Archiv des Themenkreises ›F-Zeitung‹


In Herzliya

Tel Aviv, 6. Januar 2008, 14:07 | von Paco

Bei Eitan Mehulal hoch oben in den Ackerstein Towers in Herzliya. Der in Israel obligatorische schöne Meerblick aus dem Konferenzraum. Kurze Verzögerung, wir warten mit den Coffeetable-Books und durchblättern das schöne Ankuck-Buch »פורטרט ישראלי« (»Israelische Porträts«).

Darin auch eine Aufnahme von David Grossman, dem Verfasser des grandiosen Sticker-Songs, vertont von Hadag Nachash. Dann geht es kurz um den Song, dann aber auch gleich wieder um viele andere Dinge.

Um die Mittagszeit gehen wir hinunter ins Joya in der Rehov Shenkar. Irgendwie scheinen da gerade ein paar Kundengespräche zu laufen, das Restaurant ist auch auf den ersten Blick sehr geeignet für Kundengespräche, und wir erinnern uns an eine frühe Episode der US-Version von »The Office«, Folge 2.13: »The Client«. Weil Michael wegen eines Kundengesprächs nicht im Office ist, findet Pam zufällig seinen unfassbaren Drehbuchentwurf für einen Hollywood-Actionfilm mit dem schönen Arbeitstitel »Threat Level: Midnight«. Er wird mit verteilten Rollen gelesen, ein großes Highlight der zweiten Staffel!

Das Essen im, wie gesagt: Joya, sieht so aus, dass ich auf einmal weiß, warum Henryk M. Broder bei seinen Restaurantbesuchen in aller Welt manchmal frisch servierte Tellerladungen fotografiert. Genau, lass uns jetzt auch anfangen, Essen zu fotografieren, sagt Millek, aber uns ist klar, dass wir hinter der Ästhetik von Broders Essensbildern immer zurückstehen müssen. Was wir dagegen gut können, sind völlig indiskutable, anti-touristische, verwischte und prinzipiell motivlose Handybilder von Kaffeehäusern, hehe.

Wir gehen noch ein paar Alex-Rühle-Artikel durch, außerdem ein paar Zeitungstexte zum Urteil in Sachen »Esra«, und halten vor allem die von Heribert Prantl (SZ, 13. 10.) und Remigius Bunia (FAZ, 13. 10.) gegeneinander.

Während der Rückfahrt nach Tel Baruch Zafon kommt ein Anruf aus dem Institut. Milleks Postkasten ist über und über mit Zeitungen gefüllt, ob sie die entsorgen sollen. Millek fragt zurück, ob da jemand wahnsinnig geworden sei, Zeitungen bitte im Office zwischen­speichern, wie eigentlich abgesprochen. Usw.


Der Silvestertaucher:
Zwischen den Jahren in den Feuilletons

Konstanz, 3. Januar 2008, 18:26 | von Marcuccio

Hatte ich mich eben noch geärgert, die Weihnachts-FAS samt Sibylle Bergs Artikel über St. Moritz beim Snowboarden ebenda verpasst zu haben, konnte ich nach der Beinahe-Begegnung mit Putin auf der Piste und Ahmadinejacket in der Loipe nur feststellen: Das war noch längst nicht die ganze Bescherung, im Gegenteil. Und deshalb ein kleiner Rückblick auf allerlei Feuilleton-Bräuche zum Jahreswechsel.

Malen nach Zahlen bei den Perlentauchers

Es war schon ein historischer Augenblick, als am 29. 12. die erste Perlentaucher-Presseschau mit Gemälde ans Netz ging. Ob sich der Perlentaucher für diese Aktion vom »Holy Family Set« (FAS vom 2. 12.) inspirieren ließ? Ob Thierry Chervel dieses eventuell sogar eigenhändig ausgemalt und eingesandt hat, um ein FAS-Jahresabo 2008 zu gewinnen und (unserem Pilotprojekt folgend) endlich den Sonntagstaucher zu starten? Wir können nur spekulieren und warten gespannt, was wird.

