Vossianische Antonomasie (Teil 20)
St. Petersburg, 31. August 2011, 17:26 | von Paco
- die Karl Mays der Kunstgeschichte
- die Napoleon der Frauenbewegung
- der Rudolf Scharping der Linkspartei
- eine Art islamischer Habermas
- die deutsche Sarah Palin
Er ist promovierter Historiker und Mediziner und arbeitet nun schon seit drei Jahrzehnten an einem ordentlich durchnummerierten literarischen Œuvre. Den größeren Teil seines erwachsenen Lebens dürfte Rainald Goetz aber mit etwas anderem zugebracht haben. Er dürfte irgendwo herumgesessen, herumgelegen oder herumgestanden haben mit einem aufgeschlagenen Feuilleton vor der Nase.
Teleologisch schien dieses Zeitungsleserleben auf den Auftritt in der Harald-Schmidt-Show am 8. April 2010 gerichtet zu sein, als Goetz vor einem Millionenpublikum triumphal die erste Seite des aktuellen FAZ-Feuilletons vorführte und auf sympathische Weise feierte und lobpreiste. Angefangen hat diese manische Auseinandersetzung mit dem Kulturressort der deutschsprachigen Zeitungen aber vor genau 30 Jahren. Damals erschien unter dem Titel »Reise durch das deutsche Feuilleton« einer der ersten Goetz-Texte überhaupt. Er fand sich in der von Hans Magnus Enzensberger und Gaston Salvatore gegründeten Zeitschrift »TransAtlantik«, in der Ausgabe vom August 1981.
Dieses einige Jahre später eingestellte Monatsmagazin wollte sich nach dem Vorbild des »New Yorker« auf große Reportagen spezialisieren, entlang der von Enzensberger ausgegebenen Parole von der »Untersuchung der Wirklichkeit mit literarischen Mitteln«. Der 27-jährige Rainald Goetz ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht der ewige Suhrkamp-Autor, er ist noch erkennbar auf der Suche nach seiner Sprache und den vom Herausgeber angekündigten »literarischen Mitteln«.
Heiliger Bezirk
Der Münchner Medizinstudent, der gerade in der Psychiatrie arbeitet, nutzt für seine geplante Reportage drei Wochen Ferien, um einige der von ihm »bewunderten Herren des Feuilletons« aufzusuchen und persönlich kennenzulernen, als erklärter Fan. Als Zeitungsleser ist man ja sowieso auch erst satisfaktionsfähig, wenn einem die Namen der Journalisten mindestens genauso wichtig sind wie deren jeweilige Themen, wenn nicht wichtiger. Und so schnappt er sich seinen Kassettenrekorder und macht sich auf den Weg zu Wolfram Schütte (»Frankfurter Rundschau«), Wolfgang Ignée (»Stuttgarter Zeitung«), einem ungenannten »Spiegel«-Redakteur, Fritz J. Raddatz (»Die Zeit«), Marcel Reich-Ranicki (FAZ) sowie Joachim Kaiser (SZ).
Die kurzen Ausflüge führen ihn nach Frankfurt, Stuttgart, Hamburg und in den Münchner Norden. Berlin, heute unangefochten die Stadt mit dem höchsten Feuilletonistenaufkommen pro km², ist noch geteilt und weit ab vom Schuss, für ein Porträt des bundesrepublikanischen Kulturjournalismus entbehrlich. Das Feuilleton ist damals auch noch nicht zur diskursiven Allzweckwaffe umgebaut, und so begegnet Goetz vor allem Rezensenten alter Schule, inklusive »Großkritiker« und »Literaturpapst«. Seine Feuilletonhelden haben ihm mit ihren Kritiken vor allem eingeimpft, »dass die Literatur ein heiliger Bezirk ist«.
