Zeitungsgeburtstage 2008 (Teil 1):
60 Jahre »Welt am Sonntag«

Konstanz, 20. Dezember 2008, 08:40 | von Marcuccio

Wie war das noch? Alles muss raus!? Jetzt noch mal feiern, bevor die Krise richtig kommt … Auf jeden Fall war 2008 ja noch mal ein Jahr voller Extrablätter, sprich Party-Time für Umblätterer.

Unsere/meine* Lieblingsjubiläen (*falls ich hier Umbl-Minder­heitenpolitik mache, hehe): Es gab 60 Jahre WamS30 Jahre taz – und 1 Jahr »Frankfurter Rundschau« im Tabloid-Format.

+++ Nürnberg verhängt 12 Jahre Gefängnis für Alfred Krupp +++

+++ Die Kapazität der Luftbrücke jetzt bei 8000 Tonnen täglich +++

+ Der sowjetische Außenminister Molotow auf dem Rückweg nach Moskau +

Soweit die Nachrichtenlage des 1. August 1948. Die WamS hatte zur Feier ihres Sechzigers nämlich ein feines Reprint der Erstausgabe beigelegt (PDF), und das ist schon deswegen klasse, weil plötzlich alles wieder Alliiertenlizenz ist. »WamS«, »Spiegel« oder »Zeit« – sie sind ja alle älter als die BRD.

Noch älter ist eigentlich nur der Stern, Günter Stern. Der WamS-Veteran der ersten Stunde bekommt in der Jubiläumsausgabe sein Ehrenfoto, weil er 1948, kaum aus der Kriegsgefangenschaft zurück, die WamS mit der Nullnummer zu lesen begann und bis heute liest – als Abonnent, versteht sich.

Im Prinzip, hehe, könnten wir hier ruhig auch schon mal in die nicht existierenden Statuten schreiben, wer denn anno 2061 zum 60. der FAS posiert … Ich finde ja: Dique und Paco sollten das tun, und dann bitte so wie Statler & Waldorf von der Ehrenloge.

60 Jahre WamS sind irgendwie auch staatsmännisch, eine Zeitung voller Altkanzler. Auf einem Foto von 1961 sitzt Konrad Adenauer in einer Maschine der Bundesflugbereitschaft und liest Zeitung, »Welt am Sonntag« natürlich (siehe PDF).

»Im Namen von Freiheit und Lesefreude« steht drüber, und drunter »der Alte« mit getönter Brille und ernster Miene (Mauerbaujahr). Nur bleibt das ja trotzdem eine Text-Bild-Schere: Will uns die Jubilee-WamS damit wirklich sagen: 1961, 40 Jahre vor dem Start der FAS, sah Sonntags-»Lesefreude« so uninspiriert aus wie der späte Adenauer beim WamS-Lesen? Sorgenvoll und matt und müde?

Felsgrottenmadonna, ick hör dir trapsen

London, 19. Dezember 2008, 11:35 | von Dique

Ich lese gerade den Ausstellungskatalog der leider von mir verpassten ArcimboldoAusstellung in Wien (und Paris). Sehr, sehr, sehr schöner Katalog, und Arcimboldo ist so much more than the famous composite heads (immer mit dazu sagen, ein wichtiger Satz, um sich Bourdieu-mäßig abzugrenzen).

Er hat auch sehr, sehr schöne Tierzeichnungen gemacht, fast so fein wie Hoffmann, dem er vielleicht sogar begegnet ist am sogenannten Hofe Rudolfs II. Es gibt von ihm Studien von Wildschweinen, Vögeln, Reptilien, aber auch Kostümentwürfe und Kurioses wie z. B. eine study of a featherless three-footed chicken.

Wobei er eher von Leonardo beeinflusst war, und der hat ja eh alles gezeichnet, was nicht bei drei auf den Bäumen war, mal ein schöner Prollspruch in einem solchen Zusammenhang, hehe. Arcimboldo stammte eben aus Milan, und dort war Leonardo ja auch über 10 Jahre bei den Sforza beschäftigt und versprühte seinen Rieseneinfluss auf die Milaneser Maler.

