»Die rasende Radisch«: Die FAS vom 24. 2. 2008

Leipzig, 24. Februar 2008, 23:03 | von Paco

Bevor es gleich ums FAS-Feuilleton geht: SP*N hat eben einen leicht launigen Geburtstagsgruß Richtung »Monocle« geschickt. Darin wird mal schlagend zusammengefasst, was das Magazin so angenehm macht: »Keine IT-Milliardäre, keine Celebrities, kein YouTube-Hype.« Klingt wie das Gegenteil von SP*N, hehe.

Wir lesen »Monocle« übrigens genauso regelmäßig wie die FAS, und damit zur aktuellen Ausgabe, die man am heutigen Sommersonntag mitten im Februar schon auf den Terrassen aller Kaffeehäuser des Monats lesen konnte.

Aufmacher ist ein Gespräch zwischen Julia Encke und Charlotte Roche. Die beiden siezen sich, und das wirkt irgendwie unfreiwillig komisch, wenn es dabei um Masturbation im Badezimmer und Intimrasuren geht.

Dann Klaus Theweleit zu Littell und den »Wohlgesinnten«. Auf der Seite prangt wieder die Thalia-Werbung (»Das beste Buch des Monats!«), dieser freiwillige oder unfreiwillige Gag kommt immer noch so gut wie letzte Woche.

FAS, Buch des Monats, im Hintergrund die Peterskirche

Nun aber zu Theweleits Aufsatz: Auf diese Stimme hat man irgendwie gewartet. Tilman Krause hatte ja in der »Welt« dreisterweise sogar geschrieben, dass Littell »unserem Bild vom faschistischen Charakter neue, über Theweleits ›Männerphantasien‹ hinausgehende Züge gibt«, und da ist es an der Zeit, dass er selbst spricht.

Zunächst arbeitet sich K. T. aber an der (meiner Meinung nach sehr guten) Rezension von Iris Radisch in der »Zeit« ab. Er nennt sie die »rasende Radisch«, und sofort ist klar: Es geht ein bisschen um Polemik.

Er kann Radisch jedenfalls nicht plausibel widerlegen. Ihm gelingt es aber, und das ist viel wichtiger, eine neue Phase in der Debatte um das Nicht-Jahrhundertbuch (Schirrmacher) einzuleiten. Es geht jetzt um Details, nicht mehr um das große Ganze, über das ohnehin schon alles gesagt wurde, bevor das Buch gestern offiziell erschienen ist.

Die Artikelüberschrift – »Der jüdische Zwilling« – deutet schon an, worin Theweleit einen interpretatorischen Schlüssel vermutet, nämlich in der Darstellung der »affektiv-intellektuellen Symbiose des ›Deutschen‹ mit dem ›Jüdischen‹«. Insgesamt psychologisiert Theweleit etwas zu mutig, es wurde mir auch etwas schwindlig dabei, sozusagen, aber den Aufsatz sollte man sowieso am besten nächste Woche noch mal lesen.

Als es am Ende noch mal um die literarische Qualität geht (die den »Wohlgesinnten« ja reihenweise abgesprochen wurde), prägt Theweleit übrigens, womit er eigentlich die Littell-Kritiker imitieren will, das Wort vom »Literaturgefreiten Littell«, und das ist doch mal eine schöne plastische Formulierung.

Ein paar Seiten weiter gibt es ein Interview, das der Interviewkünstler André Müller mit der Violinistin Julia Fischer geführt hat (die Stefan Raab und Tokio Hotel nicht kennt). Wie es sonst nur bei Jonas Kaufmann üblich ist, stellt Müller der Bildungsgeigerin beständig Fragen nach ihrem Aussehen, die sie aber alle abwehrt. Dann folgende Stelle:

Müller: »Kunst, sagen Sie, ist nicht Unterhaltung.«

Fischer: »Ja, das sage ich, denn ich finde, es gibt eine Trennlinie zwischen der Kunst und dem Entertainment.«

Diese Stelle ist deshalb so herrlich, weil genau auf der gegenüberliegenden Seite Reich-Ranicki widerspricht, Schiller zitierend:

»Der Zuschauer [und natürlich der Leser; R. R.] will unterhalten und in Bewegung gesetzt sein. Das Vergnügen sucht er …«

In der FAS haben schönerweise auch Widersprüche Platz, hehe.

Und zum Schluss noch, hätte ich fast überlesen, die Kolumne »Nackte Wahrheiten«, heute bespielt von Claudius Seidl. Er rechtfertigt sich dafür, dass das Bestsellerbuch »Generation Doof« nicht von der FAS besprochen wird. Denn »die beiden Autoren (waren) beim sogenannten Kerner eingeladen«, und C. S. hat zugesehen und den Titel des Buches offenbar auf das Autorenduo beziehen müssen, und dann wurde entschieden:

»Nein, haben wir vom Feuilleton zu uns selber gesagt, ganz gegen unsere Gewohnheit: Angesichts dieser Variante der Dummheit erklären wir uns einfach mal für unzuständig.«

Frühjahrsputz:
Die FAZ und ihre Leserbriefe

Konstanz, 23. Februar 2008, 06:15 | von Marcuccio

Zu den festen Momenten eines jeden Umblätterer-Jahres gehört der Frühjahrsputz. Denn was gibt es Schöneres, als beim lesenden Entsorgen zerfledderter Alt-Feuilletons noch allerletzte Perlen zu bergen. Ich persönlich fröne bei diesem Ritual ja immer ganz gerne der Leserbriefseite der FAZ, also der Seite, die in der F-Zeitung vornehmer als anderswo »Briefe an die Herausgeber« heißt.

