Archiv des Themenkreises ›FAS‹


Tarantino und das deutsche Dorf am Piz Palü

Konstanz, 26. August 2009, 09:58 | von Marcuccio

»Schneefall im Hochsommer«, das ist eigentlich schon das Höchste, was man von einer NZZ-Überschrift im August erwarten kann. Im zugehörigen Artikel ging es um eine Ausstellung, hinter der ich ja zuerst eine Jörg-Fauser-Werkschau vermutete:

»Schnee. Rohstoff der Kunst«

Im VLM Bregenz gab es dann einen großen Bergfilm-Tag, gezeigt wurden: »Die weiße Hölle vom Piz Palü« & »Der weiße Rausch« – dazu die Stills live kommentiert von Mathias Fanck, der über seinen Groß­vater Arnold Fanck aus dem Nähkästchen plauderte (»Warum er rauchte, verstehe ich bis heute nicht«).

Durch Fanck kamen übrigens auch Luis Trenker und Leni Riefenstahl zum Film. Was jetzt vielleicht ein pindarischer Sprung ist, aber auf jeden Fall Quentin Tarantino gefreut haben dürfte, der laut »Spiegel«-Interview von neulich zwar offiziell nur Riefenstahl die Regisseurin verehrt, aber, wer weiß, bestimmt auch Leni das Skihaserl aus den Fanck-Filmen ganz gut findet.

Wie er überhaupt von der deutschen Bergfilmhoheit ganz fasziniert scheint. Hätte er sonst extra »ein deutsches Dorf« an den Fuß des Piz Palü geschmuggelt? Es ist die Szene in den »Inglourious Basterds«, die Claudius Seidl als Engadin-Urlauber filetiert hat, um richtig­zustellen, »dass am Fuß des Piz Palü vielleicht Pontresina liegt, aber bestimmt kein deutsches Dorf«. Deutsches Dorf vielleicht nicht, aber ein Ur-Ort deutschen Bergfilmschaffens eben irgendwie doch. Also wohl ein typischer Tarantino-Gruß an die Kino­geschichte.


Vossianische Antonomasie (Teil 6)

Konstanz, 17. August 2009, 10:55 | von Marcuccio

 

  1. der Usain Bolt der deutschen Dax-Vorstände
  2. der Joschka Fischer der Linkspartei
  3. der Maverick unter den Meinungsforschungsinstituten
  4. die Pythia vom Bodensee
  5. der Napoleon unter den Buchhändlern

 

Alles aus der gestrigen FAS, außer Nr. 30,
die stand schon am Donnerstag in der FAZ.

 


Der Feuilletonforscher Peter Glotz

Konstanz, 15. August 2009, 12:00 | von Marcuccio

Die »Rezensionsfriedhöfe« werden 40. Ja, sie haben ein Geburtsdatum und wurden damals ans Licht der Welt gebracht in:

Peter Glotz und Wolfgang Langenbucher: »Der mißachtete Leser«,

einem Klassiker der empirischen Feuilletonforschung, erschienen 1969. Die einen feiern Woodstock, die anderen rocken für ein Feuilleton, das endlich auch mal den Facharbeiter interessieren soll. Und prägen ganz nebenbei das geflügelte Wort von den Rezensionsfriedhöfen:

»Unsere Literaturseiten sind häufig Rezensionsfriedhöfe.« [*]

Ein schönes Wort, obwohl es eigentlich ein Lästerwort gegen die Sache ist, also unsere guten Buchmesse-Beilagen zum Beispiel. Glotz war damals wirklich der erste, der auszählte: »55 Rezensionen, aber nur vier Interviews, vier Reportagen, drei Kurzberichte« (zu Uwe Johnsons »Zwei Ansichten«) usw.

Glotz war auch der wahrscheinlich einzige SPD-Bundesgeschäftsführer ever, der etwas zu Wilmont Haacke zu sagen wusste (vgl. seine Diss.: »Buchkritik in deutschen Zeitungen«. Hamburg 1968). Fast vier Jahre ist der Bildungsberserker schon tot. Es gab damals einen sympathi­schen Nachruf von Nils Minkmar in der FAS, geschrieben mitten im Schröder-Aufholwahlkampf-Sommer 2005.