Und so klingt die Reportage ab und zu noch wunderbar gestelzt, Goetz redet von sich in der dritten Person und tritt stets als »der Besucher« auf. Als solcher lässt er sich von seinen Idolen des Kulturbetriebs begierig die Biografien heruntererzählen, denn eines scheint ihn vor allem zu interessieren: Wie wird man Feuilletonist? Als ihm Reich-Ranicki seinen Tagesablauf schildert, sinniert Goetz: »Von einer solchen Existenzweise, meint der Besucher, kann man nur träumen.«
Zweifel und Dissen
Dabei haben ihn die Besuche bei Schütte (»verquälte Selbstzweifel«) und Ignée (»forcierte Bescheidenheit«) sowie der Klatsch und Tratsch auf seiner ersten Buchmesse erst mal desillusioniert. Begeistert ist er über das Frankfurter Gelände gestapft und hat freudig Hellmuth Karasek und Reinhard Baumgart an sich vorüberhuschen sehen. Aber dann muss er erschrocken in einen Abgrund blicken: »Menschenverachtung beherrscht diesen Betrieb, Neid, Verlogenheit, Größenwahn, Ungerechtigkeit, Anmaßung.« Erst Raddatz wird ihn wieder beruhigen. Das sei doch alles ganz normal. Und am Ende reden sie noch über stilvolle Selbstmorde und alles ist wieder gut.
Auch die Jovialität von Reich-Ranicki und Kaiser holen ihn zurück in die Welt seiner Feuilletonfantasien. Dabei hat er schon noch das Gefühl, abgefertigt zu werden. Kaiser scheint durch ihn hindurchzublicken, und von Reich-Ranicki muss er sich dessen Buch »Zur Literatur der DDR« signieren und schenken lassen. Aber Goetz will kritisch sein, wie man das eben sein muss, und stellt dabei gelungene Coming-of-Age-Fragen: »Aus welchem Impuls heraus schreiben Sie?« Und zwischendurch wendet er ab und zu ordnungsgemäß die Kassetten im Rekorder.
So begann also vor 30 Jahren seine Tätigkeit im feuilletonverarbeitenden Gewerbe. Die Manie ist schon da (wer sonst besucht freiwillig sechs Literaturredakteure?), aber noch will Goetz etwas angestrengt an allem zweifeln, um seine Begeisterung ansatzweise zu relativieren. Trotzdem schimmert hier schon die unbedingte Totalaffirmation des deutschsprachigen Feuilletons durch, die sich später etwa an den täglichen Eintragungen in »Abfall für alle« ablesen lässt, wenn er längst Zweifel durch Dissen ersetzt hat. Für den Autor Goetz ist die intensive Feuilletonlektüre nachgerade überlebensnotwendig geworden. Ohne sie würde er wahrscheinlich seine Bücher auch gar nicht mehr vollkriegen, hehe.
(Dass Goetz beim Bücherschreiben und nicht beim Feuilleton selbst gelandet ist, hat übrigens auch mit dieser frühen Reportage und einem kleinen Disput mit Enzensberger zu tun, siehe R. G., »Kronos«, Suhrkamp 1993, S. 259f.; dazu vielleicht später mehr.)
Werner Herzog, like James Earl Jones before him, could
read the phone book and bring down the house.
— The Guardian
»Was hast du am 11. September gemacht!« Das fragt schönerweise in Russland niemand. Das könnte hier auch kein Mensch mehr beantworten. Stattdessen wird gefragt, gerade in den letzten Tagen: »Was hast du am 19. August gemacht!«
Für 1991, für den Tag des großen dilettantischen Putsches, weiß ich das nicht mehr, aber für 2011 schon noch. Der Freitag beginnt für mich damit, dass ich den aktuellen SPIEGEL zuende lese. Und neben der ganzen FAZ-Verherrlichung hier soll die SPIEGEL-Verherrlichung nicht zu kurz kommen. Was für ein Glück, jede Woche diese süffigen Storys dieses durch Enzensberger’sches Sperrfeuer gegangenen besten Magazins der Welt lesen zu dürfen. Zum Beispiel den bisher besten Verriss des neuen Woody-Allen-Mistfilms »Midnight in Paris«, geschrieben von Georg Diez.
Gerade als ich den SPIEGEL ausgelesen habe, klingelt es an der Wohnungstür. Ein junger Mann wirbt für die baldige Eröffnung eines Gemischtwarenladens »ganz in der Nähe« und möchte aus diesem Anlass ein deutsches Messerset (6.000 Rubel), irgendwelches Hydrogel (100 Rubel) sowie Medizinbälle verkaufen. Wie er die Kartons mit den schweren Bällen hier allein hochgetragen hat, ist mir schleierhaft. Ich zeige mich interessiert und frage, wie der Laden heißt und wo genau er eröffnen wird, aber diese Fragen dürfe er noch nicht beantworten.
