Archiv des Themenkreises ›taz‹


Fußball-Feuilleton (Teil 1):
Die beste Stadionzeitung zur Fußball-EM

Konstanz, 23. Mai 2008, 07:19 | von Marcuccio

Fußball-Paralipomena gibt’s heutzutage eigentlich überall, und wohl spätestens das Masern-Szenario im letzten »Spiegel« (20/2008, S. 44) macht klar: Zwar ist die »Euro 08« noch lang nicht angepfiffen, aber trotzdem (oder gerade deswegen) läuft der Nachrichtenzirkus längst rund.

So kommt mit jedem Turnier wieder dieses Festival der Meldungen, die die Welt nicht braucht und doch ganz gerne feiert. Mein liebstes Genre ist ja die Großveranstaltungs-Apokalyptik: Neulich zum Beispiel gingen der Schweiz schon die Kartoffeln für die Stadionpommes aus, davor die Pelle für den Cervelat … (und wer erinnert sich nicht noch an diesen ominösen Stadiontest, mit dem die Stiftung Warentest vor 2 Jahren sogar dem Bundesinnenminister ein Statement abrang, vor allem aber Franz Beckenbauer die legendäre Empfehlung, man solle sich doch besser um »Gesichtscremes, Olivenöl und Staubsauger« kümmern …).

Für alle, die in den nächsten Wochen da wieder mittendrin statt nur dabei sein wollen, empfehle ich heute mal die Original-Veredelungs­rubrik dieser Euro 08 im Feuilleton: die »Eurokolumne« der taz.

Die sympathische Serie erscheint immer wieder samstags (hier die Folgen I, II, III, IV, V, VI, VII zum Nachklicken) und ist allein schon wegen ihres ebenso simplen wie genialen Drehbuchs originell: Tobi Müller (CH) und Ralf Leonhard (A) zählen den Euro-Countdown im wöchentlichen Wechsel von der Gastgeberseite her runter und sortieren, stilisieren, zelebrieren dabei EM-Notizen, was das Zeug hält.

Daneben schlagen die beiden nativen Korrespondenten aber auch über den Fußball hinaus schöne Flanken aus der Tiefe des deutschsprachigen Raums, Flanken, auf die ich – als Umblätterer mit Euregio-Einsitz – natürlich noch zurückkommen muss und werde. Just for fun also ab sofort eine kleine Eurokolumnen-Eskorte mit allen Toren, den schönsten Szenen und Hintergründen zum Spiel.


Nachträglich zum Achtzigsten:
Die Klaus-Heinrich-Charts

Leipzig, 27. März 2008, 21:32 | von Paco

Am 23. September 2007 wurde Klaus Heinrich 80 Jahre alt. Also der Mensch, der das aus dem Blick geratene Altertum so vergegenwärtigt, dass die Philosophie des 20. Jahrhunderts daneben zuweilen alt aussieht (Stichworte: Heidegger, Strukturalismus).

Seine Dahlemer Vorlesungen waren eine derartige class of their own, dass die gesammelten Vorlesungsmitschriften eben auch »Dahlemer Vorlesungen« heißen dürfen, selbst wenn Heinrich und die Herausgeber der Reihe anfangs Zweifel hatten, ob dieser Titel nicht zu sehr nach Provinz klinge (›nie aus Dahlem rausgekommen‹ oder so, was ja letztlich auch stimmt, Henning Ritter nennt es schönerweise »intellektuelle Sesshaftigkeit«).

Alle überregionalen Feuilletons, die etwas auf sich halten (also alle außer »FR« und »Welt«, hehe), haben Klaus Heinrich mit einem Gratulationsartikel Respekt gezollt. Alle 4 Beiträge sind sehr gut, und deshalb werden sie hier zwar gerankt, aber wie (sagen wir mal:) Koransuren der Länge nach angeordnet, nicht unbedingt nach inhaltlichen Kriterien:

1. FAZ (Henning Ritter)
2. TAZ (Cord Riechelmann)
3. ZEIT (Klaus Hartung)
4. SZ (Thomas Meyer)

Jeder der Artikel ist mehr oder weniger zweiteilig. Erstens wird der Konnex zwischen Heinrichs Biografie und der Geschichte der Freien Universität in Berlin-Dahlem hervorgehoben; zweitens werden Heinrichs Forschungen zum »Verdrängten der Philosophie« beschrieben, einschließlich der Erwähnung des »eigentlichen Hauptwerks«, den nach studentischen Mitschriften und Tonbandaufnahmen edierten, bei Stroemfeld erscheinenden »Dahlemer Vorlesungen«, die auf ca. 40 Bände angelegt sind.

