Voyage Voyage (Teil 3):
»Männer über fünfzig mit Digitalkameras«

Konstanz, 6. Dezember 2008, 09:48 | von Marcuccio

Arezu Weitholz: Die Tosca-Fraktion. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. Juli 2007.

Durst im Reisejournalismus, das müssen nicht zwangsläufig pointenrülpsende Geschichten aus der Biertrinkerzone sein:

»Im Prospekt steht ein Zitat aus der Zeitung: ›Intimes Musizieren – ein Festival, das die durstige Seele erfrischt.‹ Das klingt gut«, denkt sich Arezu Weitholz und fliegt spontan von Berlin in die Toskana, zum so genannten Tuscan Sun Festival von Cortona.

Erste Zweifel kommen unterwegs: »Kann eine Seele überhaupt Durst haben?« Egal.

Vor Ort dann noch mehr Irritierendes: Name und künstlerische Leitung des Tuscan Sun Festival stellt die US-Amerikanerin Frances Mayes, die Cortona schon mit dem gleichnamigen Buch und Film ›beglückt‹ hat.

Ein Festival wie ein Amazon-Algorithmus

Leute, die »Under the Tuscan Sun« gesehen/gelesen und darüber hinaus Bücher gekauft haben, die »Cappuccino zu dritt« oder »How I discovered my inner Italian« heißen – diese Leute mögen sicher nicht nur die Toskana, sondern auch Tosca (zumal das so schön toskanisch klingt), Anna Netrebko, Joshua Bell, Lang Lang usw. Warum also nicht Weinproben, Wellness und Klassik-Konzerte zu einem Paket schnüren? Warum Toskana- und Tosca-Fraktion nicht vereinigen?

Doch bevor Arezu Weitholz realisiert, in welcher Zielgruppenfusion sie da gelandet ist, kommt es schon zum Showdown in Cortona:

»Acht Uhr abends vor dem Konzertsaal. Viele Leute wirken, als kämen sie aus Baden-Baden. Oder einer Folge vom ›Traumschiff‹, kurz vorm Abendessen. Frauen mit schimmernden Lappen um die Schultern. Männer über fünfzig mit Digitalkameras. Eine Frau, die aussieht wie Nancy Reagan, kommt vom Klo.«

Kopfkino vom Feinsten!

Der Artikel hat einen Trick, mit dem Arezu Weitholz die ganze Tuscan-Sun-Szenerie vorführt. Sie sagt nämlich kein einziges Mal »ich«, sondern hält während ihres ganzen Artikels die Wellness verheißende Anrede des Festival-Prospekts durch: Die versprach, die »durstige Seele« zu erquicken. Nur: Für die meisten Festivalbesucher scheint Klassik eher das Gegenteil von Wellness zu sein:

»Alle werfen einander ernste Blicke zu. Sie haben sicher Angst vor der Musik, denkt die Seele. Als Joshua Bell zehn Minuten später die Bühne betritt, lächelt er. Dann spielt er, und sofort schließt die Seele ihre Augen und freut sich: Endlich. Doch nein. Jemand knipst. Es macht plötzlich ›ksst‹. Dann noch mal ›krscht‹. Vom Rang ein ›Pling‹. Es sind die Männer mit ihren Kameras.«

Und die Szene ist noch nicht zu Ende:

»In der Mitte vom letzten Stück (Prokofjew) reißt Bell die Bogensaite. Er zieht sie mit einer Hand sekundenschnell weg, die Männer knipsen jetzt erst recht, ›pling‹, Bell spielt unbeirrt weiter, ›Kssrt‹, doch dann unterbricht er, jetzt ist ihm auch noch der Geduldsfaden gerissen, er bittet das Publikum um Stille: ›Bitte!‹ Dafür gibt es Applaus. Er beginnt von vorn, nun sind alle leise. Am Ende bekommen er und der Pianist weiße Blumen. Die Seele hat noch immer Durst.«

So wird die Kitsch-Ansprache aus dem Prospekt zum Running Gag, und Arezu Weitholz gelingen ein paar schöne Notate über den Klassiker: die Dissonanz zwischen Katalog und Wirklichkeit beim Reisen.

Voyage Voyage (Teil 2):
Rimini revisited

Konstanz, 5. Dezember 2008, 08:58 | von Marcuccio

Weiter geht’s mit im Gedächtnis gebliebenen Reisefeuilletons:

Sönke Kröger: Ein Wiedersehen mit der Adria.
In: Welt am Sonntag, 29. Juni 2008.