Wird es jemals wieder eine SPD-Feuilletonforschung geben?

____
[*] Peter Glotz / Wolfgang Langenbucher: Der mißachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse. Berlin (und noch nicht Köln!): Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 91.


Der Umblätterer in Rom

Paris, 8. August 2009, 21:02 | von Paco

UMBL in Rom

Säulenhain. Gymnastik und Diskussion über die neusten Sendbriefe des Cicero.

UMBL in Rom

Piazza del Popolo, »Autoritratto con gli altri voltapagine«.

UMBL in Rom

Alan Bennett in »La Repubblica«: »Leonardo? Non mi piace!« Das scheint so aber nicht mit Vasari abgesprochen gewesen zu sein.

UMBL in Rom

»How do we get to …?« – »This way!« – »Graw-tsee-yeah!«

UMBL in Rom

»Hey Kiddie Kiddsens, zieht euch eure bed decks übers Kopfkaffee, heute geht es so um Kunst so.«

UMBL in Rom

Allons enfants, zu den Vatikanischen Museen.

UMBL in Rom

Zypressenhain, FAS-Lektüre.
 


Pierre Boulez spricht

Paris, 25. Juni 2009, 11:40 | von Austin

Sonntag. 20.20 Uhr. Warten im Cour Napoléon. Fête de la musique. Um 21.15 Uhr ist Einlass für das Konzert sous la pyramide du Louvre: Pierre Boulez und das Orchestre de Paris. Vor uns eine lange Schlange. Hinter uns eine immer länger werdende Schlange.

Vor uns zwei Pariserinnen, Amt für Statistik & Marketing bei L’Oréal, wollen unbedingt zu Buläh. Hinter uns zwei Kolumbianerinnen, wollen unbedingt zu Buläs.

sous la pyramide

22.00 Uhr. Angeblich sitzen jetzt 2.000 Menschen auf dem Marmorbo­den des Auditorium du Louvre. Über uns der Richelieu-Flügel. Über uns die Pyramide. An ihren Scheiben die, die nicht reingekommen sind. Würden sie durchbrechen, würden sie auf den Schlagwerker des Orchesters fallen.

Und tatsächlich erscheint vor uns der große alte Mann der europäi­schen Musik und dirigiert: Strawinskis »Feuervogel«. Irre präzis, fabelhaft trocken, ohne jeden billigen Effekt.

Nach dem Konzert Jubel. Pierre Boulez scheint dem Publikum etwas sagen zu wollen. Er spricht. Was er sagt, geht unter in der Begeis­terung.

Am Nachmittag schon in einer anderen Schlange gewesen: im Musée Jacquemart-André, das im Baedeker einen ganzen Stern abbekom­men hat. Vermutlich vergeben für einen großartigen Rembrandt und eine schöne Orangen-Tarte im Museumscafé.

Ansonsten beantwortet dieses Museum vor allem die Frage, wie Tadzio, sollte er die venezianische Seuche überstanden haben, seinen Lebensabend gestaltet haben könnte. In diesem Haus hätte Tinto Brass Pornos drehen sollen, selbst der Staub scheint hier historisch zu sein, und hinter jeder Ecke erwartet man Siegfried und Roy.

Nichtsdestotrotz kommen wir rechtzeitig zum letzten Tag der Ausstel­lung italienischer Maler des Trecento, ausgeliehen aus einem Museum in »Altenbourg«, einer laut Informationstext »kleinen Stadt bei Dresden«.

Und die Leute drängen sich in den kleinen Räumen, um das Lebens­werk des Herren Lindenau zu sehen. Und wahrscheinlich sind es in diesem Moment, in dieser Stunde mehr Menschen, als in Altenburg in einem ganzen Jahr.

Passend zum Pariser Mittsommernachtstreffen des Umblätterers gibt es eine Frankreich-FAS, darin ganzseitige Artikel zu Julie Delpy (Interview) und Michel Foucault (kein Interview). Die Lektüre am Erscheinungstag wird aber durch oben genannte Ereignisse mehrfach vereitelt.

Usw.