1. FAZ

Henning Ritter: Die lange Lehre zum kurzen Protest. In: FAZ, 22. 9. 2007, S. Z1-Z2.

Den meisten Platz räumt dem Jubilar die F-Zeitung ein, der Aufmacher der Beilage »Bilder und Zeiten« belegt ganze zwei großformatige Seiten! Auch das Foto auf der zweiten Artikelseite ist hervorragend: Klaus Heinrich vor einem Bücherregal, im Hintergrund schimmert u. a. das »Lexikon der alten Welt« heraus, das er in seiner Vorlesung »arbeiten mit ödipus« der Benutzung nur mit Vorsicht anempfiehlt. Es steht dann also trotzdem in Griffnähe bei ihm im Regal wie ein Beispiel seiner intellektuellen Redlichkeit, sehr gut.

Im Text selber holt Henning Ritter ganz weit aus und beginnt mit Walter Benjamin, mit der Benjamin-Rezeption der frühen 60er-Jahre, »noch bevor die Schlachten um den Marxisten Benjamin entbrannten, von dem man [damals] noch nichts wusste«. Außerdem werden sehr plastisch die Stellungskämpfe um den sozialwissenschaftlich ausgerichteten »Fachbereich 11« rekapituliert, in die neben Heinrich vor allem Peter Szondi und Jacob Taubes verwickelt waren.

Ritter beschreibt auch am ausführlichsten die Faszination der vorwiegenden Mündlichkeit der Lehre: Heinrich hielt seine Vorlesungen stets ohne Stichwortzettel oder Manuskript und betrieb trotzdem »detaillierte Exegesen zu griechischen Mythen, zu frühneuzeitlicher Wissenschaft, zu Kantischer oder Hegelscher Philosophie oder zu Heidegger«.

2. TAZ

Cord Riechelmann: Die Chance des Verschwindens. In: die tageszeitung, 22./23. 9. 2007, S. 20.

Auch die »taz« ist großzügig und spendiert eine ganze Seite ihres Feuilletons. Cord Riechelmann legt den Schwerpunkt auf Heinrichs Apotheose einer unabhängigen Universität. Sein gleichzeitiges Schulterzucken ob der Tatsache, dass auch die Universität inzwischen von ökonomischem Denken durchwirkt ist, hat damit zu tun, dass diese Institution für Heinrich auch nur episodischen Charakter hat als Ort einer (von ökonomischen Zwängen freien) unabhängigen Wissenschaft.

3. DIE ZEIT

Klaus Hartung: Denken, sprechen, anklagen, besser machen. In: Die Zeit, 20. 9. 2007, S. 56.

Der »Zeit«-Artikel legt den Schwerpunkt ein wenig auf das Verhältnis von Heinrichs Habilitationsschrift »Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen« (1964) und den Studentenprotesten, die ja bekanntlich in die Gewalt mündeten. Wobei es Heinrich eben auch immer wieder darum gegangen sei, die »Blutseite philosophischer Abstraktionen« aufzudecken. Auch Klaus Hartung beschreibt lebendig die Vorlesungsatmosphäre und darüber hinaus das Phänomen, dass Heinrich bei der Wirkmacht seiner Gedanken doch so »verfügbar entzogen« sei, so »präsent verborgen«.

4. SZ

Thomas Meyer: Der ewige Wissenstrieb. In: SZ, 22./23. 9. 2007, S. 14.

Trotz der Knappheit seines Artikels gelingt es Thomas Meyer, die Eigentümlichkeit von Heinrichs Denkstil zu umreißen und die wilden Jahre an der FU zu evozieren. Sogar seine spätere Rivalität zu Taubes kriegt einen Satz ab: »Dass dies [Heinrichs Forschungen] etwa beim philosophierenden Kollegen Jacob Taubes, der in allem das Gegenteil von Heinrich war, wütende Ausfälle provozierte, gehört zur Geschichte der produktiven Jahre der Freien Universität.« Auch Meyers Text ist wie die anderen Text da am stärksten, wo er Heinrichs Lehrumgebung, die FU, anekdotisch wieder aufleben lässt.