In einer Serie für die WamS fuhren Reise-Redakteure diesen Sommer mal zurück an die Urlaubsorte ihrer Kindheit. Also dahin, wo sie vor vielleicht 20, 30 Jahren mit ihren Eltern die »großen Ferien« verbracht haben. Eine Idee, die auf jeden Fall zum Erzählen einlädt, denn besichtigt wird neben der touristischen auch die eigene familiäre Vergangenheit.

Sönke Kröger zum Beispiel fuhr in den Siebzigern mit Mama, Papa, Bruder immer »im weinroten Opel Rekord« an den Teutonengrill, und allein das als Bekenntnis hat für manche ja schon doppelten Outing-Charme.

Zum ersten Mal nach 30 Jahren kehrt Kröger nun also mit seiner Mutter an die Originalschauplätze zurück:

Sie nehmen die gleiche Unterkunft (»Heute wissen wir, wie man ›degli Angeli‹ korrekt ausspricht«), sie mieten die gleichen organisierten Liegestühle am Strand, und sie hören den gleichen »cocco bello«-Lockruf des Kokosnussverkäufers durch die Schirmreihen.

Ja, sie begegnen sogar den gleichen Leuten: Die Lamms aus Bayern kommen immer noch nach Rimini! Wie eh und je fahren sie samstags in der Früh los, damit sie abends im Hotel die schöne Lasagne bekommen, »die seit Jahrzehnten samstags auf dem Speiseplan steht«.

»Immer noch« oder »so wie früher« sind überhaupt Schlüsselwörter des Artikels. Dass Krögers Text trotzdem nicht in einen Generation-Golf-Reise-Remix abdriftet, liegt daran, dass neben aller Nostalgie eben auch ganz reale Gegenwart herrscht: Im Hotel haben die (wiewohl schon fast wieder hippen) Badfliesen aus den Siebzigern halt nur überlebt, weil die Hotels hier allesamt unter »Sparzwang« stehen: Neben treuen deutschen Rentnern stellen nämlich vor allem »italienisches Prekariat« und »Polen auf Schnäppchenjagd« das Gros der Gästeschaft.

›Das Gegenteil von Gentrifizierung‹ würde man wohl sagen, wenn die Destination Rimini ein Stadtteil wäre. Wer – wie Sönke Kröger – 30 Jahre nicht mehr da war, stellt Fragen: Waren die Käsenudeln im Hotel damals eigentlich auch schon so matschig? Haben wir wirklich nie was vom Hinterland gesehen?

»›Dein Vater wollte das so‹, sagt meine Mutter«, und spätestens jetzt wird klar, dass auch Krögers nicht mehr die von früher sind. Die Eltern haben sich Ende der Siebziger scheiden lassen, und man weiß nicht, wie sehr auch der Teutonengrill dran schuld war:

»Meine Mutter entwickelte sich fortan zur neugierigen Reisenden (…). Mein Vater ist dagegen dem Strand treu geblieben. Gerade war er in der Türkei, im Hotel Sandy Beach in Komköy, direkt am Meer. ›32 bis 45 Grad, Essen und Zimmer sehr gut, mehr Urlaub geht nicht‹, schrieb er.«

Voyage Voyage (Teil 1):
»The coolest thing to do in Dubai«

Konstanz, 4. Dezember 2008, 09:13 | von Marcuccio

Voyage Voyage! Endlich was über Reisefeuilletons! Ich fange gleich mal mit einem der eindrücklichsten Reisetexte aller Zeiten an:

Andreas Lesti: Dubai. Ein Wintermärchen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. Juli 2006.

Mein Lieblings-Alpin-Journalist heißt ja schon lange Andreas Lesti. Es war diese unerhörte Begebenheit, die seinen Skibericht aus dem Morgenland zur preisgekrönten Novelle (PDF) machte:

Mitten in der Wüstenhitze von Dubai liegt Schnee. In einer Skihalle. Und mitten in dieser Skihalle steht eine Skihütte, in der die von 46 Grad (Außentemperatur) auf minus zwei Grad runtergekühlte Luft (Skihalle) wieder auf 25 Grad (Hüttentemperatur) erwärmt wird.

