Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 7):
Hitler als Vaterersatz, Rabbi, Nasenbesitzer

Leipzig, 17. November 2008, 07:32 | von Paco

Hitler ist im Roman natürlich eine immer irgendwie präsente Größe, auch wenn er nur an drei Stellen direkt auftaucht: als Vaterersatz, als Rabbi, als Nasenbesitzer.

Als Vaterersatz

Aue erinnert sich einmal an den Sommer 1930, an sein erstes Live-Erlebnis mit Hitler. Dieser hielt damals eine Rede, und sagte

»genau die Dinge, die mein Vater gesagt hätte, wenn er da gewesen wäre; wenn er noch da gewesen wäre, hätte er sicherlich auf dem Podium gestanden, als einer der Vertrauten dieses Mannes, einer seiner ersten Gefährten, vielleicht hätte er sich sogar, wer weiß, falls es das Schicksal gewollt hätte, an seiner Stelle befunden.« (S. 651)

« les choses que mon père aurait dites, s’il avait été présent ; s’il avait encore été là, il se serait certainement trouvé sur l’estrade, un des proches de cet homme, un de ses premiers compagnons, il aurait même pu, si tel avait été son sort, qui sait, se trouver à sa place. » (p. 666)

Interessant ist die Frage, wie die Rolle Hitlers als Ersatz für Aues verschwundenen Vater mit dem Biss in die große Führernase zusammenpasst (siehe unten).

Als Rabbi

Im März 1943 wohnt Aue einer Rede Hitlers im Zeughaus bei. Er wird währenddessen von Halluzinationen heimgesucht: Er sieht den Führer mit allen Attribute eines Rabbiners (S. 652-657). Aue schiebt dieses Erlebnis auf die Kugel, die ihm in Stalingrad durch seinen Kopf geschossen wurde:

»(…) hatte sie mir tatsächlich ein drittes Auge geöffnet, eines, das durch die Undurchdringlichkeit der Dinge sah?« (S. 657)

« (…) m’avait-elle réellement ouvert un troisième œil, celui qui voit à travers l’opacité des choses ? » (p. 671)

Aues gestörte Wahrnehmung liefert ein weiteres Beispiel für ein Leitmotiv des Buches, die Frage nach dem letztlich ausschlag­gebenden Grund für den Holocaust: Im Roman wird an mehreren Stellen und von verschiedenen Figuren eine zu starke Ähnlichkeits­beziehung zwischen Juden und Deutschen behauptet, die dann bei letzteren zu einem Vernichtungswillen ausgeartet sei. (Iris Radisch nennt diese Passagen die »trüben rassepsycholo­gischen Niederungen des Romans«. Das Thema interessiert besonders auch Klaus Theweleit, siehe dessen FAS-Artikel »Die jüdischen Zwillinge«.)

Als Nasenbesitzer

Gegen Ende des Romans soll Aue mit einigen anderen eine Auszeichnung erhalten, die ihnen vom Führer persönlich überreicht wird. Als Aue den zitternden Tattergreis näherkommen sieht, kann er nicht anders:

»Je näher der Führer kam (…), desto mehr richtete sich meine Aufmerksamkeit auf seine Nase. Ich hatte noch nie bemerkt, wie groß und unproportioniert diese Nase war.« (S. 1337)

« Au fur et à mesure que le Führer se rapprochait de moi – (…) – mon attention se fixait sur son nez. Je n’avais jamais remarqué à quel point ce nez était large et mal proportionné. » (p. 1369)

Das korrespondiert mit einer Bemerkung Albert Speers in den »Spandauer Tagebüchern«, der Vermutung, dass Hitler mit seinem ungewöhnlich abgehackten Schnauzer vor allem von der großen Nase ablenken wollte, die Aue jetzt so skandalös findet und in die er dann mit aller Kraft beißt.

Diese Tat ist vulgärfreudianisch ja recht schnell zu deuten. In der französischen Originalausgabe war noch von einem Kneifen (nicht einem Biss) in die Führernase die Rede – laut Littells zweitem Brief an seine Übersetzer eine Konzession an seinen Lektor, die in den Folgeauflagen und -ausgaben aber wieder zurückgenommen und durch den Nasenbiss ersetzt werden solle: »eine Geste, wie sie sehen, von einer ganz anderen Tragweite und entschieden anderen Bedeutung«.

So kurz vor dem Untergang ist das natürlich kein Attentat auf Hitlers Leben mehr. Der Biss hat einen deutlich libidinösen und kannibalistischen Charakter und erinnert an die ursprünglichste Form der Objekteinverleibung während der oralen Phase (Hitlers Gesicht als Mutterbrust). In dieser Szene kulminiert der ganze psychoanalytische Subtext des Buches.

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