Die FAS vom 10. 5. 2009:
Motive sind verzichtbar

Paris, 10. Mai 2009, 14:55 | von Paco

Es ist einmal wieder Zeit für einen Sonntagszeitungs-Recap, den Umbl-Klassiker. Also saß ich heute morgen zweieinhalb Stunden im damals noch menschenleeren Jardin du Luxembourg und las alles genau durch.

Schon die sehr gute Teaser-Überschrift auf der Frontseite, »Taten deutscher Dichtung«, zog mich hinein ins Feuilleton (S. 25), auch wenn die Fakten um Frenzels komisches Dichtungsdatenwerk, die Herkunft der Autorin aus der Nazigermanistik usw., schon weithin bekannt sind.

Obwohl dieses J’accuse von Volker Weidermann also etwas spät kommt – zumal der Verlag verlauten ließ, dass es sozusagen bald eh keine Neuauflage mehr geben wird –, klingt diese Geschichte immer wieder aufs Neue unglaublich, haarsträubend, unerhört, unfassbar, unvorstellbar, unsäglich oder, wie Weidermann selber an zwei Stellen schreibt, skandalös.

Dann weiter, Stichwort: one of us. Nach Horst Tappert, Roger Willemsen und dem Umblätterer outet sich auch Daniel Kehlmann als Hamsun-Leser. Auf S. 29 gibt es einen Vorabdruck seines Nachworts zu einer Neuausgabe von »Hunger« (Überschrift: »Der Bruch«). Es ist ein sehr hervorragendes Nachwort, sehr zweckorientiert und pointiert, da wird die ganze Herrlichkeit des Hamsun einfach mal auf den Punkt gebracht:

»Genau das ist die epochale Entdeckung des Romanciers Knut Hamsun: Motive sind verzichtbar. Es ist nicht nötig, zu verstehen, warum Figuren sich so verhalten, wie sie es tun; (…).«

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die neulich (vor einem Jahr) hier von Dique zelebrierte Geigen-Szene aus den »Mysterien«.

Ok, was sonst noch. Julia Encke überführt auf sehr schöne Weise Jan Fleischhauer einer von ihm unbemerkt begangenen mise en abîme (S. 26):

»Fleischhauers Grundvorwurf an die Linken ist das, was er die ›Erfindung des Opfers‹ nennt. Das Opfer, sagt er, stehe am Anfang aller linken Politik, als dessen Anwalt diese sich aufspiele. (…) Dass er in einer mise en abîme sein eigenes Vorgehen mit so bemer­kenswerter Präzision beschreibt, scheint ihm allerdings zu entgehen. Denn als nichts anderes stilisiert er sich ja die ganze Zeit: als Opfer jener linken Sozialisation, (…).«

Außerdem sei sein Buch »Unter Linken« langweilig wie nur was. Eine Umblätterung weiter, unter dem Kehlmann-Text, prangt dann eine drittel­seitige Verlagswerbung für den Fleischhauer, schön signalfarbig in Rot gehalten.

Ansonsten gibt es auch wieder einen instantanen Reich-Ranicki-Klassiker unter den von ihm beantworteten Sonntagsfragen (S. 27):

Welches der Kinder Thomas Manns war literarisch am begabtesten?
Bastian Nitzschke, Hünfeld

Golo.

Liebe Klaus-Mann-Fans (zum Beispiel), bitte schreibt jetzt Abbesteller-Leserbriefe voller Protest und Anklage, sie würden gut in unsere Sammlung passen, danke.

Usw.


Grimmelshausen in der FAS

Paris, 21. April 2009, 07:53 | von Paco

Hä? Häää? Ist das der zweite Teil des am 27. Juni 2000 nur unvoll­ständig erfolgten Genom-Abdrucks in der FAZ? Endlich? Nein. Der komische Buchstabenbrei ist schönstes, frühstes, »sometimes very strange sounding« Neuhochdeutsch. Die FAS vom 5. April 2009 hat auf S. 31 des Feuilletons unter dem Titel »Die rothe Ruhr im Leib« eine ganze Seite Grimmelshausen abgedruckt.

Vor gerade ein paar Wochen hat Reich-Ranicki einer FAS-Leserin aus Wiesbaden versichert, dass er den Simplicissimus »nicht nur mit Gewinn, sondern auch mit Genuss« gelesen habe. Und diese Aussage hat dann vielleicht gleich den Takt für diese gelungene FAS-Kommandoaktion vorgegeben.