Das Uefa-Cup-Finale von Leipzig

Konstanz, 13. März 2008, 11:58 | von Marcuccio

Für alle Fans des Feuilleton-Sports wird dann heute nachmittag erst mal der Uefa-Cup der deutschen Buchpreise ausgetragen. Das war übrigens schön, wie Wiebke Porombka in der taz das Standing der konkurrierenden Buchmesse-Awards (Frankfurt vs. Leipzig) mal so beschrieb:

» (…) der ›Preis der Leipziger Buchmesse‹ (…) gilt hinter vorgehaltener Hand eher als Uefa-Cup-Teilnahme. Entspannen wir uns also ein bisschen bis zur Frankfurter Champions League, die im Oktober 2008 ausgetragen wird.«

Wobei so ein Uefa-Cup ja durchaus auch mal mehr Qualität bieten kann als ein vermeintlich hochkarätiges CL-Finale: Wir alle erinnern uns an 2003, als es bei Juve gegen Milan auch nach 90 Minuten plus Verlängerung immer noch 0:0 stand (gähn). Rein von der Aufstellung (keine Julia Franck II, kein Arno Geiger IV) steckt dieses Leipziger Shortlist-Finale heute sowieso schon voller Überraschungen. 16 Uhr wissen wir mehr.


Walsers Propaganda-Krawatte

Konstanz, 5. März 2008, 07:16 | von Marcuccio

Letzten Freitag war Krawattentag im deutschen Feuilleton, denn in Weimar, bei einem der kollektiven Betriebsausflüge letzte Woche, hatten se dann doch so intensiv in Walsers Krawatte gelesen, dass der Perlentaucher tatsächlich sinnig titelte:

»Heute in den Feuilletons: Giftig hellblaue Muster«

Konsequenterweise hätten die Perlentauchers bei der Gelegenheit aber auch gleich mal wieder von ihrer neuen (zuletzt bei Isabella Rosselinis »Green Porno« angewandten) Sitte der illustrierten Presseschau Gebrauch machen müssen.

Krawatten-Exeget der Stunde war Dirk Knipphals, der im Perlentaucher nicht nur ausführlich zitiert wurde sondern, sich seiner neuen Verantwortung als führender Krawatten-Experte des deutschen Feuilletons bewusst, am Tag drauf sogar noch mal nachlegte und in der taz vom Wochenende (S. 18) berichtigte:

»Von wegen anarchisch, nur weil ihre Farben etwas giftig waren. Der Schluss war ohne Blick auf ihren Zipfel gezogen: Da prangte, passend zur Lesung aus einem Roman über den alten Goethe, dieser höchstselbst beziehungswiese seine Silhouette nach dem berühmten Gemälde von Heinrich Tischbein ›Goethe in der Campagne‹«.

Witzigerweise heißt das Tischbein-Gemälde ja eigentlich »Goethe in der Campagna«, aber Knipphals soll sich ja nicht noch mal berichtigen müssen, und Campagne mit »-e« passt zu Walsers Propaganda-Schlips natürlich auch, hehe.


Wie ich mal wieder die taz las

Konstanz, 4. März 2008, 07:56 | von Marcuccio

Als ich einem Kumpel vor ein paar Jahren erzählte, dass ich genauso gern wie die FAZ eigentlich nur noch die taz läse, runzelte er die Stirn. Komischerweise machen die Leute das öfter, wenn ich das erzähle. Weil ich die taz nur reziprok so häufig wie die FAZ zur Hand habe, kaufte ich mir am letzten Sonntag mal wieder eine Ausgabe. Vier Beobachtungen und ein Fazit auf Basis der Wochenend-Ausgabe vom 1./2. März:

Die Titelseiten sind ein Spiel

Es fängt taz-typisch, taz-gefällig mit politischer Farbenlehre an: Ein Rubik-Zauberwürfel mit allerlei schwarz-grüner Unordnung obenauf, aber auch rot-grün-gelb an den Seiten. Dazu die hübsche Bildunterschrift »Noch ein Dreh, und alles sieht schon wieder ganz anders aus.«

Großes Thema dieses taz-Wochenendes ist also die Balz der Hamburger CDU mit den Grünen. Im Innern (S. 4/5) ein distanzierter Hintergrundbericht zur Entscheidung der Grünen, mitzuflirten (Motto: »Die Basis nickt das ab«) und ein Worst-Case-Szenario mit Paul Nolte im Interview (»Es gibt ein schwarz-grünes Projekt«).