Einer davon ist Bernardino Luini, der wohl sogar direkt mit ihm gearbeitet hat. Auf den ganz besonders steht übrigens San Andreas, der einzigartige Filmkritiker des Umblätterers, seit er mal The Virgin and Child in a Landscape in der Wallace Collection gesehen hat.

Luini malt eindeutig Leonardo-Augen, und genau da ist seine Herkunft extremst und superst deutlich sichtbar. In Berlin würde man sachlich bemerken: »Felsgrottenmadonna, ick hör dir trapsen«, und das nicht erst seit Dan Brown. Aber das hatten wir ja neulich schon mal in einem größeren Kreis diskutiert, wo auch irgendjemand Ahnung zu haben schien und das alles abstritt.

Noch mal die Buddenbrooks zur Finanzkrise:
»Die mißtrauischen Banken«

Konstanz, 18. Dezember 2008, 13:22 | von Marcuccio

Schon neulich hatte Thomas Buddenbrook im Rückblick auf das Wort des Jahres (»Finanzkrise«) den treffendsten Kommentar parat (»Wenn alles schon wieder abwärts geht …«).

Damals ging es um die Arbeitslosenzahlen, die trotz angesagter wirtschaftlicher Totalapokalpyse weiter auf irgendein Rekordtief gesunken waren. Hier jetzt noch eine Passage gleich vom Anfang des Romans (S. 22, Fischer Taschenbuchausgabe von 1996):

»Tja, traurig«, sagte der Makler Grätjens; »wenn man bedenkt, welcher Wahnsinn den Ruin herbeiführte … Wenn Dietrich Ratenkamp damals nicht diesen Geelmaak zum Kompagnon genommen hätte! Ich habe, weiß Gott, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als der anfing zu wirtschaften. Ich weiß es aus bester Quelle, meine Herrschaften, wie greulich der hinter Ratenkamps Rücken spekuliert und Wechsel hier und Accepte dort auf den Namen der Firma gegeben hat … Schließlich war es aus … Da waren die Banken mißtrauisch, da fehlte die Deckung … Sie haben keine Vorstellung …«

Für die B’s ist die Welt auf diesen ersten Buchseiten noch heil, sie sind grad in die Mengstraße eingezogen. Und doch gibt der genuis loci dieser Immobilie »dieser ehemals so glänzenden Familie, die das Haus erbaut und bewohnt hatte und die verarmt, herunterge­kommen, davongezogen war …« schon den weiteren Verlauf vor.

Die Regionalzeitung der Buddenbrooks

Konstanz, 17. Dezember 2008, 15:36 | von Marcuccio

Das Schimpfen auf die lokalen Lübecker »Anzeigen« ist ein sehr kleines, aber feines von 1000 Motiven in den »Buddenbrooks«.

Auf S. 126 (in der Fischer-Taschenbuchausgabe von 1996) ist Tony Buddenbrook zur Sommerfrische in Travemünde. Zu Gast bei den Schwarzkopfs gibt’s Scheibenhonig zum Frühstück – und einen Plausch mit Morten, dem Sohn des Hauses:

(…) Tony, indem sie auf die Zeitung deutete:
»Steht etwas Neues drin?«
Der junge Schwarzkopf lachte und schüttelte mit spöttischem Mitleid den Kopf.
»Ach nein … Was soll wohl darin drinstehen? … Wissen Sie, diese städtischen Anzeigen sind ein klägliches Blättchen!«
»Oh? … Aber Papa und Mama haben sie immer gehalten?«
»Ja, nun!« sagte er und wurde rot … »Ich lese sie ja auch, wie Sie sehen, weil eben nichts Anderes zur Hand ist. Aber daß der Großhändler Konsul So und so seine silberne Hochzeit zu feiern gedenkt, ist nicht allzu erschütternd … Ja – ja! Sie lachen … Aber Sie sollten mal andere Blätter lesen, die Königsberger Hartungsche Zeitung … oder die Rheinische Zeitung … da würden Sie etwas Anderes finden!«

Bekanntlich ist Tony von Morten Schwarzkopf ganz angetan. Er bleibt aber bis zum Ende der Buddenbrooks ihre unerfüllte Liebe. Und so wird sie nach diesem einen Frühstück nicht nur für immer den Scheibenhonig vom Lande loben (erstmals S. 120). Auch Mortens markige Worte zu den Anzeigen leben in ihr fort: Jahrzehnte später, im Gespräch zwischen Tom und Tony, taucht das Motiv mit expliziten Versatzstücken wieder auf.