Ich gehe dann wie eigentlich jeden Tag hinüber in die Nationalbibliothek, um ein bisschen andere Sachen zu lesen. Ich bin sehr euphorisch, denn die dienstälteste Bibliothekarin im Lenin-Lesesaal hat bei der Buchherausgabe heute mal gelächelt, dezidiert gelächelt. Zur Mittagszeit bin ich zum Essen verabredet und mache mich auf den Weg zu einem georgischen Restaurant gleich hinter der Kasaner Kathedrale.
Anwesend ist zum Beispiel der Literaturkritiker einer russischen Wirtschaftszeitung (»immer 3.000 Zeichen pro Artikel«). Vor ihm steht ein Salzfass, das irgendwann mit lauter Plötzlichkeit umkippt und tot auf dem Tisch liegt. Alle haben erschrocken hingesehen, trotzdem vermute ich, während ich eine große Portion Plov verspeise, dass verschüttetes Salz vielleicht doch kein international anerkanntes schlechtes Omen ist. Vielleicht ist es ja in Russland wieder mal genau umgekehrt, keine Ahnung, aber siehe das Sprichwort »Что для русского хорошо, для немца смерть.« Denn der Literaturkritiker stellt das Fass wieder hin und wirft es dann absichtlich noch einmal um, und noch einmal und noch einmal. Alle sehen ihm immer weniger erschrocken dabei zu, und er kichert nur in sich hinein und murmelt Unverständliches.
Nach weiteren anderthalb Stunden oder so in der Bibliothek treffe ich an einem der Deschurnaja-Schalter einen Althebraisten, mit dem ich ins Gespräch komme, das wir auf dem teilweise identischen Nachhauseweg fortsetzen. Auf der Lomonossowbrücke trennen sich die Wege, aber wir bleiben dort noch ein paar Minuten stehen und erzählen weiter, und während dieser paar Minuten vergrößert sich unsere Unterhaltung um sechs bis acht Teilnehmer, allesamt Bekannte, die man auf der Lomonossowbrücke irgendwie ständig trifft (there is something about this place). Und dort wird auch für irgendein Festival geworben, das am Abend in der ›Taiga‹ stattfinde, so einem neuen Art Space am Newaufer, Nähe Eremitage.
Dort kreuze ich dann ein paar Stunden später auf und treffe als erstes den Franzosen wieder, der mich vor ein paar Tagen gefragt hatte, ob sie Raskolnikow am Ende noch drankriegen. Inzwischen habe er seine Lektüre von »Schuld und Sühne« beendet, und zwar zornig beendet, denn der Epilog sei ja wohl das Allerhinterletzte, völlig unnötig, schlecht geschrieben, wahrscheinlich gar nicht von Dostojewski selber. Ich pflichte ihm bei usw., und kurze Zeit später schon unterhalten wir uns aus mir nicht mehr nachvollziehbaren Gründen über die Kathedrale von Auxerre.
Dann wird zur Filmvorführung gerufen, es gibt Kurzfilme zu Umweltthematiken, also okay, als erstes einen Film namens »Plastic Bag«. Das Leben einer Plastiktüte wird nacherzählt, sie gelangt via Supermarkt in einen Haushalt, wird irgendwann weggeworfen und vom Wind durch alle möglichen Weltgegenden getragen, ohne zu sterben. Soweit die Botschaft dieses kurzen Films.
Was mich aber erst irritiert, dann sofort in den Bann schlägt, ist: die Stimme von Werner Herzog! Dieses ewige eindringliche Raunen, dieses sehr gewählte Vokabular, dieser Wille zu einem Englisch mit dezidiert deutsch-deutschem Akzent. Nach den letzten Wochen russischer Totalinvasion meines Hirns ganz unerwartet das. Die Stimme von Werner Herzog erinnert mich an eine Million Dinge gleichzeitig. Unter anderem daran, dass ich in Leipzig mal einen Werner-Herzog-Imitations-Wettbewerb gewonnen habe, mehr als drei Jahre ist das jetzt her.
Nach knapp 20 Minuten Filmdauer trete ich benommen wieder ans Licht und höre irgendjemanden über Petersburger Leitungswasser diskutieren (siehe das Sprichwort von vorhin) und rede dann mit einem der Editoren der Werke Dmitrij Prigows über die genaue Anzahl der von ihm verfassten Gedichte, es waren ja zwischen 35.000 und 36.000, aber eine genaue Zahl würde hier natürlich weiterhelfen.