»The coolest thing to do in Dubai« besticht durch sein durchweg surreales Setting, das Lestis Reportage phänomenal einfängt:

Da ist die Glaswand, durch die man das Schnee-Spektakel aus einer Shopping Mall heraus beobachten kann:

»Touristen in kurzen Hosen und ärmellosen Tops machen Bilder mit ihren Fotohandys. Frauen in Tschador und Burka sehen durch die dünnen Sehschlitze ihrer Kopfbedeckungen. (…) Drinnen liefern sich junge Männer in der Dischdascha, dem weißen Gewand, und schwarzen Daunenmänteln darüber eine Schneeballschlacht.«

Da sind die Wintersport-Fachgeschäfte der Wüsten-Metropole:

»›Im Sommer kann es bei uns zu bis 46 Grad haben‹, sagt er [der Verkäufer] – und verkauft aber Mützen, Handschuhe und Carvingski, weil es in der Halle fast 50 Grad kälter ist.«

Und da ist Lesti selbst, der das alles unaufgeregt und (wie man aus einer Neben-Storyline erfährt) irgendwie auch nicht richtig angemeldet für die »FA Sat« notiert:

»Ich fahre mit dem sehr langsamen Vierersessellift nach oben, an der Mittelstation könnte ich aussteigen, aber ich will auf den Gipfel von Dubai.«

Irgendwann wird es dann auch mal Zeit für einen Einkehrschwung, denn »schon während der vierten langsamen Sesselliftfahrt frieren meine Finger ab. Ich hatte auf Handschuhe verzichtet, weil ich mir draußen einfach nicht vorstellen konnte, daß es hier drinnen wirklich kalt wird.«

Aufwärmen dann im »Avalanche Café«, der eingangs erwähnten Skihütte, wo Nina aus Indonesien »die angeblich beste Heiße Schokolade im Nahen Osten« serviert. Und Lesti fühlt sich »ungefähr so, als würde man sich im Hochsommer mit Wärmedecke in die Gefriertruhe setzen«.

Inklusive der Überschrift einer der eindrücklichsten Reiseberichte aller Zeiten! Man liest jede Zeile schaudernd-fröstelnd und hat sich selten so amüsiert.

»Der Cortez«

London, 30. November 2008, 23:42 | von Dique

San Andreas lässt uns immer noch warten auf die erste weblogtaugliche Werkmonografie der Coen-Brüder. Also weiter mit den Überbrückungstexten, heute geht es um Leo Perutz, gerade gelesen, den ersten Roman, »Die dritte Kugel« (1915). Wenn man Tucholsky und der Blogosphäre glaubt, ist es ein »hübsches« und »nettes« Buch, zudem ist es auch noch, soviel nehme ich vorweg, ein wunderbares Buch.

Es passt fast schon wieder in die Alternate-History-Richtung, wenn auch nicht ganz. Es geht um ein paar Deutsche, welche schon vor Cortez im Aztekenland herumlungern. Sie werden vom Wildgrafen zu Grumbach geführt und balgen sich da mit den Konquistadoren. Sehr bizarr, wie diese Deutschen dort auf einer Bergkuppe verschanzt von Cortez belagert werden. Allein die Namen der deutschen Bauern, denn es sind Bauern, die mit dem Grumbach von Deutschland in die Neue Welt gezogen sind, haben einen wunderbaren Klang: Mathias Hundt, Peter Dillkraut, Stephan Eberlein, Melchior Jäcklein und noch einige mehr.

Historisch gesehen ist es der letzte Rastplatz der Eroberer vor dem Einmarsch in Tenochtitlán, der von Wasser umgebenen Hauptstadt der Azteken. Und just hier hat Perutz den Grumbach hingestellt, welcher den Spaniern das Leben schwer macht und das nicht mal wegen irgendwelchem Gold. Das Ganze hat auch eine magische Ebene, nicht nur weil der Grumbach in seiner Hütte den Teufel heraufbeschwört. Borges war übrigens auch Perutz-Fan oder hat ihn zumindest gelesen.

Perutz wählt eine historisierende Sprache, schreibt zum Beispiel ständig von Arkebusen statt Gewehren, und die Personen werden immer mit Artikel geführt, also »der Cortez« oder »der d’Olio« und natürlich »der Grumbach«. Das liest sich dann so:

»Thonges hol deine Klotzgeigen! Lienhard, sollst blasen auf deiner Sackpfeif‘, ich will dazu die Trommel schlagen. Jetzt springt und werft die Beine in die Höh‘, dass euch das Stroh aus den Stiefeln fliegt!« Und der Grumbach fand einen dicken Prügel in einem Winkel der Stuben, mit dem begann er wild auf einen von den tönernen Weinkrügen loszuschlagen, als hätt‘ er eine Trommel zwischen den Beinen.