»Schwach, sehr schwach, diese ›Anzeigen‹«, sagte er.
»Mir fällt jedesmal dabei ein, was Großvater von faden und konsistenzlosen Gerichten sagte: Es schmeckt, als ob man die Zunge zum Fenster hinaushängt … In drei langweiligen Minuten ist man mit dem Ganzen fertig. Es steht einfach gar nichts darin …«
»Ja, Gott weiß es, das darfst du getrost wiederholen, Tom!« sagte Frau Permaneder, indem sie ihre Arbeit sinken ließ und an dem Klemmer vorbei auf ihren Bruder sah … »Was soll auch wohl darin stehen? Ich habe es von jeher gesagt, schon als ganz junges, dummes Ding. Diese städtischen Anzeigen sind ein klägliches Blättchen! Ich lese sie ja auch, gewiß, weil eben meistens nichts anderes zur Hand ist … Aber daß der Großhändler Konsul So und so seine silberne Hochzeit zu feiern gedenkt, finde ich meinesteils nicht allzu erschütternd. Man sollte andere Blätter lesen, die Königsberger Hartungsche Zeitung oder die Rheinische Zeitung.« (S. 617)

Regionalzeitung (Teil 12)

Leipzig, 16. Dezember 2008, 00:56 | von Austin

 
  56.   viele neue Eindrücke gesammelt

  57.   ein heiterer Kunstabend für jedermann

  58.   ließ sie Revue passieren

  59.   beide Mannschaften schenkten sich nichts

  60.   die international bekannte Band
 

Don’t Be Such a Tourist

London, 14. Dezember 2008, 20:14 | von Dique

Letzten Sonntag wie immer die FAS gekauft und dann nicht ein Stück davon gelesen, weil ich »Brideshead Revisited« von Evelyn Waugh nicht aus der Hand legen konnte.

Ein mindestens wundervolles Buch, und Waugh schreibt einfach superst. Es geht um eine Jungen-/Männer-Freundschaft in Oxford, der eine aus einer noblen Familie und der andere einfach nur normal wohlhabend. Es spielt Anfang 19.20. Jahrhundert und beschreibt den langsamen Verfall der Upperclass-Familie des einen Burschen. Es gibt aber verschiedene Zeitebenen und handelt in aller Welt, es ist also kein lahmes Oxford-Burschen-Drama.

Ok, lange Rede und extremst kurzer Sinn, eigentlich wollte ich nur meine Freude über dieses Zitat teilen:

»Oh, Charles, don’t be such a tourist.«

Das sagt Sebastian, als Charles bei seinem ersten Besuch auf Brideshead Castle wissen will, ob irgendein Dach der Familienkapelle zur gleichen Zeit wie das Gebäude erbaut wurde.

Mir passierte noch ein kleines Verhör-Malheur à la »Der weiße Neger Wumbaba«. Es gibt nämlich »Brideshead Revisited« als BBC-Serie (von 1981) und ich schaute mal in die erste Folge rein. Das sah alles sehr gut aus, Jeremy Irons spielt Charles Ryder, und auch Anthony Andrews als Sebastian Flyte scheint gut getroffen. Ich hielt es nur nicht lange durch, weil die Dialoge und auch der Off-Kommentar direkt dem Buch folgen, es also mehr oder weniger eine Bebilderung des gerade Gelesenen für mich bedeutete.

Jedenfalls dachte ich irgendwie, dass die nicht Brides–head sagen, sondern Bride–shead, und ich habe das einfach mal geglaubt. Bis ich dann später ein paar Leute traf, die gerade vom Christie’s Preview kamen. Sie hatten sich den 36-karätigen Blauen Wittelsbacher angesehen, der dort zur Versteigerung anstand.