Bleigießen mit der S-Zeitung

Eher Konventionelles, nämlich eine bewährte Mischung aus Rückblick und Ausblick boten die »zehn Ideen, die uns bleiben« in der S-Zeitung vom 29. 12.: »Monopol« und »Monocle« wählten München zur City of the Year, der Klimawandel forderte ebenso seinen Tribut wie Damien Hirst sein Stück vom Diamantenschädel … Am Ende hätten wir uns das ziemlich genau so gedacht, aber na gut, wenn solche Trends auch nur einigermaßen repräsentativ sein sollen, bleiben sie für uns Halbwelt-Junkies notgedrungen im Rahmen des Erwarteten. Typisch nur, dass die S-Zeitung dann mal wieder übers Ziel hinausschießt und aus ihren zehn Ideen online gleich redundante 19 Vignetten macht – wieder eine ihrer berüchtigten »unsinnigen Klickstrecken«.

Chinaböller im »Spiegel«

Was man da mit der Silvester-Ausgabe als »KulturSpiegel« für Januar frei Haus bekam, war wirklich ein Rohrkrepierer: 16 Seiten Statements, »warum Künstler Olympia so lieben« – nein danke. Nachdem schon die gelben Spione so peinlich waren, muss man auf echte neue »Spiegel«-Kracher aus dem Reich der Mitte wohl weiterhin warten. Derweil lese ich doch lieber nochmal Ulrich Fichtners unvergessene Reportage über Shenzen: »Die Stadt der Mädchen« (6/2005).

Sündenablass bei der F-Zeitung

Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern: Am 28. 12. verpuffte die Meldung, dass der Tod eines Kritikers jetzt verjährt und Martin Walser Ein liebender Mann ist, der ab Februar in der F-Zeitung vorabgedruckt wird. Am 31. 12. folgte als Schirrmacher-Chefsache ein ganzes Schreibschulden-Register, in dem die Feuilletonredaktion Altlasten in eigener Sache abtrug. Und Gerhard Stadelmaier scheint in diesem Zusammenhang bekennen zu wollen: Verantwortlich für den sprichwörtlichen Tort eines Kritikers muss gar nicht immer ein Spiralblock, es kann auch der eigene Fingerknöchel sein.

Limonaden-Countdown im Deutschlandfunk

31. 12., 23:05 Uhr: Gepflegte Unterhaltung prickelt über den Äther, wenn sich zur letzten Radiostunde des Jahres die drei »Büchermarkt«-Redakteure Hajo Steinert, Hubert Winkels und Denis Scheck zusammensetzen, um bei einem Glas Limonade das literarische 2007 Revue passieren zu lassen. In munterer Silvesterlaune plaudert Denis Scheck dann auch schon mal ein Betriebsgeheimnis aus, so etwa ab Minute 4:27: »Also, ich darf der Wahrheit Ehre geben. Ich habe ganz sicher keine Limonade vor mir stehen.«

0:00 Uhr in der FAS: »Endlich Gegenwart!«

Das Jahresend-Spezial der FAS war eine exzellente Zündung, auf die Tel-Aviv-Koinzidenz hat Cobalt ja schon verwiesen. Ich ergänze an dieser Stelle weitere ungeahnte Korrespondenzen zwischen dem Umblätterer und der FAS (Fusionsgerüchte dementieren wir indes entschieden):

Johanna Adorján hat also auch eine Tagesschau-Tante, und um die herum entfaltet sie den herrlichen Beitrag »Mensch und Maschine: Moderne Kommunikation« (S. 29). Ein astreiner Epilog auf die Rituale einer letzten Generation ohne Google, Handy usw. Ganz nebenbei erweitert sich hiermit auch das von Paco ins Leben gerufene Rubrum Software & Erinnerung um die nicht unbedeutende Dimension der Hardware (Stichwort Wählscheibe).

Auf derselben Seite, links neben Adorján, serviert uns Nils Minkmar »Mensch und Margarine: Kapitalismus als Passion«. Ein schöner Review zum Lekr-Markt an der Ecke Hufeland-/Bötzowstraße in Berlin und nach dem (verpatzten) Auftakt durch Alexander Marguier das, wie ich meine, erste wahre Supermarkt-Feuilleton.

Das war sie denn auch schon fast, die feuilletonistische Bescherung zum Jahreswechsel. Folgt nur noch ein schöner Brauch: Unsere Bekanntgabe der Best of 2007.