Kurz nach 23 Uhr höre ich jemanden in einer slowenisch-russisch-französischen Diskussionsrunde zum ersten Mal das Wort ›Foucault‹ aussprechen. Ich habe in den letzten Tagen damit begonnen, eine Liste zu führen, auf der ich für den jeweiligen Tag dessen Ersterwähnungsuhrzeit verzeichne. Hier die Übersicht mit den Erstnennungsuhrzeiten des Namens ›Foucault‹ bis Freitag (Liste wird fortgesetzt):
Mo: 17:15 Uhr
Di: 21:36 Uhr
Mi: 15:50 Uhr
Do: (keine Erwähnung)
Fr: 23:03 Uhr
Etc. etc. etc. Ein paar Orte und Leute später finde ich mich in einer Wohnung am Zagorodny Prospekt wieder, wo ein paar Leute (ich nicht) zum Beispiel den Film »The Raspberry Reich« schauen und die ganze Zeit heftig lachen, während im selben Zimmer jemand am Klavier Beethoven spielt. Bei der Flucht in einen anderen Bereich der Wohnung bemerke ich im Flur zwei Medizinbälle sowie ein noch unausgepacktes Hydrogel.
Gegen acht Uhr morgens gehe ich kurz nach Hause in die Galerie, um ein paar alte Zeitungen zu holen, die mir eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts gestern überlassen hat, und mache mich dann sofort wieder auf den Weg zur Metro, denn ich habe beschlossen, der Einladung eines Opernsängers und seiner Frau auf ihre Datscha am Suvanto-See südlich der Mannerheim-Linie zu folgen.
Ich fahre bis Devyatkino, wo ich in die Elektritschka Richtung Norden umsteige. Ich setze mich zwischen lauter dösende Russen und schlage die Zeitung auf und entdecke sehr ungläubig Schirrmachers ein paar Tage vorher erschienenen FAS-Großtext »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat«, den ich dann sehr angelegentlich lese.
Konferenzreisen im Sommer sind abzulehnen. Ebenso sind Konferenzreisen an langweilige Orte abzulehnen. Eng wird es (ums Herz, und weit der Weg nach Hause), wenn man gegen beide Axiome auf einmal verstößt, so wie vor genau einem Jahr, als man mich nach Spanien geschickt hatte. Und diesmal schwebte ich zwecks eines eingeladenen Vortrags über vorauszusehende Anstrengung und unerwartete Leichtigkeit beim Hörverstehen vermittels zweier baugleicher Bombardier CRJ900 mit den klingenden Namen »Tuttlingen« und »Wittlich«, quasi als weltgeschichtliche Einstimmungsmeditation, faul übers Meer nach Dänemark ein.
(Aus Tuttlingen gibt es nur die großen Holz-Oszillatoren der Weltmarke HOHNER zu vermelden, ach nein, das war Trossingen; und Wittlich hat sich meiner Kenntnis nach auch nur durch das wahrlich die falschen Assoziationen weckende Foto des dort zu Tode gekommenen Extrem-Dialektikers Holger Meins verdient gemacht; aber das denke ich bestimmt, weil ich mich mit einer taxonomisch gehaltenen Monografie über Lufthansa-Fluggerät-Namen und deren Querbezüge – Intertextualität; wenn Sie wissen was ich meine – zum israelisch-palästinensischen Konflikt habilitieren werde.)
Aber Dänemark? Dies fragen sich sicherlich auch die dort Verantwortlichen, und machen deshalb ihre Grenzen wieder dicht, auf dass nur keiner komme, um allen zu erzählen, wie langweilig es hier ist.
Noch im deutschen Luftraum konsultiere ich meine speckige Ausgabe des Weltweisen Henning Ritter: Irgendwas über Dänemark? Irgendein Aperçu über diese Hamlet-Maschine! Nichts. Genauso wenig halten die beiden Psychopharmakologen und Volkswirtschaftler Kracht–Woodard es für nötig, in ihrem neuen Standardwerk ihren Studenten den Geld- oder Drogenmarkt ausgerechnet Dänemarks zu erklären; wer würde dies auch wollen, und wozu: Der dänische Hotdog zu inflationsbereinigten 14 Euro, den ich bei meinem letzten Stopover, wenigstens im Frühjahr, auf mein Gepäck wartend verzehrte, illustriert beide Hauptthemen des Werkes ausreichend. »Denmark won’t be that hot«, beschwichtigt eine Nonne einen Amerikaner vieldeutig im Flughafenbus.