Ich erntete jedenfalls ungläubige Lacher, als ich behauptete, dass es Bride–shead heißt und nicht Brides–head, und das war peinlich, zumal ich erst neulich mehrfach »Vril« verstanden hatte, wo doch einfach von »Drill« die Rede war.

Der Blaue Wittelsbacher kam dann ein paar Tage später unter den Hammer, für ca. 16 Millionen Pfund, das beste Ergebnis für einen Naturstein ever, und ich hoffe, wenigstens das stimmt jetzt so wie von mir behauptet.

Heute Morgen habe ich dann natürlich wieder die FAS gekauft, und auch diesmal wird sie wohl nicht so richtig gelesen werden können, denn die Konkurrenz ist auch heute gut, ich lese gerade endlich mal Lottmanns »Zombie Nation«, wegen dessen steigender literaturhistorischer Bedeutung.

Moritz Baßler und der Schoko-Igel

Konstanz, 13. Dezember 2008, 09:00 | von Marcuccio

Dass Kracht seine S.S.R. als grandiose Spielzeug- und Modelleisenbahn-Kulisse aufbaut, ist das eine. Das andere ist der Schoko-Igel auf S. 46! Der ist natürlich ganz große Deko in Krachts Suisse en miniature.

Ich habe mich, nun ja, tierisch gefreut, dass wenigstens Moritz Baßler das Utensil in seiner Kracht-Besprechung für die letzte »Literaturen« erwähnte. Unter anderem wegen Baßler kann und soll man ja mindestens immer dann, wenn ein neues Kracht-Buch erscheint, mal in die »Literaturen« schauen. Baßler spricht von einem »Roman für Spurensucher«, der eine akribische Lektüre lohnt:

»Viele Anspielungen (…) sind wahrscheinlich nur für Schweizer zu decodieren.«

Und als wollte er genau das beweisen, nennt er im nächsten Satz »die Schoko-Igel aus ›Es geschah am hellichten Tag‹«. Aber versteht sich der eine Igel, den der einbeinige Soldat an den Kommissär verkauft, nicht vielmehr als Reminiszenz an die Expo 1964 in Lausanne?

Damals präsentierte sich die wehrhafte Schweiz als Nation, die sich im Ernstfall nach innen zusammenrollt wie ein Igel. Was für ein Symbol für den Mythos Réduit!

Dass das Einigeln als Verteidigungsstrategie im wirklichen militärischen Klammergriff mindestens so zusammengeschmolzen wäre wie ein Schokoladen-Igel in der Hand, ist natürlich so »niedlich« wie das gleichnamige Klischee, das von den Schoggi-Beuteln der Migros bis zur Swissminiatur in Melide schweizweit verkauft wird.

Dass die Verteidigung der Schweiz zudem auf Black Power setzt, macht den Kracht-Schoko-Igel zur zartesten Versuchung, seit es Cover-Versionen literarischer Symbole gibt.

Der Eisenbahner Christian Kracht

Konstanz, 11. Dezember 2008, 18:00 | von Marcuccio

Ich kann es ja immer noch nicht glauben, aber angeblich macht die nächste Nummer der Zeitschrift »Loki« mit Christian Kracht auf. Irgend so ein Freak von den Schweizer Modellbahnfreunden scheint nämlich Krachts letzten Roman nachgebaut zu haben. Also die ganze Kulisse der Schweizerischen Sowjet-Republik (S.S.R.), mit Neu-Bern, Meiringen, beleuchtetem Réduit, e tutti quanti. Im selben Zusammenhang war irgendwo auch die Rede von einer Kracht-Lesung in der SWR-Sendung »Eisenbahn-Romantik«.

