

Jochen Schmidt aber hat nun den deutschsprachigen feuilletonistischen Standard-Text über »Curb Your Enthusiasm« und über Larry David geschrieben. Nebenbei, der international anerkannte Standard-Text zu Larry David ist immer noch der, der im Januar 2004 im New Yorker gestanden hat und »Angry Middle-Aged Man« betitelt war.

»Angry Middle-Aged Man« war eine geniale Überschrift. Sie wird heute noch zitiert, wann immer irgendwo LD erwähnt wird. Dagegen war die Überschrift der S-Zeitung eine der schlechtesten Überschriften des Jahrtausends: »Deutschland vergessen«.

»Damit ist zwar natürlich etwas Bestimmtes gemeint«, sagte Gabriel, »das hat mit der Einzigartigkeit des Schmidt-Textes aber nichts zu tun.« Diese Ungenauigkeit setzt sich dann in den redaktionellen Paratexten fort. Ein hervorgehobenes Zwischenzitat lautet:

»Warum passt kein Finger durch Tassenhenkel? Larry David weiß es.«

Nichts weiß er! Das wird nie beantwortet, und in Schmidts Text steht auch, dass diese Art Fragen nur gestellt und auf keinen Fall im Stil von etwa Schrotts Sammelsurium beantwortet wird.

Und dann ist da noch die von Schmidt nicht ganz richtig wiedergegebene Information, dass es die Serie »nicht nach Deutschland geschafft« habe. Na gut, die Serie ist hierzulande nur über das UMTS-Mobilfunknetz von Vodafone zu sehen (wie Schmidt selber auch weiß), aber immerhin ist die Serie auch synchronisiert. Ob es freilich Sinn hat, sie zu synchronisieren, ist die Frage. Schmidt spricht da sicher vielen Serienjunkiez aus der Seele, wenn er feststellt:

»Aber in Deutschland wird jede Serie synchronisiert und damit halb verstümmelt, weil man hier den Menschen nicht zutraut, was für Polen, Slowenen oder Niederländer normal ist, beim Fernsehen, also spielend, Englisch zu lernen.«

Spätestens dieser Satz hat die Szene auch wieder beruhigt. Es ist aber wirklich als Glück zu werten, dass der Text in der Wochenendbeilage stand und daher sozusagen nicht als Rezension gilt. Denn ein unfassbarer (na ja) journalistischer Fauxpas kommt noch hinzu: Es gab nämlich durchaus einen Anlass für die Platzierung des Artikels gerade zu diesem Zeitpunkt.

Nur 6 Tage vor der Veröffentlichung begann auf HBO die lang ersehnte sechste Staffel, endlich, nach fast zwei Jahren. Ein Anlass zur Berichterstattung, wie er im Buche steht. Und der wird im Artikel eben nicht erwähnt.

Einige Curb-Your-Enthusiasts waren dermaßen enttäuscht von der S-Zeitung, das ging bis hin zur Androhung von SZ-Abo-Kündigungen (vgl. die FAZ-Abbesteller-Szene). Was natürlich keiner machen würde, aber die Androhung der Kündigung ist ja ein immer wieder gern bespieltes Unter-Genre der Leserbriefpost.

Soweit sind die Journalismus-Bits abgehandelt, und jetzt kommt’s: Als Feuilleton ist Jochen Schmidts Text eine seltene Perle. So sieht’s aus, und also rein damit in die Nominierungs-Longlist für 2007.

Proust wird erwähnt (natürlich), dann Kafka, Benjamin, dann allen Ernstes noch Horaz und Tocotronic, und natürlich spätestens da wird es zu viel. Aber noch diese brachiale Verortung in der Kulturgeschichtsschreibung unterstreicht, dass »Curb Your Enthusiasm« eben nun mal die Feuilleton-Serie ist.

Es gibt zurzeit keine besser geschriebenen Drehbücher, auch wenn das im Falle von »Curb« nur Outlines sind. Als Ergebnis sehen wir dann aber »wahre Meisterwerke der Plottechnik«, von denen auch Schmidt schreibt. Das muss man wirklich gesehen haben.