Tausche »Spiegel« gegen »FAZ«

Tel Aviv, 31. Dezember 2007, 00:40 | von Paco

Nach dem Aufstehen kurz Pita, Humus, Nutella und den Wilhelm-Busch-Artikel von Elke Schmitter, sehr gut, unerwarteterweise ein Highlight der Ausgabe. Sehr interessant der Battle zwischen den drei erwähnten neuen Busch-Biografien zum 100. Geburtstag.

Frühstück

Millek liest den »Yedioth Ahronoth« von heute, das Centerfold der Entertainment-Sektion, »צו אופנה« (»tzav ofna«), ein Wortspiel. ›tzav‹ ist ›Befehl‹, im engeren Sinn der Einberufungsbefehl, ›ofna‹ heißt ›Mode‹. Man könnte das mit »Ruf der Mode« ins Deutsche übersetzen, doch für ein funktionierendes Wortspiel müsste dann jedem noch klar sein, was ein »Ruf der Pflicht« ist. Na gut, unter jedem zweiten Weihnachtsbaum dürfte der Egoshooter »Call of Duty 4« gelegen haben.

Jedenfalls geht es um US-Mädels, die Dienst in der israelischen Armee leisten. Sie werden jeweils einmal in Uniform, einmal in ihrem Freizeitstyle abgebildet und fragebogenartig vorgestellt:

Ruf der Mode

Sowas sollte »Vanity Fair« mal machen, liest sich schön zwischendurch weg und ist sozusagen mindestens genauso gut wie damals die »Monocle«-Story über die japanische Navy.

Viel mehr ist nicht zu holen in der heutigen YA, also streiten wir uns um den »Spiegel« und zerreißen ihn schließlich in der Mitte. Guter Kompromiss.

Dann zum zweiten Frühstück ins Boya am alten Hafen. Shakshuka bis zum Abwinken. Dazu das tiefblaue Mittelmeer als Kulisse und die letzten ungelesenen »Spiegel«-Artikel.

Ich habe den vorderen Teil abgekriegt, den mit der Koran-Titelgeschichte, dem Schäuble-Artikel, alles schon gelesen. Was bleibt, ist der Klaus-Brinkbäumer-Artikel über den verschwundenen Abenteurer Steve Fossett und dessen ihn vermissenden Milliardärskumpel Barron Hilton. Ein unnötig langer Artikel, würde man denken (S. 62-68), aber das ist genau die »Spiegel«-Epik, der man sich nicht entziehen kann.

Am Strand trafen wir etwas später einen Berliner Touristen, der die vorgestrigen Ausgaben der FAZ und SZ bei sich trug. Wir schlugen ihm ein Tauschgeschäft vor, unser »Spiegel« gegen die Zeitungen, aber da das Aust-Blatt schon zerrissen und erkennbar ausgelesen war, wollte er nur eine Zeitung hergeben.

Es war die Stunde der Entscheidung. Wir nahmen die F-Zeitung, denn die war auch einfach zu reichhaltig. Wann hat man schon mal einen Artikel über Klaus Heinrich im Feuilleton (diesmal Friedrich Wilhelm Graf zum 8. Band der »Dahlemer Vorlesungen«). Und dann noch Andreas Platthaus zu den »Mosaik«-Comics, anlässlich einer Hallenser Ausstellung. Was für eine gelungene Mischung, die mussten wir haben.

Dann gingen wir neues Nutella kaufen und alte Zeitungen wegbringen, und zuhause kam auf yes stars 3 zufällig die »Curb«-Folge 4.01, ein Highlight-Revival, die Karaoke-Bar, der Zwischenfall mit dem Handy-Rollstuhlfahrer, Larrys Suche nach chinesischen Vornamen, schließlich die titelgebende »Mel’s Offer«, die Larry zum Max Bialystock macht.

Usw.


Die F-Zeitung vom 22. 12. 2007:
Homer und Troia, Goethe und Ebay

Göttingen, 22. Dezember 2007, 19:14 | von Paco

Die Film-Fraktion hat hier in den letzten Tagen die Oberhand gewonnen, weil Marcuccio und ich mit dem Küren der Feuilleton-Top-10 für das Jahr 2007 befasst waren (und noch sind).