Das ist alles sehr, sehr gut und, wie gesagt, wunderbar.

Erst kürzlich las ich die Rowohlt-Mono über den Cortés. Der hatte ja eine indianische Übersetzerin, welche auch seine Geliebte war, La Malinche, die eigentlich Malintzin geheißen hat. Bei Perutz kommt sie leider nicht vor, aber es gibt eine ähnliche Figur, eine junge Indianerin, Dalila, welche von Grumbach mitgeführt wird, allerdings nicht zum Dolmetschen, und wie man erfährt, kann der Grumbach die Sprache einigermaßen, denn er befindet sich schon seit zwei Jahren bei den Azteken.

Ohne die Hilfe der Malinche hätte Cortez sicher niemals die Stämme gegeneinander ausspielen können. Angeblich haben einige Indianer den Cortés sogar ›Captain Malintzin‹ genannt. La Malinche gebar dem Cortés übrigens einen Sohn, heiratete aber irgendwann einen anderen Spanier aus seiner Mannschaft und ward nie mehr gesehen.

Es bleibt spannend.

Regionalzeitung (Teil 11)

Leipzig, 27. November 2008, 11:07 | von Austin

 
  51.   die rüstigen Senioren

  52.   brachten guten Hunger mit

  53.   pilgerten tausende Schaulustige

  54.   der 35-jährige Erfolgsautor

  55.   verlebten schöne Tage
 

Die FAS vom 23. 11. 2008:
»Das Eigenheim Ich, Es, Über-Ich«

Leipzig, 25. November 2008, 09:08 | von Paco

San Andi hat angeblich die ultimative Coen-Brothers-Film-Monografie »so gut wie« fertig, um sie hier als simplen Eintrag im Umblätterer der Blogosphäre zu übergeben. Bis es soweit ist, habe ich schnell mal noch die vorgestrige FA-Sonntagszeitung gelesen.

Darin ein sehr herrlicher literaturhistorisch-sozialgeschichtlicher Doppelschlag:

Eberhard Rathgeb über Alfred Döblin und seinen Riesenroman »November 1918« (Titel: »Das Leben radikal anders denken«, S. 30)

Henning Ritter über André Gide und seine Tagebucheintragungen zum Kriegsbeginn 1914 (Titel: »Die abgeschnittenen Hände«, S. 31)

Das Duo Rathgeb/Ritter verzichtet gänzlich auf den manchmaligen Illustriertenton, für den wir die FAS ja auch lieben. Bei den beiden aber nichts davon, fast fühlt man sich wie in der »Zeit«, und zwar im aller-aller-positivsten Sinne.

E. R. erklärt Döblins Schreibe so:

»Die kunstvolle Mischung verschiedener Welten, die weit über das Eigenheim Ich, Es, Über-Ich hinausreichen, hebt die Revolution aus ihren theoretischen, die Politik aus ihren pragmatischen und die Möglichkeit eines fest gefügten, auf das Vergessen des Krieges gegründeten Daseins aus ihren existentiellen Angeln.«

Bla bla bla, höre ich euch sagen, aber allein die »Eigenheim«-Formulierung ist Gold wert, pures Gold.

Dann H. R. zu Gide und der in den ersten Tagen des Grande Guerre einsetzenden Greuelpropaganda:

»[Es] läuft das Gerücht um, sie [die Deutschen] töteten auf dem Schlachtfeld ihre eigenen Verwundeten. Und auch bei Evakuierungen, heißt es, töteten sie ihre eigenen Verwundeten, ließen aber die der Franzosen am Leben. ›Erklär das, wer kann‹, schreibt Gide.«

Das Fehlen eines einleuchtenden Grundes für dieses Vorgehen bewirkt eine inkommensurable Unheimlichkeit, und gerade weil es sich offenbar um eine propagandistische Fiktion handelt, würde ich sehr gern vom Fiktionsverantwortlichen einmal die Gründe der Deutschen für ihr unverständliches Tun erfahren.

So, und dann hat Tobias Rüther noch das neue Guns N‘ Roses-Album »Chinese Democracy« Song by Song untersucht (Titel: »Vom Axl des Bösen«, S. 28). Sehr gut der wiederkehrende Satz: »Ist das jetzt der Refrain?« Und so hat auf diese mise-en-abyme-hafte Weise auch Rüthers Rezension einen schönen Refrain bekommen.