Man kann dieser Seite mit den berühmt-berüchtigten Koreferaten der Oberstudienräte und Bundesverwaltungsrichter a. D. nachsagen, was man will. Sie ist manchmal wirklich eine Seite zum Wegschmeißen – was ihre Lektüre gerade beim Wegschmeißen sehr empfiehlt, hehe. Zum Beispiel hier, ich blättere eine F-Zeitung vom 12. Juni 2007 und lasse mich auf der Briefe-Seite von der schönen Headline »Herrenreiter-Mentalität« fangen:

»Vielen Dank für Ihren Artikel Potsdams Spaßbürger (F.A.Z.-Feuilleton vom 24. Mai). Dieser Fall ist, wie Heinrich Wefing treffend aufzeigt, eben leider symptomatisch für dieses Land. An die Herrenreiter-Mentalität nicht weniger Fahrradfahrer hat man sich ja schon gewöhnt, aber ein paar Oasen der Kultur sollen bitte erhalten bleiben.«

Na, nun kommt der Untergang des Abendlandes schon auf dem Drahtesel angefahren, denke ich mir noch, und blättere weiter. Bis ich ein paar Wochenstapel später, nämlich in der F-Zeitung vom 16. Juli 2007, schon wieder bei den Briefen an die Herausgeber hängen bleibe. Diesmal ist »Desavouiert« der Teaser – ein hübsches, schönes Bildungsbürgerwörtchen, das man auch nicht alle Tage zu lesen bekommt. Und dann steht da das:

»In seiner Zuschrift vom 12. Juni beschwert sich Leser Müller über die ›Herrenreiter-Mentalität‹, soll wohl heißen, das Verkehr und Natur gefährdende Rauditum von Radfahrern, besonders Mountainbikern. Ja, wenn diese sich doch wie Herrenreiter verhielten, dann würden sie in jeder Lage ihr Gefährt beherrschen, sich an Radwege halten und nicht auf Schnellstraßen fahren, nicht querfeldein über Saatfelder oder Lichtungen im Wald radeln. Die Begriffe ›Herrenreiter-Mentalität‹ und ›Gutsherrenart‹ werden heute von Leuten zur Bezeichnung rücksichtslosen autoritären Verhaltens gebraucht, die weder einen sein Pferd feinfühlig beherrschenden echten Herrenreiter noch einen stetig um seinen Betrieb besorgten Gutsbesitzer jemals kennengelernt haben. (…) Als Mann, der über 65 Jahre in Ehren korrekt im Sattel sitzt, fühle ich mich durch Leser Müller desavouiert.«

Leserbriefe, die auf andere Leserbriefe reagieren, ein echtes Schatten-Genre. Und wohl nur in der F-Zeitung kann sich eine Zuschrift an einem 16. Julei mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit auf eine durch ein Kompositum ausgelöste Desavouierung vom 12. Juno beziehen. Das zeigt mal wieder die wahren Zeitläufe dieser Zeitung: Sie ist eben auch nach mehr als einem Monat noch frisch.

Womöglich, denkt sich der Umblätterer beim Frühjahrsputz, begreift man diese Zeitung überhaupt erst im Abtrag eines Jahres. Dazu muss sie dann natürlich möglichst lückenlos archiviert sein (von daher darf man nicht zu oft mit der FAZ-Abbesteller-Szene sympathisiert haben und sollte seine F-Zeitung auch immer gut vor San Andreas in der Bahn verteidigen, hehe).

Denn wer weiß, wieviele Briefe an die Herausgeber übers Jahr noch so miteinander kommunizieren? Die geheimen Leser-Netzwerke in der Offline-Blogosphäre der FAZ, das wäre doch mal eine schöne Plotstruktur für die nächste Staffel dieses Buches. Und ist für mich schon jetzt ein Ansporn zum nächsten Frühjahrsputz.

Die Vermeesung der Kunst

Leipzig, 22. Februar 2008, 06:02 | von Paco

Gabriel ist zurück. Der Überschriftenerfinder. Er war in den Fußstapfen von Harald Schmidt und Juan Moreno auf einer Weltreise, »um gewisse Studien zu vervollständigen«, wie er selber sagt. So habe er endlich den tieferen Zusammenhang (den es eigentlich nicht gibt) zwischen dem französischen ›c’est‹ und dem hebräischen ›זה‹ verstanden, die ja komischerweise intersprachlich eine ungefähre Homophonie bei ungefähr deckungsgleicher Semantik verbindet. Solche Erkenntnisse seien für einen Headliner Gold wert.

Anyway. Jetzt müsse er wieder ein bisschen Geld verdienen, daher kurz wieder Leipzig. Und sein neuestes Werk sei die Überschrift zu einem kritischen Artikel über Jonathan Meese und dessen Einfluss auf die Kunst und den Betrieb. Eine nicht näher genannte Hochleistungszeitung hatte angefragt. Den Namen des Artikelschreibers kenne er, wie immer, nicht. Und das hier sei also jetzt die Headline, an der er eine ganze Woche intensiv gearbeitet habe:

Die Vermeesung der Kunst

Gabriel hat dafür 3.500 Dollar eingestrichen, allegedly. Warum er in Dollar bezahlt wird für eine deutsche Überschrift, diese Frage fällt mir erst jetzt ein. Warum er so viel Geld für nur 4 Wörter bekommt, das frage ich dagegen nicht mehr. Von dieser Überschrift werden alle reden, mindestens eine Woche lang. Sie wird den Text, dem sie vorsteht, unerheblich machen.

Eine gute Feuilleton-Überschrift mache man nicht so nebenbei. Es gebe zwar auch in diesem Métier Anfängerglück, aber wenn die »Jungle World« für ihre Titelzeile mal eben den Layouter ein bisschen brainstormen lässt, das sei doch wohl so wie beim Schuster ein Walnussbrot kaufen: In seltenen Fällen hat der alte Schuhklopper vielleicht zufällig eins da, aber dann wird es sicher nach Schuhcreme und siechendem Leder riechen und nicht nach Walnuss und frisch gebackenem Teig.