Da schneit es heute eine herrliche Vorweihnachts-FAZ vom Himmel. Gestern gab es online die Ankündigung des Homer-Scoops. Und als ich eben im großen Tonollo auf der Weender Straße die FAZ vom Stapel nahm, sah ich sofort, dass es das Feuilleton wieder auf die Frontpage geschafft hat, was selten genug ist, inklusive buntem Bild (einer Kopie von Ingres‘ « L’Apothéose d’Homère »).

Scoopen kann das FAZ-Feuilleton schließlich wie keine andere Redaktion. Vor nunmehr fast 4 Jahren hat der Ex-FR-Feuilletonist Wolfram Schütte die mediale Aufbereitung zweier literarhistorischer Funde verglichen: Während die im »Focus« präsentierte Entdeckung einer sehr wahrscheinlich direkten Quelle für Thomas Manns »Zauberberg« nur ein »Schweigen im Blätterwald« nach sich zog, machte die FAZ Michael Maars Entdeckung eines deutschsprachigen »Lolita«-Vorgängers zu einem Medienereignis. Sowas konnte und kann nur das Großfeuilleton der F-Zeitung.

Jetzt also Raoul Schrott, der eigentlich nur ein Vorwort zu seiner nicht-hexametrischen Neuübersetzung der »Ilias« schreiben wollte. Doch dann sammelte er über ein Jahr Beweise für eine These, die den biografischen Hintergrund Homers betrifft. »Und das, obwohl man von Homer nur eines weiß: nämlich nichts«, wie er es in der FAZ schön formulierte.

Schrott darf ganze vier Seiten im Samstags-Supplement »Bilder und Zeiten« füllen, die insgesamt mindestens eineinhalb Stunden konzentrierter Lektüre erfordern. Yeah! Ein Orts- und Namensspektakel, dem man trotzdem noch anmerkt, dass zu wenig Platz bleibt, um alle Beweise und Vermutungen auszubreiten. Die FAZ fasst die neue Homer-These zusammen:

»Der Dichter lebte in Kilikien, heute Türkei, als griechischer Schreiber der assyrischen Machthaber. Beider Konflikte verwob Homer in sein Werk, ebenso wie das Gilgamesch-Epos und das Alte Testament. Die größte Überraschung: Vorbild für Troia war Karatepe, eine Hauptstadt Kilikiens.«

Schrott versucht nun minutiös, für das homerische Figurenensemble Entsprechungen in historischen Personen zu finden. Er spricht von einem »Projektionsmechanismus Homers, der wie jeder Dichter nach ihm seine ureigenste Umgebung auf die Topographie seiner Fiktion überträgt«, und kommt zu dem Ergebnis:

»Wo seine Troer für die späthethitischen Kiliker stehen können, verleiht er seinen Griechen – allen voraus Achilleus – stellenweise Züge, die deutlich auf Hybris und Grausamkeit der Assyrer verweisen.«

Das einschränkende »stellenweise« weist schon auf den Gestus der allumfassenden These hin. Schrott stellt sie expressis verbis zur Diskussion, auch wenn sich die Überschriften in der FAZ schon wie unumstößliche Wahrheiten lesen. Schrott gelingt es aber auf jeden Fall, die Lust am Abenteuer Übersetzung und am (oft ja leicht scharlatanischen) Abenteuer Etymologie spürbar zu machen.

Goethe und Ebay

Aber auch sonst ist die heutige F-Zeitung gut bestückt: Auf den Wirtschaftsseiten, Abteilung »Finanzmarkt«, gibt es einen Beitrag zum Thema »Goethe und die Wirtschaft«. Bzw.: »Goethe und Ebay«. Dem heutigen Perlentaucher ist er leider entgangen, deshalb jetzt eine kurze Zusammenfassung:

»Von Goethe erdacht, von Ebay genutzt: Zweitpreis-Auktionen«, lautet die Überschrift des Artikels von Benedikt Fehr. Das ist natürlich etwas konstruiert: Goethe hatte 1797 seinen Mindestverkaufspreis für »Hermann und Dorothea« versiegelt seinem Mittelsmann Böttinger überlassen und den Verleger Vieweg aufgefordert, seine Preisvorstellung zu nennen. Hätte der eine niedrigere Summe geboten, wäre das Manuskript unverkauft bei Goethe geblieben. Hätte Vieweg dagegen mehr geboten, hätte Goethe nur die von ihm verlangten 1.000 Taler verlangt.