Also: Ist Kracht, unser Christian Kracht, in Wahrheit ein Fetisch-Künstler für die Szene? Haben wir da irgendwas verpasst? Der Umblätterer hat einmal nachgecheckt, was an den Gerüchten dran ist und wer denn da wie auf seine Kosten kommt:

Kracht für –

    – Modellbahnbauer
    – Streckenwärter
    – Bergbahnfahrer
    – Eisenbahn-Ethnografen
    – Anschlussreisende

*

Kracht für Modellbahnbauer

Man kann sagen, was man will, aber »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ist durch und durch eisenbahnsemantisch codiert. Schon die Ausgangskonstellation: »Stell dir vor, Lenin hätte den Zug verpasst …« Und gleich auf den ersten Seiten wird klar, dass Kracht hier nicht einfach eine Gegenwelt, sondern ein Modellbau-Spektakel par excellence zelebriert:

»Der Weg zum Bahnhof schien jeden Morgen wie eine Theaterkulisse, erst ging es an mit Rauhreif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter, Bäume, immer wieder schwarze Vögel, die gerade so aufflatterten, als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister an einem Bindfaden durch die Szenerie.« (S. 13)

Spielt da einer Hitchcock im H0-Maßstab? Auch später im Buch wirken die Häuser immer so, als ob »die jemand dort hingeschoben oder -gezogen hatte«. Und interessanterweise baut die S.S.R. nicht aus Glas & Stahl, sondern aus »Glas & Eisen, modern und vor allem mit menschlichen Zügen und Proportionen« (S. 26).

Schließlich wird klar, dass das hier alles Teil einer großen Vision für große Jungs ist, die sich zum Spielen am liebsten in ihren Hobbykeller (vulgo: Réduit) zurückziehen.

»Über den neuen Ring, Eidgenosse, (…) wird eine silberne Schienenbahn fahren, rund um die Uhr. Und am Steuer werden unsere zuverlässigen Bruder-Freunde sitzen, sie werden jedem Fahrgast salutieren.« (S. 27)

Salutierende Bruder-Freunde am Steuer? Schaut ganz so, als ob auch Krachts Modellbahnwelt den Beresina-Alarm kennt. Wie überhaupt so manche Elemente aus dem Film »Beresina oder die letzten Tage der Schweiz« die S.S.R.-Deko stellen: Sowohl die Wegzeiten-Beschilderung aus dem Réduit-Stollen wie auch die Jagdhütte hat Kracht – Modellbahnerehre! – filigran eingearbeitet. Vielleicht hätten sich Scheck und Kracht neulich – statt in einer Kaverne der Kölner Kanalisation – also auch gut unter den Kulissen des Hamburger MiWuLa gemacht.

*

Kracht für Streckenwärter

Schon »Faserland« war – trotz HaFraBa – ganz schön eisenbahnig. Und zwar nicht nur in Form des berühmt-berüchtigten Bord-Bistros, an das jetzt alle denken, mit Recht denken. Da war vor allem auch das Ding mit der Eisenbahn-Hochbrücke, von der die Exkremente runterplumpsen, weil die Zugklos ja früher wirklich offen auf die Strecke entleerten. Was das für darunterliegende Häuser und Gärten bedeutet hat, lässt dieser YouTube-Clip erahnen.

Jedenfalls: Die Fahrt von Sylt nach Hamburg verbringt der Ich-Erzähler weitgehend auf der Zugtoilette, und da fällt ihm ein, mal gelesen zu haben, »daß sich irgendwelche Menschen bei Kassel immer beschwert haben, wenn der Zug über eine hohe Eisenbahnbrücke fuhr«. Klar: Exkremente, eklig, Beuys, Kassel – die Assoziationskette passt. Aber, liebe Eisenbahnfreunde, noch mal zum Mitschreiben: Da rattert der »Faserland«-Erzähler zwar hinter »Blindglas« (Kracht, der alte Fuchs!), aber doch wohl mit der Marschbahn über den Nord-Ostsee-Kanal und faselt was von irgendeiner hohen Eisenbahnbrücke bei Kassel!? Für einen Hagen von Ortloff muss diese Form von Streckenblindheit die gleiche »parsifalhafte Unwissenheit« haben wie für Martin Hielscher die Tatsache, dass der »Faserland«-Held Walther von der Vogelweide und Bernhard von Clairvaux als mittelalterliche Maler bezeichnet.

(Vgl. Martin Hielscher: Pop im Umerziehungslager. Der Weg des Christian Kracht. Ein Versuch. In: Johannes Pankau (Hg.): Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg: Aschenbeck & Isensee 2004, S. 105.)