Warum die »Vermeesungs«-Überschrift so gut ist, vielleicht die beste des Jahres, auf jeden Fall ihr Geld wert?

Sie lebt vor allem natürlich von der parodierenden Anspielung auf Daniel Kehlmann und seinen bestsellerischen Gauß/Humboldt-Roman »Die Vermessung der Welt«. Eine derartige klangbasierte Parodie könne aber jeder verbrechen, so Gabriel. Wenn sie dann aussagemäßig nicht zum parodierten Gegenstand passe, bleibe sie aber ein Kalauer, »das schlimmste Verbrechen der Semantik«. So sei es übrigens bei den meisten Überschriften, dadurch werde jede Langzeitwirkung zerstört.

Gabriel rechnet die Wirkung von Überschriften ja immer aus, ich weiß aber immer noch nicht, was genau er damit meint.

Seine »Vermeesung« werde wie alle Hit-Überschriften erst durch all die Nebeneffekte wirklich tiefgängig. Allein die Ersetzung der ›Welt‹ durch die ›Kunst‹ sei ein Volltreffer. Dann gebe es noch solche Faktoren wie den, dass ›Meese‹ und ›-mess-‹ auch an das griechische ›μέσος‹ (›mesos‹) erinnern, zu dt. ›mittig‹, ›Mittel-‹. Es ruft also den Terminus Meso-Mäßigkeit auf den Plan, so wie einige Leute ›Meso-Amerika‹ für ›Mittelamerika‹ sagen. Die Assoziation ›Meese-Mäßigkeit‹ stelle sich dann schnell ein, und diese Hervorhebung der Vermittelmäßigkeitung (whoa!) sei auch genau die von der Zeitung nachgefragte Tendenz des Artikels, den ja irgendein Kunsthistoriker bzw. Kunstkritiker schreibt bzw. schreiben wird.

Freilich entspräche das Meso-Wort letztlich eher dieser explodierend-bunten »Spiegel Online«-Wortspiel-Ästhetik. Aber eben nicht nur. Und ob die Meso-Anspielung überhaupt gleich jemand mitbekomme, das sei nicht die Frage. Über eine gute Überschrift könne man eben länger nachdenken als über ganze Celan-Gedichtbände. Und die Meso-Mäßigkeit bestimmter Kunstwerke und einer bestimmten Künstlergeneration werde ja eh vom Artikelschreiber thematisch bespielt, insofern gebe es da kein verschossenes Pulver.

Eine gute Feuilleton-Überschrift, sagt Gabriel, muss den kompletten dazugehörigen Artikel ersetzen können. Sie muss der Artikel sein. Und das schafft diese Headline, hier also noch mal der sozusagen komplette Artikel zu Jonathan Meese, seiner Kunst und deren Einfluss auf all die mediokren Strömungen im kontemporären Kunstbetrieb:

Die Vermeesung der Kunst

Matthias Grünewald in Karlsruhe

Karlsruhe, 21. Februar 2008, 11:38 | von Austin

Der Umblätterer unterwegs. Heute: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, »Matthias Grünewald und seine Zeit«. Die vollste und stressigste Ausstellung seit langem. Gute Güte. Menschenmassen. Bildungswillige Rentner drängen sich durch die Räume; hunderttausend Jahre verstellen einem den Weg.

Eine absolute Unsitte: Diese schwarzen Ausstellungsklappstühle. Rentner brauchen sie nicht, um sich mal hinzusetzen (dazu nehmen sie ihren Rollator mit), sie schieben damit die Konkurrenz weg, klappen sie vor dem Bild blitzschnell auf und sichern sich so einen unverrückbaren Blick in der ersten Reihe.

Allerdings sind auch viele Besucher von der Bedienung der monströs geratenen Handapparate der Audio-Guides mehr gefangen genommen als von der Ausstellung. (»Der Faltenwurf ist ganz bemerkenswert.« – »Wo steht das?« – »Sagt der Guide hier.« – »??« – »Taste 20!« – »??« – »Du tippst 0020!«)

Und dennoch wehen durch die Räume von allüberall immer wieder Fetzen des vertrauenswürdigen Baritons aus dem Audio-Guide, wie er mit warmer Stimme die Angst vor der Kunst nimmt: … vor dunklem Hintergrund liegt der Leichnam Jesuwird der Blick des Betrachters gelenkt aufdahinter, am Rand des Bildes, ein Mann … Irgendwie kommt es einem so vor, als ob diese Stimme darauf mittlerweile in vielen Museen das Monopol hat, eine Art Christian Brückner der Kunstaufbereitung.

Ansonsten wird mit viel Materialaufwand verhangen, dass der Isenheimer Altar als das uneinholbare Hauptwerk, die »Supernova der Kunst«, wie die »ZEIT« grandioserweise titelte (6. 12. 2007), nun einmal in Colmar hängt. Bei manchen Besuchern geht der Schock noch tiefer: »Ursula, die Bilder sind gar nicht alle von dem Grünewald.«

Bemerkenswerterweise, ein Seitenaspekt der Kunstgeschichte, sind im 16. Jahrhundert Jesus et al. zu ca. 80 Prozent an expliziten Stellen rasiert. Würden sie heute in jeder Sauna durchgehen.

Im Übrigen viel Bourdieu. Vor Grünewalds »Kreuzigung« vom Tauberbischofsheimer Altar: »Schau mal, Marias gefaltete Hände.« – »Ja. Aber die ›Betenden Hände‹ von Dürer finde ich doch besser. Die sind so toll.« Dann, am Nachbarbild, tatsächlich live, the everlasting Top-Act in allen Museen: »Also, wir gehen dann jetzt langsam.« – »Ja, man kann sich ja gar nicht alles anschauen.«

Genau. Und deshalb hier der nutzpraktische Service des Umblätterers: Die drei Bilder, die man gesehen haben sollte. Und dann kann man eigentlich fast auch schon wieder gehen.

