»Die Wohlgesinnten« beschreiben insgesamt eine Verschiebung des Verdrängungsphänomens bezüglich des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Max Aue verdrängt eben nicht den Holocaust, seine Verstrickung, seine Verantwortlichkeit. Die erinnert und rechtfertigt er sehr dezidiert. Was er verdrängt, ist etwas anderes: seine Familientragödie, die nicht unmittelbar mit dem Kriegsgeschehen zu tun hat.
Auf der Ebene des Textes wird nicht ganz explizit, dass Max nun tatsächlich seine Mutter und Moreau, ihren neuen Ehemann, umgebracht hat. Das liegt daran, dass sich der Ich-Erzähler zum entscheidenden Zeitpunkt in einem Delirium der Verdrängung befindet.
Wer aber soll sonst der Mörder gewesen sein? Schon diese rhetorische Frage genügt unter Umständen zur Begründung. Aber auch eine genaue Textbetrachtung lässt keinen Zweifel übrig.
Nachdem er in Paris in einem Spiegel das Gesicht seiner Mutter imaginiert, der »läufigen Hündin« (S. 720), beschließt Aue, sie und ihren neuen Mann in Antibes zu besuchen:
»Mein panisches, kopfloses Denken hatte sich in den altbekannten heimtückischen Mörder verwandelt; (…). Schließlich ließ sich ein Gedanke fassen: Ich betrachtete ihn mit Abscheu, aber da kein anderer seinen Platz einnehmen wollte, musste ich ihm schließlich sein Recht zugestehen.« (S. 720)
« Ma pensée emballée, affolée, s’était muée en vieil assassin sournois ; (…). Enfin, une pensée se laissa saisir : je la contemplai avec dégoût, mais comme aucune autre ne voulait venir prendre sa place, je dus bien lui accorder son dû. » (pp. 735-736)
Welcher »Gedanke« das ist, wird schnell klar. Dabei wird er in Antibes willkommen geheißen, und obwohl er seine Animositäten sorgfältig pflegt, scheint es zunächst ein ganz normaler Besuch zu werden.
Nachdem Aue allerdings aus einem seltsamen Schlaf erwacht (S. 740), findet er seine Mutter und Moreau tot auf. Er rätselt, wer der Mörder sein könnte, verdrängt dabei aber, dass alles, wirklich alles dafür spricht, dass er es selber gewesen ist, der »altbekannte heimtückische Mörder«. Unmittelbar vor der Tat hatte Aue seinen Aufenthalt in Antibes rekapituliert, seinen Erinnerungsfilm an die familiäre Leidenszeit,
»und ich sagte mir, dass ich gesehen hätte, weswegen ich gekommen sei, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was das war; ich dachte schon an Abreise.« (S. 739)
« et je me dis que j’avais vu ce que j’étais venu voir, même si je ne savais toujours pas ce que c’était ; déjà, je songeais à partir. » (p. 755)
Er war also gekommen, um seine Mutter und Moreau zu sehen, das Defizit des verlorenen Vaters, den Verrat der Mutter zu spüren und dann zur Tat zu schreiten. Littell zelebriert hier überdeutlich den Bezug zur Orestie, deren Strukturvorbild er ja ständig betont hat.
Nachdem Aue den Tatort so schnell wie möglich wieder verlassen hat, wird er irgendwann von den beiden Kriminalkommissaren Clemens und Weser aufgesucht (deren Namen sich Littell aus Klemperers »LTI« entliehen hat, siehe Wikipedia), die ihn nun bis zum Romanende verfolgen werden.
Sie treiben ihren Verdächtigen mit immer neuen Fakten allmählich in die Enge, auch wenn Himmler persönlich die Untersuchungen zwischenzeitlich unterbindet, da Aue »rassisch unbedenklich«, des Muttermordes unfähig sei (S. 1053). Trotzdem lassen die »beiden Bulldoggen Clemens und Weser« nicht von ihm ab. Sie folgen ihm sogar bis nach Budapest (S. 1118-1120) und Pommern.
Einige Rezensenten setzen die beiden Polizisten schon mit den »Wohlgesinnten« des Titels gleich, aber so einfach ist es sicher nicht. Denn was bedeutet es dann, dass die beiden penetranten Ermittler am Ende des Romans tot sind? Aue beendet seine Niederschrift ja nicht als Erlöster, im Gegenteil.
»Wie es gewesen ist«
Als die Russen schon das Zentrum Berlins erreicht haben, wird Aue von Clemens und Weser in einem überfüllten U-Bahn-Schacht gestellt. Trotz der sich überschlagenden Kriegsereignisse haben sie scheinbar nichts anderes zu tun als Aue zu überführen: »Wir wollen Gerechtigkeit«, sagen sie. »Wir erzählen dir jetzt, wie es gewesen ist« (S. 1344) – « On va te raconter comment ça s’est passé » (p. 1377).
Aue habe Moreau mit Axthieben getötet, unter den Augen der Zwillinge, dann oben seine Mutter erwürgt. Der Wortlaut der Ankündigung – »wie es gewesen ist« – entspricht dem Romananfang und bietet eine Alternative zu Aues Version. Indem dieser aber auf seiner Version beharrt, muss der Akzent beim ersten Satz des Romans auf dem »mich« liegen (Christian Berkel zum Beispiel betont es nicht so):
»Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.«
« Frères humains ; laissez-moi vous raconter comment ça s’est passé. »
Und noch ein drittes Mal ertönt dieser Wortlaut, in Himmlers 2. Posener Rede (6. 10. 1943). Der Reichsführer-SS erzählt vor den Gauleitern einmalig ohne Tarnvokabeln von der Judenvernichtung, um »auch über diese Frage einmal ganz offen zu sprechen und zu sagen, wie es gewesen ist« (S. 930). Um sie alle daran zu erinnern, dass sie mitschuldig sind, um sie letztgültig zu motivieren, diesen Krieg doch noch zu gewinnen.
Littell hat diese historisch belegte Passage übrigens nicht mit dem »comment ça s’est passé« übersetzt, sondern so: »(…) pour vous dire comment sont les choses« (p. 951).
Wie dem auch sei: Im dreimaligen »Wie es gewesen ist« laufen Aues persönliche Familientragödie und der Holocaust zusammen. Es summiert sich zu jenem »ganzen Gewicht der Vergangenheit« (S. 1358), das Aue von den Wohlgesinnten bis zu seinem eigenen Tod hinterhergeschleppt wird.