Seien Sie ehrlich: Sie alle sind kulturbeflissene Leser des Feuilletons, und Olafur Eliasson mit seinem Budenzauber hat Ihnen doch auch gefallen; aber was fällt Ihnen denn sonst Schönes, Spannendes ein zu Dänemark? Ach, in das Land des Lars von Trier wolle sie so gerne auch einmal reisen, schrieb eine Kollegin. Den könne man mit Hilfe von viel Sekundärliteratur schon sehr genießen, und er habe einen intellektuellen Anspruch, und präsentiere viele Bezüge zur Kunst- und Filmgeschichte. Da wollte ich gleich noch ein wenig weniger aufbrechen nach Kopenhagen, Nyborg Strand, die große Leerstelle im Norden. ›Nahost‹ möchte mein Intelligenz-Telefon lieber schreiben, anstatt ›Nyborg‹, als wüsste es, wie viel Spaß der nahe Norden verheißt.
Wie in jedem guten Reiseführer hier noch schnell die größten Kulturleistungen meines freundlichen Gastlandes: Erstens, Bjarne Riis, ein Situationist der letzten Stunde, krampfte sich 1996 an einem Radlenker fest und fuhr mit dünnem Resthaar und Sirup im System sehr steile Berge sehr schnell hinauf. Zweitens, »The Sods«, eine lokale Punkband, die ihren Namen schon von einer anderen Punkband stehlen mussten, um der Namenlosigkeit zu entgehen, nahmen circa 1979 mit mesmerisierend verstimmter Bassgitarre einen völlig unbekannt gebliebenen Monster-Reggae-Hit auf, den sie wiederum nach ihrer ja sonst nichts geschenkt bekommenden Hauptstadt benannten und dem sie als Schlusschor das eingängige Quadrupel »Copenhagen Cancer City Kill« mitgaben. Drittens, irgendetwas Ihrer Wahl mit Niels Bohr oder Hans Christian Andersen.
Ein freundlicher junger Mann mit einem dieser Islamisten-Bärte – er trägt eine teure Sonderedition eines Ralph Lauren-Polohemds – murmelt im Zug nach Nyborg famos zu seinem Nachbarn: »It’s funny, when I hear the words, I can remember them«, und ganz ähnlich geht es mir jetzt nach der Ankunft mit diesem Land, mir fällt das Schöne plötzlich wieder ein, wie ich es so sehe; die weiten Flure, die schlichten Sessel, und, wenn Sie es bitte niemandem weitersagen: auch der Blick aufs Meer. Und natürlich wird es hinterher wieder eine prima Tagung gewesen sein, die Hörforschung und ich werden wieder Freunde sein, und Dänemark wird sich wieder seinen Grenzen und seinen Karikaturen widmen können – aber: nicht mehr hier, und nicht mehr im Sommer. Fahren Sie dort bitte niemals hin.
Aus der Redaktion · Gerade eben ist als Nr. 105 der »Schöner Lesen«-Reihe des SuKuLTuR-Verlags dieser Band erschienen:
Der Louvre in 20 Minuten
Frank Fischer · Berlin · SuKuLTuR · 2011
20 Seiten · 1,– € · ISBN 978-3-941592-26-1
Veröffentlicht unter der CC by-nc-sa 3.0 DE
Bestellen: Verlag | buchhandel.de
»Was in Frank Fischers neuestem Band über den Louvre gesagt wird, hat mich sehr nachdenklich gestimmt.«
— Christian Kracht
Inhalt
Denon-Flügel … Seite 3
Sully-Flügel … Seite 13
Richelieu-Flügel … Seite 15
Als sozusagen Vorwort eignet sich sehr gut der grandiose FAZ-Artikel von Julia Voss über die bevorstehende Leonardo-Ausstellung in der National Gallery in London: »4 Minuten, 17 Sekunden«.
Ach so, »Der Louvre in 20 Minuten« ist wie üblich auch in einigen Süßwarenautomaten in Berlin und auf Sylt zu haben sowie direkt und ohne Bestellung in Buchhandlungen in Leipzig (Lehmanns in der Grimmaischen Straße 10) und Berlin, siehe diese Übersicht.