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Kracht für Bergbahnfahrer

Eisenbahnsemantisch legt Krachts S.S.R. im Vergleich zu »Faserland« noch mal deutlich eins drauf, und zwar nicht nur wegen der »Kaliber-52-Krupp-Schienengeschütze« (S. 105). Das ganze Réduit ist im Grunde nichts anderes als eine bombastische Bahnanlage, »hunderttausend Werst unterirdische Schienen (…), soviel wie zweimal um den gesamten Erdball« (S. 60).

Es sind, notabene, auch nicht irgendwelche Schienen im Réduit verlegt, sondern »die Schienenstränge einer Schmalspurbahn« (S. 100). Man fährt auf »Loren« durch lange Stollen und »mit eisernen Fahrstühlen, die wie Käfige an Stahlseilen befestigt waren, tiefe Schächte hinab« (S. 104).

Die Lieblingsszene aller Bergbahnfahrer ist natürlich die, wo der Aufzug steckenbleibt und ein junger Soldat (»es war ein Welscher«) so dermaßen Schiss hat, dass er dem schwarzen Kommissär blaue Flecken in den Arm kneift. Dass Welsche in dem Buch Rassisten sind, die ihrerseits dem Rassismus der Deutschschweizer ausgesetzt sind (»Die Welschen waren einfach nicht zu erziehen!«), ist eine Nebenstrecke des Romans und natürlich mal wieder Kracht, krachtiger geht’s nicht. Dass sich in steckengebliebenen Aufzügen zeigt, was ein echter Schweizer ist, findet wie Kracht übrigens auch Sibylle Berg, weswegen ihr NZZ-Text »In der Standseilbahn« ein ganz wunderbarer Stellenkommentar zu dieser Szene ist.

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Kracht für Eisenbahn-Ethnografen

Wie jede Fantasy spiegelt sich auch Krachts S.S.R. auf Schienen an Vorbildern aus der Wirklichkeit. NEAT-Feeling weht durch die »pneumatischen Tunnelbahnen, gigantische, sich in der von knisternder Elekrizität erhellten Dunkelheit kreuzende Netze. Von Basel bis Mailand in nur sieben Stunden.« (S. 27).

Zum zivilisatorischen Netz, das die Schweizer »mit manischer Effizienz« über Ostafrika legen, gehören neben – natürlich! – Eisenbahnstrecken (S. 76f.) auch »Militärakademien, um die Afrikaner zu Soldaten zu machen und damit den gerechten Krieg, der in der Heimat wütet, endlich zu gewinnen«.

Auf alle möglichen literarischen Matritzen des neuen Kracht-Buchs wurden und werden wir ja aufmerksam gemacht. Aber kein Hinweis, nirgends, auf Isolde Schaads »Knowhow am Kilimandscharo«. Wenn Krachts »Oktoberhaut« kein Pendant zu Schaads »Fitness-Bräune« ist, dann weiß ich auch nicht. Warum reagieren die Schweizer überhaupt so diskret auf das Buch? Oder nimmt man Kracht-Interviews (»Keine Satire«) neuerdings ernst?

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Kracht für Anschlussreisende

Einen seiner Höhepunkte nimmt das Kracht’sche Eisenbahnepos, als sich der afrikanische Ich-Erzähler an die wohl wichtigste Station seiner Ausbildung erinnert: eine Manöverübung, »die uns nicht nur die Wetterverhältnisse in der Schweiz simulieren, sondern auch die Metaphysik unseres neuen Vaterlandes näherbringen sollte« (S. 61f.).

Es geht zum Kilimandscharo. Aber wie! Jeder, der schon mal (once in a lifetime!) den Klassiker aufs Jungfraujoch gefahren ist (also: mit dem ICE bis Interlaken, der BOB bis Wengen, der Wengernalpbahn bis zur Kleinen Scheidegg und von dort mit der Jungfraubahn), versteht, warum Kracht die Episode so und nicht anders schildert:

»Wir bestiegen für den ersten Teil der Strecke einen Zug (…).«

Dann ist Umsteigen angesagt:

»Aus den offenen Waggons des Eisenbahnzugs ausgeladen, hatten wir kaum am Rand der Gleise unter der afrikanischen Sonne ein wenig rasten können, als ein junger schweizerischer Korporal uns schon zu einem Nebengleis führte, auf dem eine Draisine stand. Hinauf!«