1) Die »Kreuzigung« des Tauberbischofsheimer Altars (Nr. 50). Nicht wegen der Hände Mariens, sondern weil die Kreuzigung fast so tot und wüst ist und so viel unendliche Leere verströmt wie die des Isenheimer Altars. Nicht ganz, aber fast. (Als Ergänzung: Nr. 83, »Christus am Kreuz«. Kohlezeichnung. Das Ganze in schwarz-weiß.)

2) Grünewalds »Beweinung Christi« (Nr. 105). Diesmal wegen der Hände Mariens. Knapp über dem bildfüllend hingestreckten Leib Christi platziert, sind sie auch das einzige, was in diesem Supercinemascope-Format überhaupt von Maria zu sehen ist. Der Rest, und also überhaupt die eigentliche Beweinung, liegt jenseits des Rahmens im Ungemalten – ausgespart, angedeutet, über den Bildrand hinaus gedacht. Was für eine Erzählperspektive. (Der drängendste Verwandte dazu: Hans Holbein d. J., »Der Leichnam Christi im Grabe«, Kunstmuseum Basel.)

3) Als Fan gegenwärtiger US-amerikanischer TV-Serien, als Fan des Weglassens & Andeutens, als Verfechter kühner Perspektiven, als Anhänger kultivierten Erzählens [siehe auch 2)] kam der Umblätterer nicht vorbei an Hans Baldung Griens »Beweinung Christi« (Nr. 106), einer Leihgabe aus der schönen und von uns auch sehr geliebten Stadt Innsbruck. Weil: Christus liegt am Boden, und von den Übrigen der am Kalvarienberg Hingerichteten zeigt uns HBG nur noch die Füße.

Die Ausstellung kostet 9 Euro Eintritt. Das macht pro Bild 3 Euro. Nimmt man die Zeichnung noch hinzu, sind es sogar nur 2,25 Euro. Das geht absolut okay.

Kummer, Kracht und das
Copy-Shop-Feeling bei »Tempo«

Konstanz, 20. Februar 2008, 12:12 | von Marcuccio

Vor knapp einem Jahr sind Tom Kummers Memoiren »Blow up« erschienen. Eben gelesen stimme ich mit Gerrit Bartels absolut überein, dass das Buch »große, feine Momente« hat. So gibt es zum Beispiel endlich mal wieder frische Mythen aus dem Hause »Tempo«. Zwei davon exklusiv hier, in unserem Reading Room. (Zahlen in Klammern = Seitennachweise aus »Blow up«).

1. Wie Tom Kummer enthüllt: »Tempo« war eigentlich gar kein Zeitgeist-Magazin, sondern ein Copy-Shop!

»Mein erster Gedanke beim Betreten der Redaktionsräume war dieser: Habe ich mich im Eingang geirrt? Hier sah alles wie in Copyland aus. (…) Die Tempo-Redaktion erinnerte mich an eine Mischung aus (…) schmucklosen Kopierläden und studentischen Wohngemeinschaften. Ich war ein wenig überrascht, wenn man bedenkt, wie edel das Gebäude von außen wirkte und wie glamourös sich das Heft gab«. (104 f.)

Im Innern war »Tempo« also eigentlich ein Copy-Shop. Und als solcher zugleich die Achtziger-Jahre-Vorform der Blogosphäre. Kummer schreibt das jetzt nicht explizit (zum Glück!), aber er suggeriert es durchaus plausibel:

»Mit Kopierläden kannte ich mich gut aus, das waren (…) die besonderen Treffpunkte zeitgeistiger Strömungen. Man konnte in Kopierläden die aufregendsten Menschen kennenlernen, Leute, denen man sonst nie begegnen würde. Recherchen im Internet gab es noch nicht – alles musste mühsam aus Heften und Büchern rauskopiert werden, und so wurden bestimmt einige der ganz großen Ideen zum ersten in einem Kopierladen geboren.« (105)

Konsequenterweise pflegte »Tempo« nicht nur den Copy-Shop-Look, sondern auch die echte (in solchen Läden ja durchaus bis heute übliche) Ich-bedien-dich-nicht-Atmosphäre:

»Eine Traube von Leuten stand um ein Kopiergerät herum. Alle Köpfe drehten sich jetzt in meine Richtung. Es waren wohl Redakteurinnen und Sekretärinnen, die mich mit cooler Herablassung anglotzten und gleich wieder mit cooler Herablassung wegschauten. (…) Vielleicht wurde ich für einen Fahrradkurier gehalten. Niemand schien mich zu bemerken. (…) Nach zehn Minuten fragte mich eine junge Frau, ob sie mir helfen könne.« (105 f.)

Und dann darf der Fahrradkurier tatsächlich bei »Tempo« anfangen, und kriegt sogar schon bald Verstärkung.

2. Wie Christian Kracht zu »Tempo« kam, für Kummer kopieren musste und das Ergebnis nicht streifenfrei war:

»Ein junger, blondhaariger Schnösel betrat irgendwann die Redaktion. Er war Volontär oder so etwas in der Art und stellte sich als Christian vor. Er sei Schweizer. Das konnte ich kaum glauben, denn der Blonde konnte kein Schweizerdeutsch, was sehr lustig war. Ein Schweizer, der keinen Dialekt spricht – davon hatte ich noch nie gehört.« (117)

Wenn es damals schon einen gewissen Fabian Unteregger gegeben hätte, würde ich ja fast wetten, dass es der nicht bestandene Schnütsgüfeli-Test war, der Kracht das Los des Kopiersklaven unter Eidgenossen bescherte. Vielleicht haben die beiden aber auch ein Schwingen ausgetragen, um zu entscheiden, wer wem was zu sagen hat? Jedenfalls (Kummer):

»Ich sagte dem Blonden, er solle mir beim Kopieren helfen, wenn er schon sonst nichts zu tun hätte, ich hatte mir nämlich ein riesiges Arsenal von Fachliteratur für meinen nächsten großen Auftrag besorgt: Drogen in Deutschland – der ultimative Tempo-Test. Und so kopierte ich mit dem Blonden alles, was man über Kokain, Heroin, LSD so finden konnte. Ich erzählte dem Blonden, was für eine grandiose Geschichte dies werden würde, eine Reise durch Deutschland, auf der Suche nach den besten und miesesten Drogen, die diese Republik zu bieten habe. Und dass das gleichzeitig ein Sittenbild werden solle über ein Land das es in dieser Form bald nicht mehr geben würde.« (117)

Na ja, der »Tempo«-Drogenreport schaffte es dann, wie Kummer später schreibt, nie ins Heft. Aber aus der Reise durch Deutschland, den miesen Drogen und dem Sittenbild wurde ja immerhin noch … »Faserland«, genau.