Im Wirtschaftsteil (S. 9) labt sich jeder F-Zeitungs-Leser an den erfrischend flapsigen Unternehmensnachrichten: »McDonald’s macht jetzt auf fair und bio.« Auf der Seite »Meinung und Diskussion« (S. 11) scheint ein Hintergrund-Kommentar von Raul Zelik zur »Vergifteten Nachbarschaft« zwischen Kolumbien und Venezuela schon allein deswegen interessant, weil er, um mit Oliver Gehrs zu sprechen, mal nicht Medien-Mainstream ist.

Ritter Sport schmeckt nicht jedem

In den Leserbriefen, die erwartungsgemäß »leserInnenbriefe« heißen, setzt es Ärger: Offenbar hatte sich die taz erlaubt, »zu hymnisch« über die Firma Ritter Sport zu berichten, und das ist …

»(…) eine arge Zumutung für Lesende, die seit Jahren fair produzierte Bio-Schokolade in nicht quadratischer Form genießen« (S. 12)

Doch die taz wäre nicht die taz, wenn es dafür keine redaktionelle Wiedergutmachung gäbe: Auf der allerletzten Seite, der Genossen-Seite (»taz muss sein«), werden unter dem Stichwort »Fairführt« (und expliziten Bezug auf die Ritter-Sport-Geschichte) ökologisch korrekte und fair gehandelte Schokoladenhersteller wie Rapunzel oder Gepa bedacht.

In der tazzwei dann ein sehr schönes, doppelseitiges Reisefeuilleton mit S/W-Fotos aus Sils-Maria (S. 16/17), eines von der Sorte, wie man es als Kulturklatschmensch schon allein deshalb schätzt, weil man sich spätestens beim nächsten Engadinbesuch dann doch wieder ganz genau dafür interessiert, in welchem Chalet Annemarie Schwarzenbach nun noch mal mit Erika und Klaus Mann gekifft hat.

»Leibesübungen« gibt’s nur mit Daily Dope

Im legendär überschriebenen Sportteil der taz gefällt der sympathisch offensive Umgang mit dem offensichtlichen Mut zur Lücke: »Was alles nicht fehlt« – so sind die wenigen Meldungen überschrieben, hehe. Zukünftige Umblätterer-Praktikanten könnten die sporadisch-zufälligen Sportnachrichten doch glatt mal zum Ausgangspunkt nehmen, um uns über die Lieblings-Leibesübungen der taz-Redaktion aufzuklären (Sport-Idole setzen wir erst kaum voraus, denn das könnten ja allenfalls Fußballtrainer vom Schlage Hans Meyer sein).

Außerdem gibt’s eine Rubrik namens »daily dope«, Folge 263 – werden hier also tatsächlich tagtäglich Meldungen zum Thema Doping aufbereitet? Im Vergleich zu den Blutbeutel-Beichten im »Spiegel« ist so eine nachrichtliche Daily Soap natürlich echtes, konsequentes Trockenfutter. Damit bin ich jetzt endlich bei den fünf Seiten Food-Feuilleton im tazmag:

Eine Seite davon ist echtes Supermarkt-Feuilleton: Gina Bucher vergleicht so naja das Einkaufen bei Galeria Kaufhof, bei der LPG BioMarkt und auf dem Wochenmarkt. Schade finde ich allerdings, dass an die ganz normalen Supermärkte in Deutschland offenbar erst gar keine Ansprüche mehr gestellt werden. Und dann kommt noch ein echtes Highlight zum Schluss:

Warum die taz nicht an Bord der Lufthansa darf

Das kann man auf der schon erwähnten Seite »taz muss sein« nachlesen. Hier ist nämlich nicht nur Platz für den schokoladigen Sündenablass vor den taz-Genossen; hier wird auch knallhart am eigenen Mythos weitergeschrieben. Ein Foto mit winkender Retro-Stewardess erklärt uns die taz als Flugbegleiterin – ein Thema, das man bei anderer Aufbereitung jetzt nicht unbedingt gelesen hätte, denn es geht um die reichlich perfiden Finessen der so genannten Bordexemplare, mit denen Tageszeitungen gern ihre Auflagenzahlen türken (›türken‹ schreibt die taz natürlich nicht).