Usw.

Journalistische Interpunktion:
Kleist-Sätze und Satz-Kleister

Konstanz, 22. November 2008, 10:01 | von Marcuccio

Ein seit jeher praktischer RSS-Feed ist ja der so genannte »Blick in die Zeitschriften«. Neulich (FAZ vom 4. 11.) blickte Thomas Gross da in die Zeitschrift »Deutsche Sprache«, seine Überschrift:

Lesernähe. Durch Brüche!
Das sogenannte »parataktische« Schreiben nimmt zu.

Ich als Aficionado aller Leser-Blatt-Bindungen natürlich sofort angeteast … Mein Leserbriefgedächtnis schlug ein paar Purzelbäume, und dann war er wieder da, der legendäre Leserbrief »zur Grammatik in der FAS« (26. 6. 2005):

»Es fällt mir unangenehm auf. Daß in mehr und mehr Artikeln. Auch Ihres Blattes. Keine korrekten Sätze. Stehen, mit Subjekt, Prädikat, Objekt. Sondern Punkte. Regellos gesetzt werden. Ein Kniefall. Vor der Reklamesprache. Jetzt aber. Punkt!«

Keine Ahnung, ob Britt-Marie Schuster dieses formvollendete Traktat kannte. Auf jeden Fall hat sie – und darauf wies Gross‘ FAZ-Artikel hin – eben diese interessante Studie verfasst: Sie hat am Bsp. von »Spiegel«, »Zeit« & »stern« mal lingistisch untersucht, was Printjournalisten so alles anstellen, um Nebensätze zu vermeiden. Die gliedern ihre Sätze nämlich anders als früher, zum Beispiel so:

»Sie hat es geschafft, doch noch: Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland – die erste Frau, die nach oben durchgekommen ist.« (stern 48/2006, S. 29)

Die Interpunktion (»:«, »–«) übernimmt den Part, Satzteile zusammenzuhalten ohne sie syntaktisch unterzuordnen. Sie funktioniert also wie ein Nebensatz-Vermeidungsmechanismus, ein Satzkleister, der syntaktische Abhängigkeiten durch Gedanken­striche, Doppelpunkte usw. nivelliert. Für Gross haben die so instrumentalisierten Satzzeichen aber auch noch eine andere Wirkung:

»Sie rhythmisieren, heben etwas hervor, beziehen es auf ungewohnte Art auf andere Satzglieder und unterstützen den Dialog mit dem Leser, den der Text eröffnet.«

In diesem Sinne hat auch Gross alles richtig gemacht. Er eröffnete seinen FAZ-Beitrag nämlich gleich mal mit einem Zitat von Kleist (»Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«):

»Auf die Antwort der jungen Klosterschwester: ja! sie erinnere sich davon gehört zu haben, und es pflege seitdem, wenn man es nicht brauche, im Zimmer der hochwürdigsten Frau zu liegen: stand, lebhaft erschüttert, die Frau auf, und stellte sich, von mancherlei Gedanken durchkreuzt, vor den Pult.«

Und hier ist exzessive Interpunktion natürlich nichts anderes als jener Kunstgriff, der Kleists Prosa so herrlich dramatisiert. Mit ihrer Dynamisierung von Schriftsprache haben Kleist-Sätze und moderne Medientexte mehr gemeinsam als man gemeinhin denkt.

Nach dem Krieg

London, 21. November 2008, 13:22 | von Dique

Keiner hatte mehr damit gerechnet, aber Pacos »Aspects of Die Wohlgesinnten« hat jetzt nach 10 Teilen doch noch ein Ende gefunden. Passend dazu lese ich gerade endlich Dicks »The Man in the High Castle«, und da gibt es ja das alternative history book (»The Grasshopper Lies Heavy«) im alternative history book, in dem jemand beschreibt, wie die Welt wäre, wenn denn die Deutschen nicht den Krieg gewonnen hätten. Darauf sagt dann irgendein Ami (Wyndam-Matson) zu seiner Freundin, die von dem Buch begeistert ist:

No strategy on earth could have
defeated Erwin Rommel.

Doch eigentlich inspirierte mich zur Lektüre des Buches der letzte Roman von Christian Kracht, denn das Reduit ist ja wohl das High Castle der High Castles.