Kummers Kopierauftrag bei »Tempo« als Keimzelle für Krachts literarische Karriere – das wäre dann aber wirklich noch ein hübsche späte Pointe auf Willi Winklers frühe »These von der Geburt der neuesten deutschen Literatur aus dem Geist der Szenezeitschriften« (S-Zeitung vom 14. April 1987). Achtziger-Jahre-Feuilleton, auf jeden Fall – wir Umblätterer machen da manchmal so Retro-Abende, hehe.

Und logischerweise meinte Winkler seinerzeit gar nicht Kracht, sondern Joachim Lottmann, der gerade »Mai Juni Juli« veröffentlicht hatte. Derselbe Lottmann behauptete dann aber Jahre später auch:

»Als später Christian Kracht mit einer Kopie von ›Mai, Juni, Juli‹ triumphal als Begründer der deutschen Popliteratur gefeiert wurde, rief er mich mit belegter Stimme an; ich glaube, er hatte geweint.«

Ob Lottmann sich derweil eigentlich auch bei »Tempo« verdingt hat und wer dort nun welche Vorlage beim Kopieren vergessen hat, je ne sais pas. Das wird dann aber hoffentlich mal in aller Gründlichkeit die historisch-kritische Kracht-Ausgabe klären. Und am Ende ging wahrscheinlich sowieso alles über den »Tempo«-Kopierer. Ich vermute ja fast: Auch das legendäre Faserland-Design ist Copy Art – oder arbeiteten die Kopierer der »Tempo«-Jahre wirklich schon streifenfrei?

Lost: 4. Staffel, 3. Folge

London, 19. Februar 2008, 22:12 | von Dique

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »The Economist«
Episode Number: 4.03 (#74)
First Aired: February 14, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Der Ökonom« (EA 29. 6. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Eine Sayid-Folge, und man fragt sich, wie der ehemalige Foltermeister der Republikanischen Garde immer wieder zum Werkzeug dunkler Mächte wird. Besonders, wenn man ihn von der Insel her kennt, kontrolliert, dominant und somewhat in charge. So wie er in dieser Folge bei seiner Charlotte-Befreiungsaktion rüberkommt, um dadurch auf den Frachter vor der Küste zu gelangen, wie es ihm als Lohn in Aussicht gestellt wird von dem Chopper-Pilot, der aussieht wie der Typ aus »Tropical Heat«, nur eben in alt und versoffen.

Aber so tough er auch sein mag, Sayid hat erkannt: »Everyone has a boss.« Seine Dienstherren scheinen bevorzugt zur Kategorie ›schlimme Finger‹ zu gehören, wenn man seinen Werdegang vom Folterer zum Auftragsmörder von Bens Gnaden betrachtet. Von diesem neuesten Karriereschritt wird uns nämlich im Flashforward gegen Ende der Folge berichtet. Dabei hatte er auf der Insel noch getönt: »The day I start trusting him [Ben] is the day I would have sold my soul.« Hat er also in einem faustischen Pakt, von dem wir noch nichts wissen, seine Seele verkauft?

Und was wissen wir schon. Für jeden Ansatz einer Erklärung, und davon gibt es in dieser Folge glücklicherweise mal so einige, werden uns immer wieder neue Fallstricke der Verwirrung gedreht, werden neue Personen und schwindelerregende Plot-Winkelzüge präsentiert.

Da schlendert nun der harte, weiche Sayid, ›der weiche Riese‹ möchte man sagen, ein bisschen wie Axel Schulz, nur ohne die frischen Koteletts auf den Augen, durchs winternasse Berlin und verliert, binnen einer Folge, erneut eine blonde Geliebte. Bauchschuss. So starb auch Shannon auf der Insel (am Ende von Folge 2.06), nur hat Sayid diesmal in Berlin selbst die Hand am Abzug.

Im Café »Die Mauer« lernt er Elsa kennen. Sie soll eigentlich nur ein Lockvogel sein, eine Informationsquelle, ein Vorwand. Der Mörder Sayid, das kann man ruhig mal so hart sagen, will ihren Boss niederstrecken, so wie er den Herrn zu Anfang der Folge auf dem Seychellen-Golfplatz erledigt hat. Der altmodische Boss von Elsa, über den wir nichts wissen, wird ein alter Bekannter sein. Dazu gibt es sicher bald mehr, oder eben gegen Ende der 6. Staffel, falls es die Autoren irgendwie zwischenzeitlich vergessen, verschieben oder verplanen. Deshalb frage ich auch nicht schon wieder nach dem Statuenrest mit den vier Zehen.

Die Folge ist auch wieder ein bisschen touristisch, so wie Paco es bei der letzten Folge bereits feststellte, nach dem anfänglichen Abstecher auf die Seychellen wird uns ein kühles Deutschland präsentiert, Berlin. Und es gibt auch wieder Namensspiele: Sayids Geliebte (und Opfer) Elsa erinnert einerseits an den berühmten Exploitationklassiker »Ilsa, She Wolf of the SS« von Don Edmonds, hehe, aber vor allem natürlich an die ach-so-deutsche Elsa (von Brabant) aus Wagners »Lohengrin«. Die Parallelen der Todesumstände beider Elsas sind zumindest recht deutlich. Aber vielleicht gehen wir hier ein bisschen zu weit mit unseren Mutmaßungen, denn eine Zigarre ist manchmal eben nur eine Zigarre.