Das erinnert in der Tat ein wenig an das Ebay-Bieterverfahren, aber eben nur ein wenig, und deshalb schreibt Fehr, mit einer Expertenmeinung im Rücken: »Zwar gibt es mit Vieweg nur einen Bieter, aber der von Goethe verdeckt hinterlegte ›Reservationspreis‹ spielt die Rolle eines zweiten Preises.«

Das von William Vickrey entwickelte Verfahren der Zweitpreisauktion wird also genealogisch bis auf Goethe zurückgeführt. Wobei die Umstände von Goethes Entlohnung (zu der es schließlich auch kam) natürlich bereits weithin bekannt waren. Nur werden sie jetzt aber eben in den Ebay-Zusammenhang gerückt. Das kann man machen, diese Art vergleichenden Rückbezugs ist schließlich eine feuilletonistische Denkbewegung reinsten Wassers, die schon auch verblüffen kann.

Die Heilige Barbara

Soweit zur Hammer-FAZ von heute. Nebenbei, auf den Stammseiten des Feuilletons (S. 40) gibt es eine leicht besinnliche Bildergalerie, und neben zahlreichen Mariae gibt es auch Parmigianinos »Heilige Barbara«, die im Moment an die Alte Pinakothek in München ausgeliehen ist. Wir sahen sie zuletzt an ihrem eigentlichen Standort, im Prado. Heute in der F-Zeitung war etwas mehr Zeit für die Betrachtung, denn im September mussten wir noch verschwitzt am Original vorbeihetzen, hehe.


Das Feuilleton und die Webloggerey

Leipzig, 12. Dezember 2007, 22:55 | von Paco

»Das Wort ›Feuilleton‹ mutiert für mich Tag und Tag mehr zu einer Beschimpfung.«

Schreibt Thomas Knüwer heute. Das Feuilleton muss gegen diese Mutationsvermutung sicher nicht in Schutz genommen werden, dazu ist es zu vielschichtig. Außerdem ist die Beschimpfung natürlich schon immer ein Bestandteil großen Feuilletons gewesen.

Dass die gemeinten »höchstnäsigen Innovationsverweigerer« zufällig auch Feuilleton-Schreiber sind, ist aber leider sicher kein Zufall. Ich habe noch in keiner gedruckten Zeitung oder Zeitschrift einen Artikel gelesen, in dem auch nur ansatzweise etwas Wahrhaftiges über die »Webloggerey« (Dietmar Dath) stand.

Was heißt es, Don Alphonso zu lesen? Was heißt es, Rechtschreibprobleme von Kommentarschreibern freudig hinzunehmen? Was heißt es, BILDblog nicht mehr deswegen zu lesen, weil man sich über die »Bild«-Zeitung aufregen will? Was heißt es, wenn man sich bei den Techies von F!XMBR besser über die Lage der SPD informiert fühlt als in den Kommentarspalten der Zeitungen? Usw.

Nichts davon im Feuilleton. Dabei ist es das einzige Zeitungsgenre, das sich erlauben dürfte, so einen Wahnsinn mal adäquat darzustellen.

Erste Ansätze für eine gestiegene Blog-Kompetenz des Feuilletons gibt es aber. Es ist kein Zufall, dass der Perlentaucher in seiner Ur-Rubrik »Heute in den Feuilletons« seit kurzem auch Artikel »Aus den Blogs« erwähnt, noch immer nur sporadisch, aber immerhin. Dort hat man begriffen, dass man primär Teil der Netzkultur ist und nicht Teil der Zeitungswelt. Seit dem beef mit der F-Zeitung wird der Ton zuweilen auch bissiger und es wird in der Feuilleton-Rundschau ein bisschen herumgedisst.

Wobei weiter problematisch bleibt, dass man nicht weiß, wer letztlich die Perlentaucher-Texte verfasst hat. Machen das doch nur die Praktikanten? Oder auch langgediente Schreiber, die mit der Zeit einen eigenen Perlentaucher-Stil entwickeln? Es wäre sehr zu begrüßen, wenn die Perlentauchers wenigstens Namenskürzel einführen würden, damit ihre Feuilleton-Show ein wenig personalisiert wird. (So wie wir das beim Sonntagstaucher gemacht haben, hehe.)