Es handelt sich bei dem Text um eine (leicht gekürzte) Kalender­geschichte aus dem Jahr 1675, die vor kurzem in einem Berliner Archiv entdeckt wurde. Sie ist gerade zusammen mit anderen simplicianischen Kalendertexten herausgegeben worden, aber die genauere Stellung innerhalb der Grimmelshausen-Forschung sei hier jetzt außen vor gelassen.

Inhaltlich geht es um eine sprichwörtliche Reise ans Ende der Nacht, in diesem Fall um den betrüblichen Weg in eine Vernunftehe hinein. Die Story setzt damit einen Kalendertext des Vorjahres fort (der offenbar nach wie vor verschollen ist).

Reichlich unbedarft, genau wie Célines Bardamu, lässt sich der simplicianische Ich-Erzähler in die Armee ziehen, nachdem ihn seine Tante vor die Wahl gestellt hat: reich heiraten oder zum Militär. Und leider hat der Simplicius auf der Liebe zum armen Lisel bestanden (wie romantisch) und muss nun den Soldatenrock überziehen.

Er beschreibt von einem geläuterten Standpunkt aus, wie ungeho­belt er sich der Zivilbevölkerung gegenüber verhält und wie ihn der Lohn für diese »kopffschütlens=würdige Helden=Thaten« bald ereilt, als sich die Truppe in der Gegend um Gerau am Rhein aufhält. »Mein Geltgen war fort«, jammert er, und es grassieren Fahnenflucht und Hunger, auch weil die Bauern aus der Umgegend samt Vieh vor den rüpelhaften Truppen geflohen sind.

Als eine Schar Reiter sich im Odenwaldgebiet aus den fortgetrie­benen Rinderherden bedienen will, wehrt sich eine Handvoll Bauern erfolgreich, obwohl sie in vielfacher Unterzahl sind. Der Erzähler wird dabei von einer Kugel getroffen und stopft die Wunde provi­sorisch mit Spinnweben. Er überlebt jedenfalls knapp, hat sich aber die »rote Ruhr« eingefangen und wird nur durch die Hilfe der rei­chen Madame von Daeldorp vor einer Schenkelamputation bewahrt.

Auf dem Krankenlager erkennt er schließlich seinen Fehler: dass er trotzig auf seiner Liebe zum armen Lisel bestanden hat. Und nach einer einfachen Kosten-/Nutzenrechnung (wie unromantisch) entscheidet er sich für die reiche Madame, obwohl ihm die Tante die Wahl nunmehr freigestellt hat. Lisel ist natürlich gnatzig, ebenso wie eine Handvoll Freier, die sich die Hand der reichen Daeldorp erhofft hatten.

Aber das macht dem Simplicius nichts aus, er hat auf gutbürger­liche Art und Weise ausgesorgt. Und schon nach einem Jahr wird ihm ein Junge geboren, und die Tante hat ihren Erben. Das Ganze ist so mit diesem naiven, hintergründigen Humor geschrieben wie der »Simplicissimus« und macht leicht süchtig, weß halb ich jetzo erstmalen eine Weill benöttigen werdt, biß ich auß dissem Lese=Moduss wider heraußen binn, hehe.


Die FAS vom 15. 3. 2009:
Der Satz von Voltaire

Paris, 18. März 2009, 11:35 | von Paco

Bis heute lief der Salon du Livre (Gastland: das schöne Mexiko), daher hatte ich bis jetzt noch keine Zeit für die FAS. Ich hatte am Sonntag nur schnell das hervorragende Porträt über Alfred Neven DuMont gelesen, geschrieben von Franz Josef Görtz (S. 59). Es war zu Recht auf der Frontseite der FAS verlinkt, sonst wäre es vielleicht an mir vorbeigegangen, denn anders als Denis Scheck lese ich nicht zuerst den Gesellschafts-Teil, wo kommen wir denn da hin!

Höhere Wesen befahlen: Gómez Dávila abwatschen! Und genau das macht dann Peter Richter gleich am Anfang seines Sigmar-Polke-Artikels (S. 28), in dem es dann aber hauptsächlich um eine mehretappige S.-P.-Ausstellung in Hamburg geht (mit den »Kleinbürger«-Gouachen aus den Siebzigern).