Wo wir gerade dabei sind, Namen, Zahlen … Faraday lässt vom Frachter aus eine kontrollierte Rakete auf seine Position abschießen, welche mit einiger Zeitverzögerung auf der Insel ankommt. Die Zeit auf der Insel scheint deutlich langsamer zu laufen. Das ist natürlich ein dickes Ei. Erklärt vielleicht auch, warum Richard, den Ben auf seiner kurzen Flucht während seiner Kindheit hinter den Sicherheitspylonen im Wald traf (Folge 3.20), seither nicht oder nur sehr wenig gealtert ist. Als er ihn nach dem Massenmord an der gesamten Dharma-Besetzung wiedertraf, sah der noch genauso aus, aber aus dem jungen Benjamin war inzwischen ein Mann geworden.

Die Rakete brauchte übrigens 03:16:22 Realflugzeit, nach Inselmessung aber nur 02:45:03. 3+1+6+2+2=14 (1+4=5, die Quersumme von 23). Nun mal bitte die Inselzeit zusammenrechnen, scary, platt oder Zufall? Ach so, flight number 8+1+5, hehe.

Es gab ja das U-Boot, und wir wissen auch um den Kontakt der Inselbewohner mit der Außenwelt, welcher allerdings immer sehr sporadisch wirkte und an dem Ben nicht beteiligt war. Es erschien immer, als hätte er sein Leben nach der Ankunft auf der Insel ausschließlich dort verbracht. Nun entdeckt aber Sayid diesen geheimen Raum in Bens Haus (ganz klassisch: ein drehbares Bücherregal).

Ein Raum voller Pässe, plus Geld in verschiedenen Währungen und anderen Reiseutensilien. Ben war also out and about in der weiten Welt. Und dann bekommen wir noch einen kurzen Blick auf Bens Schweizer Reisepass. Und was wird wohl herauskommen, wenn wir von Bens Geburtsdatum die Quersumme bilden, 3. März 62, 3+3+6+2?

Bens Reisetätigkeit wird auch erklären, warum einige Leute auf ihn so sauer sind und ihn suchen. Es sieht nach Rache der Dharma-Initiative aus. Vielleicht gehört Ben zu einer Organisation, die direkt mit den Dharmas in Konkurrenz steht. Nach dem in Tunesien freigelegten Skelett eines Eisbären mit Dharma-Halsband liegt die Vermutung nahe, dass Dharma nicht nur auf der Insel Experimente mit dem weißen Meister Petz durchführte, sondern verschiedene Stationen betrieb.

Vielleicht hat Ben die alle nacheinander ausgeschaltet. Die Insel war für ihn sicherer Fluchtpunkt, denn niemand konnte sie orten, aber nach der Explosion im Hatch und der Zerstörung von »The Looking Glass« hat sich das alles geändert, und die heile Inselwelt des Benjamin Linus entgleitet immer mehr ins Chaos.

Locke führt in der aktuellen Folge seine »Herde« über die Insel und folgt dabei seinem ganz persönlichen Abendstern, in Form von Mr. Ekos Schnitzereien. Nun begegnen sich die Gruppen at gunpoint, aber doch zivilisiert. Sayid wird von Kate überrascht, noch ehe er seine Gedanken über Bens Versteck verdauen kann und wird, wie zufällig, zu Ben gesperrt, der ihn mit »I guess they’re running out of jail space« begrüßt.

Vielleicht haben die beiden hier ihren teuflischen Pakt geschmiedet, obwohl dafür wohl die Zeit nicht gelangt haben dürfte. Denn Sayid wird sich schnell einig mit Locke: Er tauscht Charlotte gegen den Geisterjäger Miles und kehrt mit ihr zum Heli zurück, zu Jack und den anderen. Der Plan geht auf, und der Chopper hebt ab, mit dem versoffenen Tropical-Heat-Piloten, Sayid, Desmond und der toten Naomi.

Für Herz und Record, Kate hat sich mal wieder für Sawyer (und damit die Insel) entschieden, aus Mangel an Perspektive. Das wird sie sich aber scheinbar noch mal anders überlegen, schließlich ist sie eine der Oceanic Six. Wie übrigens eben auch Sayid, der jetzt Nr. 4 von 6 ist, fehlen also noch 2 (wenn man Ben nicht mitzählt, der ja im Flashforward mit Sayid unterwegs war). Die Komplettierung dieses Figuren-Sixpacks ist im Moment wohl die spannendste Perspektive, und sie wird auch nicht so lange auf sich warten lassen wie die Auflösungen all der anderen Fragen (die Monumentalstatue mit den vier Zehen will ich gar nicht erst wieder erwähnen, was zur Hölle ist das!).

Die FAS gegen Jonathan Littell

Leipzig, 18. Februar 2008, 23:47 | von Paco

Frank Schirrmacher hatte von »keinem Jahrhundertbuch« gesprochen, das Ding aber immerhin für »groß und kalt« erklärt. Natürlich war von Volker Weidermann in der gestrigen FAS (19. 2. 2008) kein fundamentaler Widerspruch zu erwarten, wobei er in seiner Besprechung die »kalt«-Komponente betont, sehr betont, und auch sein Abgestoßensein beschreibt, sehr eindrucksvoll beschreibt. Aber an der Größe des Buchs kommt nun mal offenbar keiner so schnell vorbei, und deshalb betreibt die FAS ihre Littell-Kritik anders. Und zwar so:

Als Aufmacher des FAS-Feuilletons wird eben nicht die Littell-Besprechung gebracht. Vielmehr widmet sich Johanna Adorján einem anderen, scheinbar nebensächlich-unbekannten Buch, dem späten Erinnerungsband eines KZ-Überlebenden (Shlomo Venezia: »Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz«, Karl-Blessing-Verlag).

