Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 6):
Die Lermontow-Episode – Max Aue als Tourist

Leipzig, 16. November 2008, 09:02 | von Paco

Weil Aue nicht direkt an der Front eingesetzt wird und daher so etwas wie frei einteilbare Nachmittage hat, kann er sich in den eroberten Gebieten irgendwelche alten Kirchen und andere Sehenswürdigkeiten anschauen (etwa »eine prachtvolle kleine Kirche aus dem 11. Jahrhundert«; S. 172).

Für ihn stellt die SS also auch eine Art Tourismusgelegenheit dar, die ihm zur Pflege und zum Stimulans seiner klassischen Bildung dient.

Ein Beispiel dafür ist die Lermontow-Episode (S. 369-378). Zusammen mit dem Sprachwissenschaftler Dr. Voss macht er sich in der Gegend um Pjatigorsk auf den Weg zu den Lermontow-Stätten:

1. Museum und Bibliothek. Sie schauen sich Porträts von Lermontow und seinem Mörder Martynow an, außerdem den aus St. Petersburg herbeigeschafften Tisch, auf dem er angeblich »Ein Held unserer Zeit« (1840) geschrieben hat.

2. Der Prowal. Sie glauben sich zu erinnern, dass hier Petschorin der Vera begegnet ist.

3. Der weiße Obelisk, der an der Stelle errichtet wurde, an der Lermontow im Duell mit Martynow starb. »Wieder musste ich an Lermontow denken, der wenige Schritte von dort sterbend im Gras gelegen hatte, die Brust aufgerissen, wegen ein paar belangloser Worte über Martynows Kleidung.« (S. 375)

4. Der alte Friedhof, auf dem Lermontows Freunde ihn zunächst begraben hatten (Lermontows Überreste wurden später durch seine Großmutter mit nach Pensa genommen). Voss: »Wo Lermontow begraben lag, ist eine Stele.« (S. 376)

Man könnte diese Passagen tatsächlich zu einem Touristenführer zusammenfügen, dagegen steht natürlich das Umfeld, in dem Aue diese Sachen erlebt. Vor allem Aues romantische Gedanken an Lermontows Tod stehen in einem krassen Gegensatz zu den laufenden Massenerschießungen. Für derlei touristische Ausflüge überhaupt die Muße aufbringen zu können, als ob sonst nichts wäre, unterstreicht einmal mehr die Nähe zu Patrick Bateman.

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