In der MRR-Rubrik diesmal u. a. diese Frage:

Es interessiert mich die Frage sehr, was Bernhard hinter all seinen Werken wirklich sagen wollte?

Diese Formulierung ist einfach so so so herrlich, jede Antwort darauf kann nur schlechter ausfallen. Überhaupt könnte man in Zukunft nur noch die Fragen an MRR abdrucken, keine Antworten mehr, also à la »Der Freund« und seiner unvergessenen Rubrik »Briefe, die wir noch nicht beantwortet haben«.

Für die »Medien«-Seite hat Andreas Rosenfelder ein Interview mit Peter Scholl-L’Amour geführt (S. 37). Nachdem der alte Kämpe neulich in den »3 nach 9« wegen eines blutigen argumentatorischen Anfängerfehlers sehr leiden musste (»Ich wurde in die Falle gelockt«), darf er hier wieder mal anhand von geschickt zugeworfenen Stichworten seine Biografie runtererzählen, wie immer sehr gut zu lesen.

Highlight dieses Feuilletons war ein Henning-Ritter-Artikel (S. 36). Kat Menschik hat diesen mit einem dreigesichtigen Rosa-Luxemburg-Porträt verziert, daher dachte ich zuerst, es handele sich um einen Vorabdruck aus Dietmar Daths im Juni erscheinender R.-L.-Biografie. Es ging dann aber um einige Implikationen des Satzes von der Freiheit der Andersdenkenden, der so ähnlich auch von Voltaire überliefert ist bzw. eben gerade nicht.

Ritter weist noch mal darauf hin, dass Peter Gay darauf hingewiesen hat, dass der Voltaire zugeschriebene Satz aus dem Voltaire-Buch einer amerikanischen Hausfrau stammt, die darin sozusagen in Figurenrede Voltaires Position zusammenfassen wollte. (Recap, dort steht: »›I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it,‹ was his attitude now.« [cf. WP])

Und ach ja, in der Handke-Rezension von Michael Martens gibt es noch diese schöne Formulierung: »Schon vor langer Zeit reisten deutsche Dichter, die meisten heute unbekannt, bis zur Ungooglebar­keit, …« (S. 32).

Usw.


Das JDD und die FAS vom 8. 3. 2009:
Entrümpelungsaktion in Sachen Kanon

Paris, 8. März 2009, 18:38 | von Paco

Die Sonntagszeitung »Journal du Dimanche« erscheint seit heute (bzw. dann eben gestern) schon am Samstagmittag mit einer »Première Édition«, um die potenzielle JDD-Lesezeit am Wochenende zu erhöhen (cf. Nouvel Obs).

In der heutigen regulären Ausgabe wurde dann schon berichtet, wie gestern ein paar jeunes femmes in signalroter Kleidung und im Style von Jean Seberg aus Godards »À bout de souffle« die Samstagsversion der Sonntagszeitung abgesetzt haben, nach eigenen Angaben landesweit 50.000 Stück.

Das wäre doch auch eine Idee für die FAS. Wenn sie bereits Samstagmittag erschiene (also nur Stunden nach der Samstags-FAZ), könnte man den gesamten »Sport«-Teil mit den noch nicht stattgefunden habenden Bundesliga-Spielen in zusätzliche Hardcore-Feuilleton-Seiten umwidmen, hehe.

Ansonsten hatte das Journal du Dimanche mit dem ersten Rachida-Dati-Interview nach ihrer geheimnisumwitterten Schwangerschaft so eine Art Scoop (S. 2 u. 3), passend zum Frauentag. Sonst ist das JDD natürlich kein Vergleich zur FAS. In der Kulturabteilung geht es fast nur um Kinofilme, auf der Seite mit den Rezensionen wird dann noch Lanzmanns Autobio besprochen (»Le Lièvre de Patagonie«, Gallimard).

Daher schnell weiter zur FAS, deren Feuilleton diesmal mit 17 absichtsvollen Verrissen von weltliterarischen Klassikern munitioniert ist, laut Vorwort eine Entrümpelungsaktion in Sachen Kanon. Keine einzige Neuerscheinung anlässlich der bevorstehenden Buchmesse wird besprochen, und auch wenn die Messespezial­feuilletons nicht immer wirklich gut sind (siehe »Der 18. März 2007 und seine Folgen«), dieses hier ist Spitzenklasse.