Kürzeste Umsteigezeiten und immer perfekter Anschluss. Ein Swiss Travel System wie es im Buche steht. Der immer näher rückende Gipfel des Kilimandscharo dient dann unter anderem dazu, schon mal so Dinge wie das Alpenglühen aushalten zu lernen. Dann ist Endstation in Schweizerisch-Afrika: »Die Draisine wurde am Bahnhof von Moschi ordentlich auf ein Abstellgleis gefahren«, und wo es helvetisch zugeht, darf eben auch dieses Ritual bahnpostlicher Infrastruktur nicht fehlen: »wir meldeten uns alsbald beim Stationskommandanten, lieferten den mitgebrachten Postsack aus dem Nyasaland ab«.

Fantastisch! Also, ich würde mal sagen, mehr Persiflage auf die Choreografie der Schweiz geht gar nicht.

*

Niklas Maak und Werner Spies (und Baudelaire)

Dresden, 10. Dezember 2008, 08:02 | von Paco

Immer noch in Dresden. Schon seit Donnerstag (4. 12.), weil es da im Lipsiusbau eine Sternstunde des Feuilletons gab: Niklas Maak unterhielt sich mit Werner Spies, offiziell über dessen 10-bändige Werkausgabe »Auge und Wort«. Vor Ort ging es aber gar nicht um die Bände, stattdessen wurde es ein Anekdotenspektakel, bei dem glücklicherweise Publikum zugelassen war.

Maak kam etwas später, Stau auf der Autobahn, ein Kleinlaster sei umgekippt, offenbar genau der, der die erste Ladung Backsteine für das Berliner Stadtschloss bringen sollte. Vielleicht ist das ganze Schloss-Projekt also doch wieder gefährdet, hehe.

Das Gute an dem Gespräch war, dass es eben nicht um Frage und Antwort ging. Sie hauten sich die Taschen voll, im allerherr­lichsten Sinn. Spies hatte von Begegnungen mit Picasso erzählt, als Parallelaktion sprach dann Maak noch einmal über seinen Besuch bei Cy Twombly in dessen Festung aus mehreren zusammen­gewachsenen Häusern über der Küstenstadt Gaeta. Vor knapp 4 Jahren hatte er dieses Ereignis bereits schriftlich für die FAS rekapituliert (23. 1. 2005), damals allerdings noch in der unpersönlichen »wir«-Form. Die Nacherzählung legendärer Feuilleton-Artikel durch den Autor selbst ist ganz sicher der nächste große Erschließungskomplex im Zuge der aktuellen Blog-/Vlog-Offensive der FAZ.

Was sonst noch geschah:

Spies über Kahnweiler, der ihn immer vor Max Ernst gewarnt hatte.

Spies über den alten Picasso, der mal einen Kreis für ihn malte, als Beweis seiner Zurechnungsfähigkeit.

Spies über Breton & Co. und wie sie Sigmund Freud falsch verstanden.

Spies über Beckett, wie dieser einmal am Hölderlinturm Hölderlin rezitierte (die Köpfe des Publikums legten sich träumerisch schräg).

Spies über das hinter ihm hängende Gursky-Foto, das er mit Altdorfers »Alexanderschlacht« verglich, sicher die bleibendste Aussage an diesem Abend.

Und dann bezeichneten sich beide noch gegenseitig als Lieblingskollegen bei der FAZ, so also ist das.

Ich torkelte mit Millek aus dem steinsichtigen Kellergewölbe, und noch völlig frankophilisiert feierten wir, kitschig wie der rezitierende Beckett am Hölderlinturm, mit völlig unhaltbaren Argumenten verschiedene Baudelaire-Phrasen, bis sie uns zum Halse rauskamen.

Auf einmal wurde uns klar, was für ein schlechter Dichter Baudelaire doch war, zum Beispiel die Idee, Albatrosse als »vastes oiseaux de mer« zu bezeichnen. Was sollen denn »vastes oiseaux« sein? Warum nicht einfach »grands«? Ein missglückter Poetisierungs­versuch par excellence. Und so ging es weiter.