Jedenfalls darf die taz der Lufthansa keine Bordexemplare mehr ausliefern, seit das Blatt zur Trauerfeier des 1991 von der RAF ermordeten Treuhandschefs Detlev Rohwedder diese Schlagzeile brachte:

»Weizsäcker: Detlev, der Kampf geht weiter!«

Das bezog sich auf die bundespräsidiale Trauerrede für Rohwedder und verstand sich als Referenz (»Holger, der Kampf geht weiter!«, hatte Rudi Dutschke am Grab von Holger Meins gerufen). Doch für solchen Humor hatten die Rohwedderschen Trauergäste auf dem Heimflug von der Beerdigung nachvollziehbar kein Verständnis. Seither (und angeblich bis heute) möchte die Lufthansa ihren Passagieren an Bord keine taz mehr zumuten. Naja, vielleicht hat man mittlerweile Angst vor der ersten emissionsfreien Zeitung, vielleicht will man aber auch einfach nur die überbordende Papierflut in den ACP-Areas im Zaum halten.

Fazit

taz hat mal wieder Spaß gemacht. Vor allem die allseits kreativen, intelligenten Ressort-/Rubriken-/Artikel-Benamsungen künden von einer erfrischend wachen Zeitung. Ein paar mehr Leser als Genossen könnte sie im Interesse der Leser allerdings schon vertragen – damit’s bei aller angenehmenen Selbstironie nicht nur noch genossenschaftlich selbstreferenziell wird.


Wann fusioniert das deutsche Feuilleton?

Konstanz, 2. März 2008, 22:00 | von Marcuccio

Nach dieser Woche kann und muss man sich das schon mal fragen, denn so viel Gemeinsamkeit im Protokoll war selten. Donnerstag abend waren sie alle im Berliner Ensemble, bei Jonathan Littells einzigem Auftritt in Deutschland:

Eckhart Fuhr erlebte für die »Welt« einen »Nazi-Synthesizer«, Harry Nutt von der FR einen »Schriftstellerdarsteller« und Lothar Müller (S-Zeitung) einen Yale-Absolventen.

Sieglinde Geisel von der NZZ griff »sicherheitshalber zur Simultanübersetzung (…); doch auch der Übersetzer hat zu kämpfen«. Dirk Knipphals von der taz sah einen Littell, der mit allem, was er sagte, drauf aus war, »die Sache niedriger zu hängen«, während Hubert Spiegel für die F-Zeitung (Reading Room!) natürlich betont, dass Littell gar »nicht daran denkt, die Provokationen seines Romans kleinzureden«.

Schon am Mittwoch abend waren sie in Weimar kollektiv zur Urlesung von Martin Walsers »Ein liebender Mann« versammelt (und zwar nicht nur die gleichen Zeitungen, sondern sogar Eckhart Fuhr und Dirk Knipphals, so dass man sich unwillkürlich bei der Frage ertappte, ob taz und »Welt« denn jetzt schon Fahrgemeinschaften bilden).

Neben Walsers Krawatte, auf die wir wohl noch eigens in unserer Umblätterer-Rubrik »Eingeschneidert« zurückkommen werden müssen, bleibt uns aus Weimar vor allem Edo Reents als Lach-Detektor in Erinnerung:

An der Stelle »noch Gelegenheit gab zu rühmen, wie gesund er sich hier fühle«, lacht Joachim Kaiser das erste Mal laut auf: »Ha!« In den Anlaut ist ein kleines p hineingeschmuggelt, das a hat leichte Tendenz ins ä oder ö: »Hpäöh!« Was es da zu lachen gibt? Der nächste Lacher kommt bei »dringend zu wünschen«, wo Goethe Ulrike das Wort »unvorgreiflich« erklärt: »Hpäöh!« Das geht dann so weiter: Martin Walser liest in seinem alemannischen Singsang seine nicht immer ganz stubenreinen Goetheana, und Joachim Kaiser macht alle paar Minuten »Hpäöh!«

Das Live-Lachen des Kaisers hat sogar soviel News-Wert, dass es zu einem eigenen Interview mit dem »Leit-Lacher« geführt hat. Da findet man Martin Walser lustig, und schon ist man selber im Feuilleton, hehe.