Untenstehend nun sozusagen die Regestausgabe aller 17 Verrisse. Das Défilé der 17 Autoren ergibt auch gleichzeitig eine brauchbare Dramatis personae des FAS-Feuilletons:

Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos

»ein Text für Typen, die die heroische Pose brauchen« (Nils Minkmar)

Bernhard Schlink: Der Vorleser

»Ein Buch wie eine Kotztüte. Man weiß, was kommt.« (Patrick Bahners, kompletter Text)

Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit

»dieser Amazonas von Vornamen und Nachnamen und Rängen« (Tobias Rüther)

Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür

»das alles hat etwas von einem ganz frühen Drehbuch der ›Nackten Kanone‹« (Volker Weidermann)

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise

»›Nathan‹ ist zu viel des Guten« (Hans Ulrich Gumbrecht)

Vladimir Nabokov: Lolita

»Halt die Klappe, Humbert Humbert!« (Claudius Seidl)

Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden / Wolf Jobst Siedler: Die gemordete Stadt

zu Mitscherlich: »das Problem an Mitscherlichs Buch (sind) seine Anhänger« / zu Siedler: »nur eine Klage, dass man Betontürme baute, wo einmal Villen standen« (Niklas Maak)

Heinrich Mann: Die Jugend + Die Vollendung des Königs Henri Quatre

»überall sprießen Gräten aus der Konstruktion, spreizen sich wichtigtuerisch die gleichen künstlich verknappten Drechselsätze« (Eleonore Büning)

Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart

»dreihundert Seiten fadester Eskapismus« (Dirk Schümer)

Thomas Mann: Wälsungenblut

»Warum nicht gleich Peter Hacks lesen? Warum nicht lieber ›Lost‹ gucken?« (Maxim Biller)

Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation

»vertraute ethische Formeln, die jedoch … naiv erscheinen müssen« (Henning Ritter)

James Joyce: Dubliner

»Geschichten wie eine sechsspurig ausgebaute Autobahn, auf der plötzlich der Asphalt endet.« (Anne Zielke)

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt

»Figuren, die mehr schrullig als lebendig gezeichnet sind und die man kaum anzuhusten wagt, aus Angst, diese Pappkameraden könnten hintüberkippen« (Tilman Spreckelsen)

Hermann Hesse: Steppenwolf

»gehört zu den sicher humorlosesten Büchern der Literatur­geschichte. Gerade da, wo es vom Lachen handelt. Und nicht mal das ist ein Witz.« (Julia Encke, kompletter Text)

Aldous Huxley: Schöne neue Welt

»abstoßend uninteressante Selbstfindung (eines) eindimensionalen Grübelspießers« (Dietmar Dath)

Elias Canetti: Die Blendung

»ein von sich selbst besoffenes, von seiner eigenen grenzenlosen Misanthropie berauschtes Romanmonstrum« (Andreas Kilb)

Tom Wolfe: Fegefeuer der Eitelkeiten

»Realismus allein ergibt … nicht automatisch Literatur.« (Harald Staun)


Dissertationen von Feuilletonisten (Teil 1):
Peter Richter über den Plattenbau

Paris, 27. Februar 2009, 10:56 | von Paco

Ich habe jetzt endlich mal die hochinteressante 2006er Dissertation des FAS-Schriftstellers Peter Richter zuende gelesen:

»Der Plattenbau als Krisengebiet. Die architektonische und politische Transformation industriell errichteter Wohnge­bäude aus der DDR am Beispiel der Stadt Leinefelde«

Es geht im weitesten Sinne um Kunstgeschichte, Richter nimmt sich mit dem DDR-Plattenbau und seiner Behandlung nach der Wieder­vereinigung ein Richter-typisches Thema vor. Vielleicht kam ihm im Zuge der medialen Berichterstattung über die preisgekrönte Umge­staltung von Leinefelde-Süd die Idee zu der Arbeit. Sie liest sich jedenfalls trotz Times New Roman mit 12 pt und 1,5er Zeilenab­stand gut weg.