Am Ende des Artikels steht ein Satz, auf den offenbar auch die misslungene Überschrift rekurriert. Ein Satz, der den Grundtenor bei Medienjournalisten wie Peer Schader und Stefan Niggemeier schön zusammenfasst und insgesamt wohl auch die deutsche Medienberichterstattung der letzten Jahre. Er lautet:

»Kein Mensch braucht deutsches Fernsehen.«


Peter Richter: »Sodann und Gomorrha«

auf Reisen, 13. September 2007, 01:58 | von Paco

Cela sonne vraiment génial lorsque les mots « Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung » apparaissent soudain dans un texte français (comme ici récemment), c’est pourquoi il serait bienvenu que Le Tourneur de Pages écrive aujourd’hui en français. Mais bon, l’effet de surprise ayant déjà été produit, continuons en allemand:

Also, am Sonntag, kurz nach Mitternacht Ortszeit, erhielt ich eine SMS von Austin:

»FAS von heute. Richters Artikel groß. Und es stimmt alles. Top 10.«

Schon der Titel des Artikels ist ein assoziativer Knock-Out:

»Sodann und Gomorrha«

Über diese Headline hat am Sonntag ganz Zeitungs-Deutschland laut gelacht und mehr kann man von einer Zeile mit drei Wörtern nicht verlangen.

Am Montag darauf hatte auch Irene Bazinger in der F-Zeitung den Abend verrissen und die beiden Protagonisten als »schamloses Altherrengedeck« verunglimpft. Überhaupt war der Auftritt eine Aufforderung an jeden Journalisten, die eigenen Polemik-Qualitäten zu demonstrieren. Aber keiner hat das so gut gemacht wie Peter Richter.

Mit Austins SMS-Nominierung steht er jetzt schon zum zweiten Mal auf der Shortlist für den besten Feuilleton-Artikel 2007, wobei der damals von Dique nominierte Beitrag über den derzeitigen Kunstwahn vollkommen verblasst vor diesem virtuosen Verriss.

Der Artikel ist rein äußerlich natürlich schon noch eine Besprechung des politischen Kabarett-Abends »Blüm & Sodann«. Im Wesen ist der Text aber l’art pour l’art, eine Tirade, wie sie wahrscheinlich nirgendwo gestanden hat in den letzten Jahrzehnten.

Viele Passagen sind zitierenswert, aber das hat die Blogosphäre schon ziemlich weidlich getan. Dabei ist die Pointe (Richters Scham als Sachse für einen Repräsentanten wie Sodann) fast schon der schwächste Satz im Text.

Das ist was: Ein Feuilleton-Artikel, der so gut ist, dass er nicht mal auf seine Pointe angewiesen ist.


Der Matussek hinter dem Matussek

Konstanz, 8. September 2007, 10:36 | von Marcuccio

Erst mal finde ich: Wo die »Spiegel«-Woche sich dem Ende zuneigt, sollten wir hier noch ein Zeichen setzen und die von der Bio-Welle überschwemmte, eigentliche Titelstory (»Romantik ist der erste Pop«) nominieren!

Und dann, Paco, Feuilletonator: Deine Sympathiemomente für Matti Matussek teile ich absolut! Er wird ja in Medienkreisen gern zur Hassfigur stilisiert, ich glaube auch Gehrs hat ihn als geistigen Urheber von Rebecca Casatis Second-Life-Story schon mal weggewischt – so nach dem Motto: Der steht sowieso für alles Seichte beim »Spiegel«.

Und genau das stimmt so nicht: Wie er Safranskis Romantik-Studie für den gemeinen »Spiegel«-Leser mit den Koordinaten des Pop nacherzählt (die Leutragasse von Jena als historischer Vorläufer der Kommune 1, Novalis als schwarzer Prinz des Pop usw.), das hat alles Hand und Fuß und Wert.

Wobei, und das werden die Matussek-Kritiker ihm natürlich wieder vorwerfen, nicht ganz rauskommt, ob das im Einzelfall jeweils Safranski- oder Matussek-Gedanken sind. Aber egal, mit all dem, und auch mit dem Matussek-Safranski-Interview (die besten Sätze hier noch mal per »sms«) war das doch eine wunderbare Romantik-Woche im deutschen Feuilleton.

Bei all dem muss ich zugeben: Traditionell bin (war?) ich kein Matussek-Möger. Aber man kann Matussek hinter dem Matussek bei rebell.tv als Sympathieoffensive begreifen. Allein der .ch-Tonfall von sms grundiert einfach mal eine grundsympathische Gesprächssituation und versetzt Matussek in eine schöne Plauderlaune mit interessanten Aussagen.

Insofern ist dieses »fideo« fast schon ein kleines landmark event meiner bisherigen Matussek-Rezeption. Schön auch, wie der »Rebell« den Matussek mit seinen eigenen Klischees konfrontiert (»Man munkelt, der unbeliebteste ›Spiegel‹-Mitarbeiter seien Sie« usw.) und wie dann erst mal prompt die Macho-Szene mit der Sekreteuse kommt.

Und interessant last but not least, wie es im »Spiegel«-Hochhaus zugeht: Dass die Dokumentation da ganz unten sitzt, passt irgendwie in mein Bild von der Augstein/Aust-Festung.