Adorján betont, dass die deutsche Übersetzung vom Verlag »fast unbemerkt« herausgebracht wurde, sie »ist schon zu kaufen, ohne dass das jemand mitbekommen hätte«. Insofern ist dieser Feuilleton-Aufmacher ein starkes Stück: Jetzt ist auch mal wieder ein Opfer dran, und zwar ein echtes, und nicht so ein zusammengedachter Täter wie Max Aue. Das ist einfach grandios, besser kann man diesen Punkt nicht machen.

Littell dann auf den hinteren Feuilleton-Seiten, und auch diese Seite ist voll von Subversion gegen ihren Gegenstand. Die Besprechung von Volker Weidermann ätzt gegen das Buch, und wenn man den Artikel in der Mitte beendet und beiseitelegt (wie es der Rezensent auch gern mit dem Buch getan hätte), bleibt nichts von diesem Nicht-Jahrhundert-Buch.

An einer Stelle schreibt V. W., dass man irgendwann erkenne, »dass Littell eben nicht nur ein großer Quellenkenner und Menschenentblößer ist, sondern auch ein großer Schriftsteller«. Jeder Leser wird sich mit Grausen an die langatmigen Quellenkunde-Passagen erinnern, sofern er sie sich angetan hat, und das Attribut »großer Quellenkundiger« klingt hier im Text so positiv, es ist aber natürlich das genaue Gegenteil von Literatur.

Und noch etwas fällt auf dieser Feuilleton-Seite Nr. 27 auf: Im rechten unteren Viertel der Seite prangt als Werbung für die Thalia-Buchhandlungen der Hinweis auf einen Stangenware-Endzeit-Thriller, der beworben wird mit dem Slogan: »Das Buch des Monats!«

Wie auch immer dieser Werbeblock da hingelangt ist, es steht nun mal da, im direkten Vergleich mit Littell: »Black Monday« von R. Scott Reiss ist das Buch des Monats, nicht »Die Wohlgesinnten«. Deutlicher kann man den Littell-Hype nicht unterwandern. Daran können sich alle anderen mal wieder ein Beispiel nehmen. Sowas kann offenbar nur die FAS.

Genesis und der Gipfel der Verachtung

London, 18. Februar 2008, 12:46 | von Dique

Gestern in der FAS Helmut Krausser über Genesis. Der Anfang des Artikels:

»Ich verstehe all jene, die im Pop das Leichte suchen und die Fortsetzung der E-Musik mit anderen Mitteln verabscheuen, vielmehr, ich verstehe sie nicht und verabscheue sie. Denn sich gegen ein Leben mit komplexer Musik zu entscheiden, bedeutet, sich einen der dicksten, fruchtvollsten Äste im Baum der Schöpfung unterm Arsch wegzusägen.«

Feinste kraussersche Wortgewalt und deswegen lese ich den Text, nicht wirklich wegen Genesis. Deshalb kann ich auch Kraussers Betrachtungen nur am Rande nachvollziehen, weil ich die Musik der frühen Genesis kaum kenne und auch mit deren Rezeptionsgeschichte nicht vertraut bin.

Wer mir aber sofort einfällt, ist Patrick Bateman, der mordende Wall-Street-Yuppie aus »American Psycho«, der von Bret Easton Ellis dazu angehalten wurde, neben Whitney Houston auch Genesis einer musikkritischen Analyse zu unterziehen, als Ausgleich zu seinen blutrünstigen Eskapaden.

Bateman textet allerdings mit deutlich weniger Tiefgang als Krausser. Da ich im Café sitze, kann ich die Stellen nicht gleich noch mal nachschlagen, nehme mir das aber für daheim vor, doch da erwähnt es Krausser schon selbst. Er sieht darin den »Gipfel der Verachtung« für die Band erreicht, hält es aber für dankenswert, dass Bateman die Anfänge der Band nie verstanden habe und sie daher in seinen Betrachtungen unberücksichtigt lässt.

Schöner Text also in der FAS, der mich aber nicht wirklich für die Musik von Genesis erwärmen konnte. Das ist nicht meine Zeit, auch wenn Krausser gerade deren Zeitlosigkeit unterstreicht. Der Text hat mich aber daran erinnert, dass es Zeit ist, Kraussers neues Buch zu kaufen, »Die kleinen Gärten des Maestro Puccini«. Puccini ist ja auch nicht meine Zeit, könnte man sagen, aber von dessen Zeitlosigkeit muss mich keiner überzeugen.

Kaffeehaus des Monats (Teil 24)

sine loco, 17. Februar 2008, 17:10 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Cafe Front Page, København

Kopenhagen
Das Cafe Front Page am Sortedam Dossering.

(Warnung: Erst ab 11 geöffnet. Wenn man mal zu früh
dran ist, kann man um die Ecke ins Sebastopol gehen,
Skt Hans Torv 32, bzw. das sollte man sowieso tun,
denn es ist vielleicht auf jeden Fall eigentlich fast
noch viel besser als das Front Page.)

Cloverfield!

Hamburg, 16. Februar 2008, 14:46 | von San Andreas

»I knew that if I went to the theater having never heard about this movie and saw that trailer I’d lose my mind.«

Besagter Trailer verfehlte seine Wirkung nicht. Im Vorprogramm zu »Transformers« tauchte er zum ersten Mal auf. Verwackelte Amateuraufnahmen, fremde Gesichter, eine Party. Plötzlich ein Erdstoß. Verwirrung. Eine Explosion in der Ferne. Hektik, Chaos. Ein Objekt fällt vom Himmel, stürzt krachend die Avenue entlang, kommt zu liegen. Es ist der Kopf der Freiheitsstatue. Das Bild reißt ab. Dann in kleiner Schrift der Code »1-18-08« sowie ein Name: J. J. Abrams.