Den immer noch aktuellen »Spiegel« (47/2008) habe ich auch noch gelesen, gleich zuerst die Titelstory über die Weltkrise. Das Gute ist, dass dieser Titel das beste Zeichen dafür ist, dass die Krise bald vorbei ist. Denn auf den großen Ausbruch von Ebola warte ich auch schon seit Anfang der 90er, und nach den damaligen »Spiegel«-Artikeln zu urteilen, war es nur eine Frage von Monaten, hehe, also bleibt dieses Mal hoffentlich auch der richtig große Crash, der noch kommt, aus.

Dann habe ich diese Woche tatsächlich noch ein paar Fantômas-Filme gekuckt, aber lange hält man das nicht aus.

Dann noch den neuen Bond. Daniel Craig ist der schlechteste Bond ever, der Beckham-Bond oder einfach Proll-Bond, ohne Witz, ohne Charme und ohne Bond, der ganze Film erscheint wie ein ultra-schlechter Teil der »Bourne«-Reihe. Da sind auch noch die letzten Bond-Elemente herausgewaschen worden.

Dann war ich eben noch in der neuen Ausstellung der National Gallery, »Renaissance Faces: Van Eyck to Titian«. Das ist ein bisschen ein Nepp, weil zwei Drittel der Bilder eh in der NG hängen, aber wie schreibt Brian Sewell richtig in seiner ES-Kolumne:

no matter how many times we have all paused to examine Holbein’s Ambassadors and Jan Van Eyck’s Mr and Mrs Arnolfini with Fido at their Feet, we shall still find something in them.

Natürlich gibt es auch ein paar neue Stücke zu sehen, einen ganz neuen Pontormo zum Beispiel, sehr schönes Ding und schaffte es auf das Cover des aktuellen »Burlington Magazines«. Und dann noch, wenn auch nicht neu, mal wieder das vermeintliche Eyck-Selbstportrait mit rotem Turban. Der Turban ist einfach mal der Wahnsinn, das Bild hängt ja auch offiziell in der NG, und ich kenne es ganz gut, aber heute habe ich einfach diesen Turban gefeiert.

Dann noch »Headlong« von Michael Frayn zu Ende gelesen und für gut befunden, die letzten 400 Seiten des 400-seitigen Buches las ich nahezu in einem Rutsch. Ein Roman über einen Typen, der einen Bruegel findet oder vielleicht auch nicht, jedenfalls tief in das Thema eindringt, und damit bekommt diese Fiktion einen breiten sachbuchigen Hintergrund über niederländische Malerei und natürlich Bruegel im Besonderen.

Das Buch ordnet sich wunderbar ein zwischen Philip Moulds »Sleepers« und Jonathan Harrs »The Lost Painting«, den beiden anderen großen Büchern über die Lust am Finden verschollener Altmeistergemälde.

Usw.

Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 10 und Schluss):
Der Muttermord und der erste Satz des Romans

Leipzig, 20. November 2008, 07:50 | von Paco

»Die Wohlgesinnten« beschreiben insgesamt eine Verschiebung des Verdrängungsphänomens bezüglich des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Max Aue verdrängt eben nicht den Holocaust, seine Verstrickung, seine Verantwortlichkeit. Die erinnert und rechtfertigt er sehr dezidiert. Was er verdrängt, ist etwas anderes: seine Familientragödie, die nicht unmittelbar mit dem Kriegsgeschehen zu tun hat.

Auf der Ebene des Textes wird nicht ganz explizit, dass Max nun tatsächlich seine Mutter und Moreau, ihren neuen Ehemann, umgebracht hat. Das liegt daran, dass sich der Ich-Erzähler zum entscheidenden Zeitpunkt in einem Delirium der Verdrängung befindet.

Wer aber soll sonst der Mörder gewesen sein? Schon diese rhetorische Frage genügt unter Umständen zur Begründung. Aber auch eine genaue Textbetrachtung lässt keinen Zweifel übrig.