Meine Jacke

Leipzig, 17. Juli 2007, 01:27 | von Paco

Ich wollte heute unbedingt schnell weg aus dem Institut, um endlich in Ruhe den »Spiegel« zuende zu lesen. Ich war gestern nacht und heute früh nur bis zum Bayreuth-Artikel von Moritz von Uslar, der Luhmann-NSDAP-Geschichte und dem Tarantino-Verriss von L.-O. Beier gelangt. Und nachdem Oliver Gehrs, der popkulturjunkie und ein Dutzend andere Kulturmenschen so vom F.-J.-Wagner-Artikel über Fauser geschwärmt hatten, wurde es auch für mich mal Zeit.

Es war wie immer zu früh um zu gehen, und jeder nagelt einem ja noch ein Gespräch ans Knie, wenn man fast als erster nach Hause strebt. Und ich will ja keine schlechte Stimmung verbreiten, deswegen lasse ich mich normalerweise darauf ein. Heute aber wollte ich nicht und griff auf den Trick für den Fall der Fälle zurück. Meine Jacke.

Obwohl es inzwischen ja derb heiß ist auf der Welt, habe ich immer noch eine Jacke im Institut hängen. Ich ziehe sie natürlich nie an und werfe sie mir nur zum Gehen kurz über. So eine offene Jacke, die sich nach hinten weg in die Stromlinien legt, die durch meine Hast erzeugt werden, ist irgendwie ein überzeugendes Signal dafür, dass ich es jetzt mit guten Gründen eilig habe wegzukommen.

Ich konnte wieder die langen Flure durchschreiten, ohne aufgehalten zu werden. Draußen gab ich die Jacke wie immer beim Pförtner ab, mit der Bitte, sie bis morgen aufzubewahren. Dann kurz in der Lucca-Bar, und den Fauser-Artikel kann man ja tatsächlich ruhig mal nominieren.

Er ist ein bisschen gewollt dreckat geschrieben (die Szene mit dem Flachmann bei der Beerdigung usw.), und ansonsten wird noch mal alles verwertet, was Pop ist: Kerouac und Kracht werden erwähnt, außerdem Reich-Ranicki, und die Hälfte des Textes (kleine Übertreibung) schreibt dann auch nicht Wagner, sondern Fauser selber, in Form von Bukowski-artigen Gedichtzitaten.

Und außerdem gibt es da diesen herrlichen Screenshot mit Westernhagen, aus der »Schneemann«-Verfilmung von 1985. Die Bildunterschrift ist wieder mal ein Hoch auf die Bildredaktion wert: Der auf den Schienen liegende Westernhagen wird kommentiert mit dem Reich-Radetzky-Zitat zu Fausers Klagenfurt-Auftritt 1984: »Er passt nicht hierher«.


Elböhi

Berlin, 11. Juni 2007, 17:13 | von John Roxton

Der Kommentar zu Altkanzler Schmidt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 10. Juno 2007 ist absolut preiswürdig und wird daher vom Unterzeichnenden offiziell nominiert. Herr Zastrow (FAS) hat das Phänomen »Schmidt« mit erstklassiger Klarheit beschrieben und auf die These verdichtet, dass Schmidt zu seinen Amtszeiten ein hochgradig entscheidungsschwacher Kanzler war, der es bis heute glänzend versteht, den knallharten Exekutor zu geben. Von dieser hackenschlagenden Warte aus nimmt sich Schmidt die Politweicheier und Kompromisskaliber unserer Zeit zur Brust. Bravo!

In die Kategorie Feuilleton gehört das, weil Schmidts Bühne gottlob schon lange nicht mehr die Politik, sondern die Quatschecke der Gesellschaft ist.


Wozu ist man Dichter

Leipzig, 8. Juni 2007, 20:53 | von Paco

Sehr gut! Die »Jungle World« hat gestern im Dossier das Grünbein-Kapitel aus Steffen Jacobs‘ »Lyrik-TÜV« abgedruckt:

»Der Götterliebling. Durs Grünbein gilt als bedeutendster deutschsprachiger Dichter. Prüft man jedoch seine Lyrik, kommt man zu einem anderen Ergebnis: pubertäre Sprachklingeleien, Bildungshuberei, verknäulte Syntax, geschwollene Rede.«

Ein sicherer Kandidat für die 2007er Liste. Ein langer Text, der überraschenderweise mit einigen Zitaten aus Amazon-Leserrezensionen beginnt (freilich ein allzu leichtes Opfer für Kritik, aber eben auch ein Quell steter Freude, insofern okay), bevor mit schlagenden Beispielen Grünbeins Poetik recht schön zerlegt wird.