Das fiel mir gerade wieder ein, und es war natürlich grober Unsinn, was wir da zum Thema aufgeblasene Lyrik verbrochen haben. Natürlich ersetzt Baudelaire nicht »grands« durch »vastes«, sondern verschiebt das normalerweise auf »mer« bezogene Attribut und bezieht es auf »oiseaux«. Die »mer« ist mächtig »vaste«, ergo sind es auch die Vögel.

Überhaupt ist die französische »mer« im Allgemeinen dergestalt »vaste«, dass der französische Strindberg-Übersetzer es für nötig gehalten hat, den eher schlichten Titel »I Havsbandet« mit »Au bord de la vaste mer« zu übertragen. Es ist schließlich nicht von irgendeiner Pfütze die Rede, sondern von der vâââste mer.

Ob das abgedroschene Bild bei Baudelaire durch die Erkenntnis des selber auch reichlich abgedroschenen Tricks irgend besser wird, keine Ahnung. Wäre vielleicht eine gute Publikumsfrage für Werner Spies gewesen. Stattdessen hatte nämlich ein beschwingter Heimatmensch lieber gefragt: »Herr Spies, wie sehen Sie Dresden heute?«

Usw.

Die Wahrheit über Joachim Lottmann

Dresden, 8. Dezember 2008, 10:30 | von Paco

Die sicherste Weise, einen Stammplatz in der Literaturgeschichte abzukriegen, ist, sich mit allen Mitteln unumkehrbar mit dem Namen des größten lebenden Dichters aller Zeiten zu verknüpfen. Früher schrieb man irgendeinen belanglosen Brief an Goethe – dann wird man noch hunderte Jahre später mindestens in einer Regestausgabe namentlich erwähnt. Und, anderes Beispiel, Karl Ludwig Sand hat Kotzebue ermordet – das reicht immer noch für jedes mittlere literaturgeschichtliche Kompendium. Usw.

Und Joachim Lottmann hat als Erster überhaupt erkannt, dass Rainald Goetz, zumindest in den Jahren 2001 bis 2006, in denen er durch Nichtveröffentlichung hervortrat (ein performativer Akt, der unbedingt zum Œuvre zu rechnen ist), der Goethe unserer Zeit war. Schon vorher hatte Lottmann kaum einen Text geschrieben, ohne Goetz zu erwähnen, und das setzte er systematisch fort (zuletzt hier, hier, hier). Es hat ganz sicher funktioniert: Keine Literaturgeschichte wird je über Goetz sprechen können, ohne »Die Goetz-Rezeption bei Joachim Lottmann« unerwähnt zu lassen.

Doch dann passierte etwas. Unabhängig davon war Lottmann so eine Art guter Schriftsteller geworden, einige sagen sogar: sehr guter. Dabei hatte ihn die »Literarische Welt« ihren Lesern noch im Jahr 2003 als »Jürgen Lottmann« vorgestellt (und sich dafür entschuldigt). Die Namensvariante scheint sich allerdings langsam durchzusetzen (DeutschlandRadio Berlin, literaturkritik.de, Tivoli-Blog und noch mal die »Welt«) und zur Popularität des Autors beizutragen.

Denn spätestens seit 2004, 2005 oder 2006 wird Lottmann – vorerst noch in nicht-öffentlichen Gremien – der Klassikerstatus zugesprochen. Und Goetz musste das mitbekommen haben. Nachdem er Lottmann in »Abfall für alle« (1998/99) nur kurz und relativ negativ erwähnt hatte, kam er nun in seinem Vanity-Fair-Projekt »Klage« (2007/08) mehrfach auf ihn zu sprechen. Jedes Lottmann-Kapitel in jeder durchschnittlichen Literaturgeschichte wird nun umgekehrt auch Goetz mit nennen müssen, als Teilnehmer an der »Frühgeschichte der Lottmann-Rezeption in Europa«.

Doch dabei bleibt es nicht. In diesen Wochen und Monaten, wir alle spüren es, ist einer dieser schwer erklärbaren literaturgeschicht­lichen Synergieeffekte am Werk.

Goethe und Schiller. Grass und Walser. Goetz und Lottmann.