Dem »Tractatus« nähert man sich am besten durch die Türen des Hauses, das Wittgenstein für seine Schwester in Wien baute. Die Türen sind sehr hoch und aus Glas und Metall. Kühl und erhaben weht uns aus ihnen die Abstraktion entgegen, und so eingestimmt und ergriffen ziehen wir das rote Suhrkamp-Bändchen aus der Tasche und lesen den ersten Satz: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.«
Das klingt erst mal sehr nachvollziehbar. Allerdings geht es dann weniger um die Welt als um deren Abbildung. Um Reinheit der Logik und Aussonderung des Bedeutungslosen, um Sagbares und endlich im letzten Satz um das, »wovon man nicht sprechen kann«.
Der »Tractatus« war 1918 vollendet und erschien 1921. Sein verständigster Leser wäre vielleicht nicht Bertrand Russell, sondern Kafka gewesen. Hätte Wittgenstein ihm doch eine Abschrift geschickt, als kaiserliche Botschaft und Traum von Träumer zu Träumer! Schon die Gewichtung der Sätze durch Zahlen hätte Kafka gefallen: endlich mal Ordnung im existenziellen Zores. Und die Idee, eine lange, komplizierte Deduktion aufzubauen, die sich am Schluss als unsinnig erkennt und selber wegstößt wie eine Leiter, hätte ihn entzückt.
Später schwor Wittgenstein dem System ab und erreichte nie mehr eine so lässige Selbstwahrnehmungshöhe: »Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben«, schrieb er im Vorwort zum »Tractatus«. Diese Überzeugung besäßen wir auch mal gern, und sei es nur an unserem Todestag. Großer Seufzer.
Das Wiener Haus sollte 1971 abgerissen werden. Gerettet hat es die Volksrepublik Bulgarien. Sie nutzte es als Kulturinstitut, ließ es aber, wie es war: leer. Man kann es durchwandern, die Architektur auf sich wirken lassen und die weltberühmten Türklinken drücken. Und darüber nachdenken, was alles der Fall sein kann.
Ludwig Wittgenstein: Logisch-Philosophische Abhandlung. In: Wilhelm Ostwald (Hg.): Annalen der Naturphilosophie 14 (1921), S. 185–262. (= 78 Textseiten)
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logicophilosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Der Moment des Sommers. In der ersten Pause von Stefan Herheims genialischer »Parsifal«-Inszenierung: Eine Dame in Abendkleid bückt sich im Park und trägt, durch Mitleid wissend, eine Schnecke von der Mitte des Weges ins Gebüsch.
Je crois qu’il est très important de comprendre que la
France est simultanément le pays des révolutions
et une grande terre de la réaction.
Alain Badiou
»No, I have never been there, this is my first time in Europe, but I heard it is absolutely gorgeous!«, meint Steve, der mir im TGV von München nach Paris gegenübersitzt. Steve kommt aus Miami, hat gerade das College hinter sich und ist auf großer Europatour. München habe ihm, nach Berlin natürlich, am besten gefallen, nur seien die Bayern so unfreundlich gewesen. »A friend of mine told it is even worse in France. He said that the French always answer you in English, even if you try to speak their language.«
Das stimmt natürlich beides nicht. Wie so oft wollte hier jemand einem Davonreisenden aus purem Neid mit einem touristischen Vorurteil Angst einjagen. Denn die Pariser sind in den letzten Jahren zum Beispiel extrem zutraulich und sehr, sehr freundlich geworden, vgl. Gumbrecht 2010.
Wenn man so den Artikel »Charming Paris. Quand la Cité devient parc à thème« von Benoît Duteurtre liest, in der Augustausgabe von »Le Monde diplomatique«, könnte man allerdings meinen, Steves Freund habe doch noch Recht. Der mürrische Autor behauptet da nämlich, dass man in Paris einfach nicht mehr leben könne, besonders in den Sommermonaten sei es unmöglich. Die Attitüde kultureller Überlegenheit, wenn die amerikanischen Touristen sich anmaßen, jemanden mit »Parlez-vous anglais?« anzusprechen, aber auch die englische Ausschilderung der Sehenswürdigkeiten, all das vermiest Duteurtre reichlich den Sommer. Nur auf Kitsch seien die Touristen aus, das wahre Paris bleibe ihnen allen ja verborgen, es mangele einfach an touristischer Ernsthaftigkeit.
