Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 9):
Stalingrad

Leipzig, 19. November 2008, 08:55 | von Paco

Bei der Konferenz, in der über das Schicksal der Bergjuden entschieden wird (S. 453-466), hat Aue nicht energisch genug den Standpunkt der SS vertreten, meint Oberführer Bierkamp. Unter anderem deshalb wird er nach Stalingrad versetzt, wo das Feldpolizeiwesen um einen SD-Offizier gebeten hat.

Zwischen zwei Windböen erkannte ich ein Schild: STALINGRAD – ZUTRITT VERBOTEN – LEBENSGEFAHR. Ich wandte mich an meinen Nachbarn: »Ist das ein Witz?« Er warf mir einen rüden Blick zu: »Nein. Warum?« (S. 492)

Entre deux bourrasques j’aperçus un panneau : STALINGRAD – ENTRÉE INTERDITE – DANGER DE MORT. Je me tournai vers mon voisin : « C’est une blague ? » Il me regarda d’un air éteint : « Non. Pourquoi ? » (p. 504)

Im Kessel trifft er auf Thomas, der quietschfidel ist:

»Hier ist es sehr gut, vom miesen Fraß abgesehen. Und hinterher gibt’s Beförderungen, Auszeichnungen, e tutti quanti.« (S. 497)
»Stalingrad bot interessante Möglichkeiten.« (S. 498)

« C’est très bien, ici, à part le rata. Après, ça sera promotions, décorations, e tutti quanti. » (p. 509)
« Stalingrad offrait des possibilités interessantes. » (p. 511)

Nach einem kriegstouristischen Ausflug zu vorgeschobenen Stellungen (Begegnung mit dem kroatischen Oberfeldwebel Nišić) und einem weltanschaulichen Gespräch mit einem gefangenen Politkommissar wird Aue angeschossen und deliriert vor sich hin (in einer der quälendsten Passagen des Buches). Was wirklich passiert ist, erfahren wir erst nach dutzenden Seiten, als er auf S. 605/606 in einem Krankenhaus des Deutschen Roten Kreuzes in Hohenlychen erwacht.

Für seinen dreimonatigen Genesungsurlaub begibt er sich im Februar 1943 ins Berliner Hotel Eden (S. 618). Dort wird Anfang März direkt unter ihm eine laute überdrehte Party gefeiert, die Aue nicht mit seinen Stalingrad-Erlebnissen in Einklang bringen kann. Hier erlebt er einmal den unbeabsichtigten Zynismus anderer, und seine spontane Reaktion ist die: Er will die Partyleute sofort alle umbringen.

Doch dann weist er sie doch nur auf ihre Taktlosigkeit hin. Die Party wird auch sofort abgebrochen – aber das reicht Aue am Ende auch wieder nicht:

»Mein Vorgehen erschien mir wie eine Inszenierung, ausgelöst durch ein dunkles echtes Gefühl, dann aber durch eine konventionelle, zur Schau getragene Wut entstellt und verfälscht.« (S. 626)

« (…) : mon action m’apparaissait comme une mise en scène, mue par un sentiment vrai et obscur, mais ensuite faussée, déviée en une rage de parade, conventionnelle. » (p. 640)

Dieses nicht genau fassbare »echte Gefühl« interessiert Aue. Zu einem späteren Zeitpunkt wird er anders reagieren. Während er in den letzten Kriegstagen kurz an den Berliner Untergangs-Partys teilnimmt, läuft er seinem Lover Mihai über den Weg, der ihm in aller Öffentlichkeit Avancen macht, woraufhin ihn Aue auf der Toilette mit einem Schrubber tötet (S. 1321-1322).

Ihm ist es letztlich aber längst egal, wie er auf irgendetwas reagiert. Für ihn gibt es so oder so keine Rettung, auch wenn er den Krieg überlebt.

Eine Reaktion zu “Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 9):
Stalingrad”

  1. Jonas

    Die quälendsten Passagen sind ja leider aber auch gleichzeitig mit die besten und abseitigsten des Buches, die unverständlicherweise {erfüllt hier eine syntaktisch zweifache Funktion, merke ich gerade} ja auch niemand in ihren Kritiken einbezogen hat. Das sind ja wirklich gilliamoide Parcour-Chases auf Luftschiffen, absurde Spielchen mit tötungswillgen Tartarenzergen, etc., völlig sicker Quatsch, transzendent aufgeladener Budenzauber, etc.—aber quälend? Jedenfalls sind sie mir bildlicher in Erinnerung geblieben als das ganze Stalingrad davor.

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