Die Arbeit liegt als PDF komplett auf dem Server der SUB, inkl. Abbildungen, aber man sollte sowieso lieber gleich selbst mal nach Leinefelde fahren, schon der Kritiker Kaye Geipel hatte 2001 über­schwänglich ausgerufen: »Architekten, kommt nach Leinefelde und seht euch diese Sanierung an.« Und außerdem liegt die Stadt direkt an der Kulturautobahn A38.

Im allgemeinen Teil (zwei Drittel der Arbeit) beginnt Richter mit einer kleinen Kulturgeschichte des industriellen Wohnungsbaus, im speziellen des Plattenbaus in Deutschland seit den 1920er Jahren (Martin Wagner, Ernst May). Insofern macht die von ihm erwähnte Deutung der DDR-Plattenbauten als »Exzess der Moderne« (S. 7) auch Sinn.

Nach kurzen Abschnitten über Entwicklungen im NS (Ernst Neuferts »Hausbaumaschine«) und der Bundesrepublik folgt ein genauer Abriss der Geschichte der Plattenbauweise in der DDR seit den 1950er Jahren, in der auch die zeitgenössischen Diskussionen (etwa die Monotonie-Debatte) mit abgebildet werden. Die DDR-Neubauten und ihre Anordnung zu Großsiedlungen sollte die Heranbildung der sozialistischen Gesellschaft forcieren und repräsentieren, und damit war es dann 1989 vorbei und die Stigmatisierung begann, die Richter mit sehr schönen Zitaten nachzeichnet (S. 62-74).

Ebenso lesenswert ist das darauf folgende Kapitel über die nach 1990 einsetzenden, sich teils widersprechenden staatlichen Aufwertungsmaßnahmen. Viele Häuser sollten damals etwa im Schnellschussverfahren »durch esoterische Farbmanöver« (S. 189) individualisiert werden. Nach dem für einige vielleicht überraschen­den Kapitel »Plattenbau und Denkmalschutz« und dem Einbezug der Arbeit in die Diskussion um die »shrinking cities« bringt Richter einige Beispiele für die Auseinandersetzung der bildenden Kunst mit dem Thema Plattenbauten, etwa Erik Schmidts crossmediale Inszenierung seiner Berliner Plattenbauwohnung am Platz der Vereinten Nationen. Auch sehr gut ist der Hinweis auf das Plattenbau-Quartett von Cornelius Mangold.

Im letzten Drittel widmet sich Richter dann dem Umbau von Leinefelde im nördlichen Thüringen. In der Stadt wurde ab 1961 eine große Baumwollspinnerei installiert, die dafür nachkommenden Arbeiter sollten in Plattenbauten untergebracht werden. So wurde südlich der Altstadt Neubau um Neubau hochgezogen, die Einwohnerzahl der Stadt wuchs bis zur Wende von ca. 2.500 auf über 16.500 an. 90 Prozent der Bevölkerung wohnte in Platten­bauten. Nach dem üblichen Hin und Her der Nachwendejahre lag 1995 ein städtebaulicher Rahmenplan vor. Zu seiner Umsetzung gab es im Jahr darauf einen Architekturwettbewerb, der nach Lösungs­vorschlägen für das Physikerquartier und das Dichterviertel verlangte. Am Ende wurden zwei Architekten ausgewählt: Stefan Forster fielen die Dichter zu, Muck Petzet die Physiker.

Die erfolgreiche Umgestaltung von Leinefelde wurde nicht ohne Grund mit Preisen überhäuft, und so fallen Richters detailreiche Beschreibungen vor allem von Petzets Arbeit dann auch fast schwärmerisch aus. Dass Forster und Petzet äußerst gegensätz­liche Ansätze haben (Rückbezug auf die Gartenstadt bzw. auf die »sozialistischeren Traditionen der Moderne«), interpretiert Richter dann gegen Ende seiner Dissertation als Vorteil. Beide Archi­tekten haben einen Antagonismus geschaffen, »der den Stadt­umbau von Leinefelde als Möglichkeitsraum ausreizt und den Ort geradezu im Sinne einer Bauausstellung zur Modellstadt macht«.

Soweit zum Inhalt, also absolute Empfehlung für ein paar Nachmittagsstunden.