Nachdem er in Paris in einem Spiegel das Gesicht seiner Mutter imaginiert, der »läufigen Hündin« (S. 720), beschließt Aue, sie und ihren neuen Mann in Antibes zu besuchen:

»Mein panisches, kopfloses Denken hatte sich in den altbekannten heimtückischen Mörder verwandelt; (…). Schließlich ließ sich ein Gedanke fassen: Ich betrachtete ihn mit Abscheu, aber da kein anderer seinen Platz einnehmen wollte, musste ich ihm schließlich sein Recht zugestehen.« (S. 720)

« Ma pensée emballée, affolée, s’était muée en vieil assassin sournois ; (…). Enfin, une pensée se laissa saisir : je la contemplai avec dégoût, mais comme aucune autre ne voulait venir prendre sa place, je dus bien lui accorder son dû. » (pp. 735-736)

Welcher »Gedanke« das ist, wird schnell klar. Dabei wird er in Antibes willkommen geheißen, und obwohl er seine Animositäten sorgfältig pflegt, scheint es zunächst ein ganz normaler Besuch zu werden.

Nachdem Aue allerdings aus einem seltsamen Schlaf erwacht (S. 740), findet er seine Mutter und Moreau tot auf. Er rätselt, wer der Mörder sein könnte, verdrängt dabei aber, dass alles, wirklich alles dafür spricht, dass er es selber gewesen ist, der »altbekannte heimtückische Mörder«. Unmittelbar vor der Tat hatte Aue seinen Aufenthalt in Antibes rekapituliert, seinen Erinnerungsfilm an die familiäre Leidenszeit,

»und ich sagte mir, dass ich gesehen hätte, weswegen ich gekommen sei, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was das war; ich dachte schon an Abreise.« (S. 739)

« et je me dis que j’avais vu ce que j’étais venu voir, même si je ne savais toujours pas ce que c’était ; déjà, je songeais à partir. » (p. 755)

Er war also gekommen, um seine Mutter und Moreau zu sehen, das Defizit des verlorenen Vaters, den Verrat der Mutter zu spüren und dann zur Tat zu schreiten. Littell zelebriert hier überdeutlich den Bezug zur Orestie, deren Strukturvorbild er ja ständig betont hat.

Nachdem Aue den Tatort so schnell wie möglich wieder verlassen hat, wird er irgendwann von den beiden Kriminalkommissaren Clemens und Weser aufgesucht (deren Namen sich Littell aus Klemperers »LTI« entliehen hat, siehe Wikipedia), die ihn nun bis zum Romanende verfolgen werden.

Sie treiben ihren Verdächtigen mit immer neuen Fakten allmählich in die Enge, auch wenn Himmler persönlich die Untersuchungen zwischenzeitlich unterbindet, da Aue »rassisch unbedenklich«, des Muttermordes unfähig sei (S. 1053). Trotzdem lassen die »beiden Bulldoggen Clemens und Weser« nicht von ihm ab. Sie folgen ihm sogar bis nach Budapest (S. 1118-1120) und Pommern.

Einige Rezensenten setzen die beiden Polizisten schon mit den »Wohlgesinnten« des Titels gleich, aber so einfach ist es sicher nicht. Denn was bedeutet es dann, dass die beiden penetranten Ermittler am Ende des Romans tot sind? Aue beendet seine Niederschrift ja nicht als Erlöster, im Gegenteil.

»Wie es gewesen ist«

Als die Russen schon das Zentrum Berlins erreicht haben, wird Aue von Clemens und Weser in einem überfüllten U-Bahn-Schacht gestellt. Trotz der sich überschlagenden Kriegsereignisse haben sie scheinbar nichts anderes zu tun als Aue zu überführen: »Wir wollen Gerechtigkeit«, sagen sie. »Wir erzählen dir jetzt, wie es gewesen ist« (S. 1344) – « On va te raconter comment ça s’est passé » (p. 1377).

Aue habe Moreau mit Axthieben getötet, unter den Augen der Zwillinge, dann oben seine Mutter erwürgt. Der Wortlaut der Ankündigung – »wie es gewesen ist« – entspricht dem Romananfang und bietet eine Alternative zu Aues Version. Indem dieser aber auf seiner Version beharrt, muss der Akzent beim ersten Satz des Romans auf dem »mich« liegen (Christian Berkel zum Beispiel betont es nicht so):

»Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.«

« Frères humains ; laissez-moi vous raconter comment ça s’est passé. »

Und noch ein drittes Mal ertönt dieser Wortlaut, in Himmlers 2. Posener Rede (6. 10. 1943). Der Reichsführer-SS erzählt vor den Gauleitern einmalig ohne Tarnvokabeln von der Judenvernichtung, um »auch über diese Frage einmal ganz offen zu sprechen und zu sagen, wie es gewesen ist« (S. 930). Um sie alle daran zu erinnern, dass sie mitschuldig sind, um sie letztgültig zu motivieren, diesen Krieg doch noch zu gewinnen.

