Wozu ist man Dichter

Leipzig, 8. Juni 2007, 20:53 | von Paco

Sehr gut! Die »Jungle World« hat gestern im Dossier das Grünbein-Kapitel aus Steffen Jacobs‘ »Lyrik-TÜV« abgedruckt:

»Der Götterliebling. Durs Grünbein gilt als bedeutendster deutschsprachiger Dichter. Prüft man jedoch seine Lyrik, kommt man zu einem anderen Ergebnis: pubertäre Sprachklingeleien, Bildungshuberei, verknäulte Syntax, geschwollene Rede.«

Ein sicherer Kandidat für die 2007er Liste. Ein langer Text, der überraschenderweise mit einigen Zitaten aus Amazon-Leserrezensionen beginnt (freilich ein allzu leichtes Opfer für Kritik, aber eben auch ein Quell steter Freude, insofern okay), bevor mit schlagenden Beispielen Grünbeins Poetik recht schön zerlegt wird.

Als ich bei Gabriel vor Jahren eines der in »Sinn und Form« abgedruckten Gedichte aus »Nach den Satiren« entdeckte, fand ich die historisierende Emphase noch ziemlich interessant: »Beim Schlachten im Zirkus, wenn die Hirnschalen krachten,« usw. Warum dieser erste Eindruck aber schnell enttäuscht wurde, beschreibt Steffen Jacobs anlässlich einiger Zeilen des Gedichts »Club of Rome«:

»Erneut setzt Grünbein auf das einverständige Kopfnicken humanistisch vorgebildeter Menschen, denen ein paar nostalgische Reminiszenzen wichtiger sind als ein eigenständiger Gedanke. Auch sonst stört, dass den Dingen immer die nächstbeste Bildungsassoziation angeheftet wird, so als säße man im Auffrischungskurs ›Römische Geschichte I‹. Wo die Alpen sogleich an Hannibals Elefanten denken lassen, stellt sich zu Rom unweigerlich die Katakomben-Assoziation ein.«

Das ist doch mal schön festgestellt. Ebenso gut trifft es Helmut Kraussers Anekdote mit der Gedichtmappe, die Grünbein angeblich bei Lesungen dabei hat und auf der in güldenen Lettern stehen soll: »Unveröffentlichtes«.

Das derzeitige allgemeine Unbehagen an Poesie hat sicher auch mit der Stellung von Grünbein zu tun, dem von Gustav Seibt gekürten »Götterliebling« (hehe). Zu welchen Effekten diese Zuschreibung beim Dichter selbst geführt hat, lässt sich schön an einer der komischsten Stellen der Gegenwartsliteratur zeigen. Zitat aus Grünbeins Tagebuch »Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen«. Es geht um die Geburt seiner Tochter:

»Unvergeßlich der Augenblick, als im geöffneten Muttermund sich ein erster Ausschnitt des kleinen Schädels zeigte, mein Frohlocken beim Anblick des dunklen Kopfhaars, fein gesträhnt wie auf den Bildern des Botticelli.« (S. 131)

Legendär ist die Bestürzung von Hellmuth Karasek über diese Passage (in der letzten LQ-Sendung am 14. 12. 2001). Botticelli. Des Botticelli. Darunter macht es Grünbein nicht mehr.

»Wozu ist man Dichter«, stellte Iris Radisch damals belustigt fest.

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