Ist Deutschland zu flach für schönere Flachbauten?

nach Reisen, 3. September 2007, 00:23 | von Marcuccio

Geht Euch das auch so? Man fährt durch Deutschland mit der Bahn und sieht, egal ob in Saalfeld (Saale) oder Singen (Hohentwiel), die immergleiche Aldi-Lidl-Netto-Architektur in Bahnhofsnähe.

Vielleicht ist Deutschland aber auch einfach zu flach für schönere und bessere Supermärkte? Das zumindest wäre die These, mit der letzte Woche ein NZZ-Beitrag über »Neues Bauen in den Alpen« aufmachte:

»Anders als das flache Land, wo schlechte Bauten kaum auffallen, verzeihen Bergregionen aufgrund ihrer Topografie baukünstlerische Fehler nicht.«

Wohl wahr! Und als wäre so manches als Chalet verkleidete Touristensilo wieder wettzumachen, gibt es seit einigen Jahren eine richtig gute, moderne alpenländische Architektur – was den »Observer« schon mal zu der Bemerkung veranlasste:

»Heidi wouldn’t recognise the place – today even Alpine supermarkets are at the cutting egde of design.«

Gemeint ist in diesem Fall die auch von mir sehr gemochte Supermarktkette MPREIS, durch deren Filialen Aficionados schon mal eine extra Tirol-Tour (»Seeing MPreis«) unternehmen. Und so simpel die MPREIS-Philosophie klingen mag, so sophisticated ist sie (PDF):

»Lebensmittelgeschäfte sind die meistfrequentierten öffentlichen Räume, da kann es doch nicht egal sein, wie diese Räume aussehen.«

Dass gleich nicht überall gleich ist, zeigen (ausgerechnet) die Gebrüder Albrecht, deren »Aldi Suisse«- und »Hofer«-Filialen viel besser aussehen als ihre deutschen Pendants. Leider interessierte das im deutschen Feuilleton bislang nur die taz.

Dabei wären Supermarkt-Kritiken in zivilisierten Kulturen mindestens so wichtig wie Software-Reviews. Aber vielleicht nimmt sich ja mal ein Peter Richter der Sache an. Oder wer schreibt sonst noch (fähig) über welke und blühende Architekturlandschaften?


Ein Meisterwerk der Überschriftenkunst

Leipzig, 21. August 2007, 15:20 | von Paco

Im »ZEITmagazin LEBEN« vom letzten Donnerstag gab es eine Seite über die offiziellen Slogans der Bundesländer. Der berüchtigte Baden-Württemberg-Slogan war natürlich auch mit dabei:

»Wir können alles. Außer Hochdeutsch.«

Die »Zeit«-Leute kommentierten: »Den Spruch dachte sich die Agentur Scholz & Friends aus und bot ihn zunächst Sachsen an, das ihn nicht wollte«. So weit, so anekdotig und so lustig. Der Slogan erinnerte mich aber an eine andere Sache:

In den internen Release Charts der Headliner-Szene war in diesem Jahr eine Überschrift besonders lange oben. Die stammte aus der »taz«, was ab und zu vorkommt, denn für die »tageszeitung« arbeiten die Pro-Headlinerz von morgen.

Trotzdem war Gabriel in – für seine Verhältnisse – heller Aufregung, als er in der Ausgabe vom 16. April den genialen Titel zu dem Aufmacher las, der von Oettingers fehlgriffiger Filbinger-Rede berichtete:

»Ich kann alles. Außer Geschichte«

Gabriel fiel der sprichwörtliche Döner aus der Hand. Ein Meisterwerk sei das. Das sehe nicht nach Redaktionsarbeit aus.

Ich sage bei solchen Feststellungen zwar immer: Da kann doch jeder mal drauf kommen, da kann doch mal ein Kreativblitz in die unterbesetzte Redaktion reinsegeln usw.