Wenn zum Beispiel Thierry Chervel dann doch noch mal selber eine Zeitung rezensiert, würde das die Klickzahlen sicher in die Höhe schießen lassen. Ich jedenfalls würde da jedes Wort lesen statt nur einen Zickzack über die Links zu machen.

Darum ging es jetzt zwar gar nicht, aber das ist auch mal schön, dass man hier dem Pointenzwang des gedruckten Feuilletons entgehen kann. (Oder war das gerade doch eine Pointe?)


Das Gründungsdokument des deutschen Supermarkt-Feuilletons

Konstanz, 13. November 2007, 10:41 | von Marcuccio

Große Freude, als sich mit Alexander Marguier aus dem Gesellschafts-Ressort der FAS endlich mal jemand der deutschen Supermarkt-Misere annahm (»Restlos bedient«, FAS vom 9. 9., S. 57). Ist das jetzt vielleicht das Gründungsdokument des deutschen Supermarkt-Feuilletons, fragte ich mich, denn schon der erste Satz des Artikels sprach mir aus der Seele:

»Merkt das eigentlich keiner oder stört sich nur niemand daran?«

Und weiter:

»Nein, Lebensmittel einzukaufen, das macht in Deutschland oft überhaupt keinen Spaß – erst recht nicht, wenn man weiß, wie es anderswo zugeht.«

Anderswo, das ist für Marguier vor allem Fronkreisch mit seinen fußballfeldgroßen Hypermarchés à la Carrefour & Co. Und fast meint man die Diagnose herauszulesen, die Deutschen hätten zu kleine Supermärkte und zu wenige auf der grünen Wiese.

Egal, Marguier rankt Deutschland auf das Supermarkt-Niveau der Ukraine und denkt bei seinen Verbesserungsvorschlägen grundsätzlich schon in die richtige Richtung: Wo Waren ansprechender präsentiert werden, geben die Leute auch gerne mehr Geld für Lebensmittel aus, und das tun die Deutschen ja am wenigsten von allen Europäern. Soweit, so bekannt.

Nur, dass Marguier dann wirklich dieser Sprühkühlungsmär aufsitzt, setzt seine Supermarkt-Bonität schlagartig zurück auf Null. Denn gerade diese Nebelmaschine, die den Kunden taufrisches Gemüse simulieren soll, tropft doch die knackigsten Salatköpfe regelmäßig bis zur verlässlichen Innenfäule voll.

Sprühkühlungsanlagen sind deshalb, außer dass sie den Verkauf ankurbeln, ebenso gaga wie die irgendwie immer an Ferkelaufzuchtlaternen erinnernden Spotlights, die die Auslage in der bedienten Wursttheke weggrillen.

»Ich weiß, wovon ich spreche«, würde Denis Scheck an dieser Stelle sagen, und ich sage: Wer …

– in Grenznähe zu Swiss Quality »Migros« und »Coop« sozialisiert,

– in Lehr- und Wanderjahren von Leipziger »Spar«-Läden und Römischen »Standa«-Supermercati (von, nun ja, Berlusconi) kontaminiert

– und schließlich vom Tiroler »M-Preis« affiziert wurde,

… der glaubt eben irgendwann an die architektonische, ästhetische und hygienische Überlegenheit der Alpen-Supermärkte (vom Sortiment mal ganz zu schweigen).

Möglicherweise hängt der kultivierte alpennahe Supermarkt-Hochmut aber auch mit der gleichgearteten Wirtshausfrage zusammen, die Michel de Montaigne schon 1580 zugunsten der nördlichen Schweiz, Süddeutschlands und Tirols entschieden hat. Den wunderbaren Hinweis darauf lieferte letzthin Erwin Seitz in seiner Phänomenologie des gemeinen Gasthauses (Beisl, Beizli) in der F-Zeitung vom 20. 10. (Bilder und Zeiten, S. Z 3).

Gastro-Feuilleton ist eben super. Es braucht noch nicht einmal eine Gemüse-Befeuchtung und liest sich schon lecker.