Dieses ewige autochthon-antitouristische Lamento hätte natürlich genau so schon in den letzten 50 Jahren erscheinen können. Gott sei Dank beobachte ich wenig später am Gare de Montparnasse eine amerikanische Familie in Abercrombie & Fitch-Aufzug, die, nach reiflicher Vorbereitung mit einem Wörterbuch, belegte Baguettes bei »Paul« bestellt. Die Verkäuferin antwortet dabei ganz langsam auf Französisch, zum Schluss wünscht sie ihnen sogar noch einen schönen Sonntag!
Dann lese ich noch den Artikel »Dans le laboratoire de l’écolo-bourgeoisie« von Olivier Cyran über die Grünen, in der Hoffnung, dass die Deutschen vielleicht ein bisschen besser wegkommen. Leider glaubt Cyran, dass Karl-Theodor zu Guttenberg der FDP angehört, und das sind leider nicht mal Breaking News. Das kommt einfach davon, dass man die Praktikanten die ganze Arbeit machen lässt, ähnlich wie ja schon letzten Sommer, als »Monocle« so schön vom Münchner Transrapid geschwärmt hat.
Und dann habe ich in Steves neuer Ausgabe des »Lonely Planet« noch gelesen, dass ausdrücklich davor gewarnt wird, sich in Paris in die Nähe der Rue d’Ulm zu begeben. Dort verbrennen nämlich aufständische französische Intellektuelle Abercrombie & Fitch-Sweater, man fürchte, dass sich die Aufstände ausweiten.
236. auf internationalem Parkett
237. macht dabei stets bella figura
238. einmal mehr unter Beweis gestellt
239. gilt längst als ernst zu nehmende Größe
240. ist kein Kavaliersdelikt
Sommerzeit. Reisezeit. Die Welt trifft sich in Venedig. Am Eindrucksvollsten darauf eingestellt war der Akkordeonspieler auf Torcello, der seine Musik nach der Nationalität der Passanten ausrichtete; ich bekam »Mein Hut, der hat drei Ecken« ab, die französische Familie vor mir »Frère Jacques«, hinter mir hörte ich dann »O sole mio«.
Gesperrt wegen Bauarbeiten waren in der Galleria dell’Accademia die Säle 5 & 6 sowie 8 & 9 & 11 & 21 und auf San Giorgio Maggiore das Refektorium. Nichtsdestotrotz hier die Top drei Tintoretto-Gemälde in Venedig nach Meinung des Umblätterers:
1) Scuola di Gran Rocco: Die Versuchung Christi. Is it a girl? Is it a boy?
2) Accademia: Der Traum des Heiligen Markus. Als hätte Tintoretto einen Workshop bei El Greco belegt.
3) Madonna dell’Orto: Der Tempelgang Mariens. It’s showtime …
Und die ganze Verzweiflung, die ein Kultururlaub in der Ferne auslösen kann, sie trifft den sehr jungen, strahlend schönen Schwulen, der als ein Objekt seiner selbst durch die Galleria streift, ganz allmählich seinen All-American Parents hinterher; vor Tintorettos »Vertreibung aus dem Paradies« hört man sein unendlich gequältes, leises Jaulen: »Oh no, my camera is dying.«
Zur Phänomenologie des Museumsbesuchers ist zu sagen – den deutschen Kultur-Touristen erkennt man in italienischen Museen neben den Kommentaren (»Haben wir gestern nicht auch eine Verkündigung von Veronese gesehen? Oder war das Bellini?«) sehr gut an der langen Leinenhose. Seit wie vielen Auflagen postet der Baedeker eigentlich schon sein gusseisernes Kleidungsgebot, dass niemals Italiener es wagen würden, in Sommerbekleidung eine Gemäldegalerie zu betreten? Machen sie doch, und zwar zahlreich. Vielleicht kann man das im Text ja mal ändern bei Gelegenheit, das wäre ein guter Beitrag zur allgemeinen Sommerfrische.
Ansonsten bin ich dreimal von japanischen Reisegruppen auf der Terrasse beim Frühstück fotografiert worden, und am letzten Abend tobte ein Gewitter über der Stadt, zweimal schlug der Blitz in Palladios San Giorgio ein, und eine geschmackvoll gekleidete ältere Dame, von der ich schwören könnte, es war Donna Leon, öffnete zaghaft ihre Haustür und hängte den Müllbeutel an den Knauf.