Littell hat diese historisch belegte Passage übrigens nicht mit dem »comment ça s’est passé« übersetzt, sondern so: »(…) pour vous dire comment sont les choses« (p. 951).

Wie dem auch sei: Im dreimaligen »Wie es gewesen ist« laufen Aues persönliche Familientragödie und der Holocaust zusammen. Es summiert sich zu jenem »ganzen Gewicht der Vergangenheit« (S. 1358), das Aue von den Wohlgesinnten bis zu seinem eigenen Tod hinterhergeschleppt wird.

Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 9):
Stalingrad

Leipzig, 19. November 2008, 08:55 | von Paco

Bei der Konferenz, in der über das Schicksal der Bergjuden entschieden wird (S. 453-466), hat Aue nicht energisch genug den Standpunkt der SS vertreten, meint Oberführer Bierkamp. Unter anderem deshalb wird er nach Stalingrad versetzt, wo das Feldpolizeiwesen um einen SD-Offizier gebeten hat.

Zwischen zwei Windböen erkannte ich ein Schild: STALINGRAD – ZUTRITT VERBOTEN – LEBENSGEFAHR. Ich wandte mich an meinen Nachbarn: »Ist das ein Witz?« Er warf mir einen rüden Blick zu: »Nein. Warum?« (S. 492)

Entre deux bourrasques j’aperçus un panneau : STALINGRAD – ENTRÉE INTERDITE – DANGER DE MORT. Je me tournai vers mon voisin : « C’est une blague ? » Il me regarda d’un air éteint : « Non. Pourquoi ? » (p. 504)

Im Kessel trifft er auf Thomas, der quietschfidel ist:

»Hier ist es sehr gut, vom miesen Fraß abgesehen. Und hinterher gibt’s Beförderungen, Auszeichnungen, e tutti quanti.« (S. 497)
»Stalingrad bot interessante Möglichkeiten.« (S. 498)

« C’est très bien, ici, à part le rata. Après, ça sera promotions, décorations, e tutti quanti. » (p. 509)
« Stalingrad offrait des possibilités interessantes. » (p. 511)

Nach einem kriegstouristischen Ausflug zu vorgeschobenen Stellungen (Begegnung mit dem kroatischen Oberfeldwebel Nišić) und einem weltanschaulichen Gespräch mit einem gefangenen Politkommissar wird Aue angeschossen und deliriert vor sich hin (in einer der quälendsten Passagen des Buches). Was wirklich passiert ist, erfahren wir erst nach dutzenden Seiten, als er auf S. 605/606 in einem Krankenhaus des Deutschen Roten Kreuzes in Hohenlychen erwacht.

Für seinen dreimonatigen Genesungsurlaub begibt er sich im Februar 1943 ins Berliner Hotel Eden (S. 618). Dort wird Anfang März direkt unter ihm eine laute überdrehte Party gefeiert, die Aue nicht mit seinen Stalingrad-Erlebnissen in Einklang bringen kann. Hier erlebt er einmal den unbeabsichtigten Zynismus anderer, und seine spontane Reaktion ist die: Er will die Partyleute sofort alle umbringen.

Doch dann weist er sie doch nur auf ihre Taktlosigkeit hin. Die Party wird auch sofort abgebrochen – aber das reicht Aue am Ende auch wieder nicht:

»Mein Vorgehen erschien mir wie eine Inszenierung, ausgelöst durch ein dunkles echtes Gefühl, dann aber durch eine konventionelle, zur Schau getragene Wut entstellt und verfälscht.« (S. 626)

« (…) : mon action m’apparaissait comme une mise en scène, mue par un sentiment vrai et obscur, mais ensuite faussée, déviée en une rage de parade, conventionnelle. » (p. 640)

Dieses nicht genau fassbare »echte Gefühl« interessiert Aue. Zu einem späteren Zeitpunkt wird er anders reagieren. Während er in den letzten Kriegstagen kurz an den Berliner Untergangs-Partys teilnimmt, läuft er seinem Lover Mihai über den Weg, der ihm in aller Öffentlichkeit Avancen macht, woraufhin ihn Aue auf der Toilette mit einem Schrubber tötet (S. 1321-1322).

Ihm ist es letztlich aber längst egal, wie er auf irgendetwas reagiert. Für ihn gibt es so oder so keine Rettung, auch wenn er den Krieg überlebt.