Die Kino-Community spielte verrückt: Wo kam dieser Film her? Wieso wusste niemand davon? Und los ging die Schnitzeljagd. Ein T-Shirt-Aufdruck im Trailer führte zunächst zu einem japanischen Erfrischungsgetränk namens Slusho. Fotos auf der Seite www.1-18-08.com bargen Namen auf der Rückseite, zu denen komplette MySpace-Seiten aufgespürt wurden.

Auf einem der Bilder fand sich ein Rezept in japanischer Schrift, dessen obskurste Zutat – ›deep sea nectar‹ – per Babelfish und Google zum Konzern Tagruato führte, dem Slusho-Hersteller, der offenbar wegen weltweiter Tiefseebohrungen in der Kritik stand. Hatten die am Ende etwas aufgeweckt in der Tiefe des Ozeans …?

Man muss Berufs-Geheimniskrämer Abrams dankbar sein, dass er die Idee nicht zu einer zehnstaffeligen Serie ausgewalzt hat. Der Teaser und die Köder im Netz entfachten zumindest eine Euphorie, wie es der beste »Lost«-Cliffhanger nicht vermag. Freilich hatten die Info-Schnipsel nur peripher etwas mit dem Film zu tun – nichts konnte die Filmgemeinde darauf vorbereiten, was sie im Begriff war zu erleben.

»Amazing! It lives up to the hype.« (Empire Magazine)

Ja, tatsächlich. Die angesichts der sich überschlagenden Erwartungen recht wahrscheinliche Enttäuschung blieb aus. Es geschah stattdessen der seltene Fall einer Filmerfahrung, die einen mit dem Gefühl zurückließ, etwas wirklich Neues, genuin Neues gesehen zu haben.

Die Betonung liegt auf ›sehen‹. Seeing is believing, sagt man ja gerne, und die Devise findet in »Cloverfield« wohl ihre Vollendung. Mit dem Film hat der ›as real as can be‹-Anspruch des F/X-Kinos einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Spielbergs »War of the Worlds« hatte vor drei Jahren diesbezüglich ein neues Kapitel aufgeschlagen – mit einer dreckigen, ungeschliffenen Optik, den Effekten gleichsam beiläufig im Hintergrund, nahtlos integriert.

Cloverfield kombiniert diesen Ansatz mit dem »Blair Witch«-Kniff der subjektiven Wackelkamera. Ein cleveres Manöver, denn die ungeschönte, erratische Ästhetik von Home Movies verweist in unserer visuellen Erfahrung auf ein Höchstmaß an Authentizität. Bilder so schlecht, dass sie unmöglich künstlich sein können.

Bei Onkel Heinzens Hochzeitsvideos wirkt diese Wahrhaftigkeit durchaus schmerzhaft, denn ohne ästhetische Distanz, ohne formale Stilisierung wird das Ereignis seines Zaubers beraubt – genau des Zaubers, den Onkel Heinz eigentlich festhalten wollte. Kein Montage-Rhythmus, kein Bildaufbau, nicht die Spur einer vernünftigen Mise-en-scène. Stattdessen unerbittliche Wirklichkeit.

Derselbe profanisierende Effekt ereilt das »Cloverfield«-Publikum, nur dass der ungeschliffene Boden der Tatsachen hier keine banale Realität, sondern ein wahnwitziges Monsterszenario darstellt. Das Ergebnis ist frappierend.

»An effective film, deploying its special effects well and never breaking the illusion that it is all happening as we see it.« (Roger Ebert)

Die Abwesenheit filmischer Konventionen reduziert den Zuschauer auf ein Kaninchen im Bannstrahl der Bilder, auf einen Spielball seiner Reflexe. Konditionierte Erwartungen gehen über Bord, zur Neu-Justage bleibt keine Gelegenheit, denn der Echtzeit-Malstrom reißt einen fort. One hell of a ride.

Wiewohl sich, sieht man New Yorker Wolkenkratzer in ultimativ dokumentarischem Augenschein in sich zusammenbrechen, automatisch auch beklemmendere Assoziationen einstellen. Die Tatsache, dass die mediale Berichterstattung uns den Terror immer öfter über die fahrigen Handy-Kamera-Clips von Passanten vermittelt, findet in »Cloverfield« einen Widerhall, der den Schrecken nicht eben mindert.

Dass der Film ansonsten thematisch nicht großartig über sich hinauswächst, ist leicht verziehen. Wie soll er auch. Das Konzept kappt zerebralen Ballast, reduziert die Filmerfahrung auf das nackte, unmittelbare Erleben. Liefert man sich dem aus, wird man mit einer sensorischen Achterbahnfahrt belohnt.

Ein guter Teil des deutschen Feuilletons hatte dazu keine Lust, mäkelte sauertöpfisch, gab sich intellektuell unterfordert, degradierte Kino-Begeisterte im Handstreich zu willfährigen Objekten cleverer Hype-Strategen und mahnte eine mangelnde emotionale Tiefe ebenso an wie das Fehlen inhaltlicher Originalität.

Doch in »Cloverfield« übersteigt die Form den Inhalt, knüpft die Filmwelt direkt an die Alltagserfahrung des Zuschauers an: subjektive, selektive, ungeordnete Wahrnehmung. Irgendwo ist das Kino pur; gilt doch gerade die Filmkunst als prädestiniert dafür, perzeptive Kanäle so zu bespielen, dass fast-reale Eindrücke möglich werden. Selten kam Fiktion dem Publikum so nahe.

Dass uns die Essenz des Kinos gerade aus einem Monstermovie heraus neu begegnet, der noch dazu das Vokabular der Leinwand links liegen lässt, hätten wir nicht erwartet. Kudos, Mr. Abrams.