Aber Gabi entgegnet dann, dass das nicht geht, dass man sowas nicht zufällig hinbekommt, dass eine gut gemachte Überschrift aus mehr besteht als aus einer Haha-Pointe, dass sie vielschichtig ist, dass sie mehr sagt, als der Artikel darunter und den Artikel im Prinzip überflüssig macht usw. usw.

In der Jubiläumsausgabe der »Jungle World« neulich hat Thomas Blum davon erzählt, wie in der dortigen Redaktion die Titel-Schlagzeilen entstehen, nämlich beim haltlosen Brainstormen mit dem Layouter (Gabriel kopfschüttelnd: »Mit dem Layouter!«).

Blum konzediert dann, dass sie auf diese Art und Weise »hie und da auch übers Ziel hinaus … hmm … geschossen« seien, und das sei auch kein Wunder, meinte Gabi: »So arbeitet man nicht.«

Wenigstens lachte er danach ein wenig, und ich weiß auch, dass er die neue »Jungle World« immer am Ersterscheinungstag durchsieht, wohl irgendwie fasziniert von den Kraut-und-Rüben-Betitelungen der Dschungelkrieger.


Botho Strauß & das Autorenporträt

Leipzig, 17. August 2007, 19:58 | von Paco

Jetzt folgt hier ein kleiner Follow-up-Scoop unsererseits, denn da bisher fast noch niemand wirklich auf den Scoop der »Vanity Fair« reagiert hat, machen wir das jetzt. Es geht um das Botho-Strauß-Porträt von Ingeborg Harms in der Doppelnr. 30/31, S. 136-145.

Seit dem legendären »Anschwellenden Bocksgesang« im »Spiegel« Nr. 6/93 wurde ja jedes von Strauß öffentlich gesetzte Komma sofort in allen anderen Medien aufgegriffen, bekämpft, verhöhnt, verehrt. Bei der VF-Homestory war das irgendwie anders, und das lag natürlich auch am Genre. Vielleicht haben die anderen Medien auch aus Pietät geschwiegen.

Es ist nämlich vielleicht keine gute Idee, als großer Schweiger und Verschwinder eine Homestory in einem Societymagazin machen zu lassen – denn so sehr I. H. auch an einer what-so-ever-Tiefe interessiert ist und sich mit dem Werk von Botho Strauß auseinandersetzt, bringt sie auch all die fitzeligen Beobachtungen, die bei Autorenporträts immer so entlarvend sind, für den Beobachteten wie für den Beobachter, etwa wenn von Strauß‘ »sinnlichem Buddha-Mund« die Rede ist.

Überhaupt ist das Autorenporträt ein Genre, das es zu meiden gilt – als Autor bzw. Autorin. Denn je nach Gusto und Leitlinien des porträtierenden Journalisten wird dann gern jedes ›Hatschi!‹ beschrieben und auf das Werk projiziert. Auch wird der oder die Porträtierte in spärlichen Auszügen zitiert, auf deren Auswahl er oder sie keinerlei Einfluss hat. Bei diesen Snippets wird denn auch kaum ein Originalgedanke durchschimmern können. Da ist ein Interview sicherer. Oder man macht halt den Thomas Pynchon.

Autorenporträts haben schon zu großen Zerwürfnissen geführt, z. B. das schwer auszuhaltende Helmut-Krausser-Porträt von Tilman Krause im »Tagesspiegel« vom 8. Mai 1996 (die Folgen kann man in den Krausser-Tagebüchern und in den Krause-Rezensionen nachlesen).

Interviews werden dagegen auch mal von großen Verweigerern eigens genehmigt. Zuletzt von Ernst Tugendhat, der das im »taz mag« von neulich (28. Juli 2007) erschienene Gespräch in einem Brief an seine Interviewerin Ulrike Herrmann mit den Worten genehmigt hat: »Ich finde den Text jetzt o.k.« Zum Glück, denn das Entretien mit Tugendhat war ein Interview-Highlight des Feuilleton-Jahres.

Hat Botho Strauß eigentlich auch so einen Brief verschickt?


»Die kleinen Prousts beim Duschen«

Konstanz, 14. August 2007, 23:02 | von Marcuccio

Schöner Artikel heute in der taz und bester Beweis für den immer wieder geraunten, manchmal merklichen und letztlich doch selten geglückten body turn im Feuilleton.