Als ich bei Gabriel vor Jahren eines der in »Sinn und Form« abgedruckten Gedichte aus »Nach den Satiren« entdeckte, fand ich die historisierende Emphase noch ziemlich interessant: »Beim Schlachten im Zirkus, wenn die Hirnschalen krachten,« usw. Warum dieser erste Eindruck aber schnell enttäuscht wurde, beschreibt Steffen Jacobs anlässlich einiger Zeilen des Gedichts »Club of Rome«:

»Erneut setzt Grünbein auf das einverständige Kopfnicken humanistisch vorgebildeter Menschen, denen ein paar nostalgische Reminiszenzen wichtiger sind als ein eigenständiger Gedanke. Auch sonst stört, dass den Dingen immer die nächstbeste Bildungsassoziation angeheftet wird, so als säße man im Auffrischungskurs ›Römische Geschichte I‹. Wo die Alpen sogleich an Hannibals Elefanten denken lassen, stellt sich zu Rom unweigerlich die Katakomben-Assoziation ein.«

Das ist doch mal schön festgestellt. Ebenso gut trifft es Helmut Kraussers Anekdote mit der Gedichtmappe, die Grünbein angeblich bei Lesungen dabei hat und auf der in güldenen Lettern stehen soll: »Unveröffentlichtes«.

Das derzeitige allgemeine Unbehagen an Poesie hat sicher auch mit der Stellung von Grünbein zu tun, dem von Gustav Seibt gekürten »Götterliebling« (hehe). Zu welchen Effekten diese Zuschreibung beim Dichter selbst geführt hat, lässt sich schön an einer der komischsten Stellen der Gegenwartsliteratur zeigen. Zitat aus Grünbeins Tagebuch »Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen«. Es geht um die Geburt seiner Tochter:

»Unvergeßlich der Augenblick, als im geöffneten Muttermund sich ein erster Ausschnitt des kleinen Schädels zeigte, mein Frohlocken beim Anblick des dunklen Kopfhaars, fein gesträhnt wie auf den Bildern des Botticelli.« (S. 131)

Legendär ist die Bestürzung von Hellmuth Karasek über diese Passage (in der letzten LQ-Sendung am 14. 12. 2001). Botticelli. Des Botticelli. Darunter macht es Grünbein nicht mehr.

»Wozu ist man Dichter«, stellte Iris Radisch damals belustigt fest.


Thea W. Adorno

Leipzig, 2. Juni 2007, 12:52 | von Paco

Heute morgen lief »Classic-Pop-et cetera« mit Thea Dorn. Sie hat sich ja leider wirklich nach Theodor W. Adorno benannt, und der Witz dabei ist, dass sich Theodor W. Adorno schon nach sich selber benannt hatte.

Als dann der Schluss der Götterdämmerung aus dem Deutschlandfunk herauspolterte, weil Thea Dorn den eben jetzt senden ließ, fiel ich aus dem Bett und schlug mit dem Kopf auf das SZ-Magazin Nr. 17 vom 27. April 2007. Jetzt oder nie entschied ich mich, den Aufmacherartikel von Andreas Bernard doch nicht für die Top-10 vorzuschlagen.

»Mag mein kleiner Schnutziputzi mit seinem Engelfrauchen jetzt HappiHappi machen?« – Das ist eine gute Headline, und sehr viel versprechend führt der Untertitel dann mitten ins Blatt: »Weshalb wir mit unserem Partner oft wie mit einem Kleinkind sprechen – und damit unsere Beziehung ruinieren.«

Die Story selber (Höhepunkt: »Herr Muckenthaler«, Seite 11) ist aber ein Musterbeispiel an nicht eingelösten Versprechungen und hat zum Beispiel mit dem Untertitel nichts mehr zu tun. Hier zeigt es sich, dass es oft besser ist, wenn zuerst die Überschrift da ist, und nur daraufhin der Artikel geschrieben wird.

Laut Gabriel gibt es in der Szene freilich höchstens drei Headliners, die so gute Überschriften schreiben, dass daraufhin auch Artikel an Autoren vergeben werden.


Nominierung eines Artikels

London, 29. Mai 2007, 21:37 | von Dique

Ich moechte hiermit den Peter Richter Artikel aus der FAS 20/2007 vom 20. Mai nominieren, Seite 33, »Alles, was Quark ist«.

Der Artikel ist schoen spritzig geschrieben und deckt sehr gut das Megakunstjahr 2007 mit seinen Documentas, Skulpturenschauen, Biennale etc. perfekt ab.

»Die Schlangen vor den Ausstellungshallen sind also gewissermassen die Verdi Demonstrationen der Mittelschicht.« ist z. B. ein schoener Satz.

Ich habe den Artikel online nicht wieder finden koennen und weise aus diesem Anlass zusaetzlich noch mal auf die unbedingte Ablehnung der F-Zeitung wegen der Benennung der URLs hin.