+++ Unsere Exzellenz-Initiative zeigt Erfolge +++

Konstanz, 10. November 2007, 16:01 | von Marcuccio

Hatte der Umblätterer, ehrlichstes Consortium für die Transparenz der Exzellenz im deutschen Feuilleton, diesen Herbst möglicherweise ein paar Wünsche frei? Es gibt da ein paar handfeste Indizien:

1. Die Farbfolge im FAS-Feuilleton. Nach Stefan George in Sektenguru-Grau (FAS vom 8. 7.) und Oswald Spengler vor Abendland-Untergeher-Rot (FAS vom 19. 8.) kam es nun doch noch, wie von Dique gewünscht, zu Gómez Dávila und dem Feuilletonaufmacher in Grün. Zwar nicht in direkter Kombination, aber doch in ziemlich zeitnaher Abfolge: Kaum war Dávila undercover in der Buchmessen-FAS aufgetaucht (nämlich in Volker Weidermanns (?) »Suada« unter dem Strich), da folgte in der FAS vom 21. 10. der unübersehbare Hinweis, dass der globale Klimawandel die Halbwelt erreicht hat:

»Grüner wird’s nicht«

… titelte der Aufmacher, und mittendrin in einer grasgrün ausfransenden Zeitungsseite stand Ian McEwan in einem giftgrünen Hemd. Das Interview über grüne Moral in der Literatur gab dann naturgemäß (hehe) nicht mehr her, als wir seit Gudrun Pausewang (»Die Wolke«) auch schon wussten:

»Man kann einem Roman mit zu viel moralischer Intention alles Leben austreiben, jede Geschichte wird unter dieser Last kollabieren.«

2. Unangekündigtes Spoiling in Buchrezensionen, von Paco neulich noch im Gegenlicht der so ganz anderen Praxis bei den Serienjunkiez betrachtet, scheint seit dem 23. 10. erstmals auf dem Rückzug. Da las man in der F-Zeitung doch tatsächlich und buchbezogen: »(Achtung, Spoiler.)« Notabene: in der F-Zeitung, deren Fraktur-Freunde alter Schule womöglich noch nicht einmal wissen, was Spoiling überhaupt ist. Gefreut haben dürfte sich in jedem Fall unser Mitleser Dumbledore, gab sein Outing auf allen Kanälen doch überhaupt erst den Anlass.

3. Mit unserem Motto (Feuilleton fordern und fördern und dabei ackern wie ein Maulwurf) bleiben wir »dran!sparent«, wie sms schreiben würde. Und trotzdem sind die paar Sekunden Umblätterer bei Matussek natürlich kein Vergleich zu einem Migros-Kulturprozent-Award. Complimenti dazu, und weitere Erfolge unserer Exzellenzinitiative in der Themen-Subsparte ›Supermarkt‹ demnächst wieder hier.


F-Zeitung, FAS, Monocle, strassenfeger

Berlin, 29. Oktober 2007, 15:54 | von Dique

»Das Grauen vom Lande« eröffnet das sonntägliche Feuilleton, und auf dem Bild zum Text grinst Kurt Beck im kurzärmeligen, karierten Campinghemd, aber es fehlt der »Titanic«-Schriftzug »Knallt die Bestie ab!« – Freitag in Berlin aufgeschlagen, grüßte mich Bruno schon von jeder Zeitung, begonnen mit der Berliner Morgenpost, und da nun ja auch die F-Zeitung ein Bild auf der Titelseite hat, strahlt er auch von dieser.

Die aktuelle »Monocle« (issue 08) hat auch ein FAZ-Bild auf die Titelseite gesetzt, dahinter wahlweise eine junge Frau oder einen jungen Mann mit jeweils schwerer Brille. Ja, richtig, »Monocle« erscheint mit zwei verschiedenen Titelseiten. Gibt es wirklich Leute, die deshalb wissentlich (oder gar unwissentlich, hehe) zwei Mal kaufen?

»Achtung! Hold the front page« heißt der Artikel, und es gibt ein ganzes Zeitungsspezial, das einen netten Überblick über weite Teile der internationalen Zeitungslandschaft gibt. Man erfährt zum Beispiel, dass die japanische Tageszeitung »Yomiuri Shimbun« mit einer 14-Millionen-Auflage erscheint, wow!

Ansonsten: »Horn Of Plenty«, ein Artikel über Djibouti, ist sehr spannend, sowie eine lange Nummer über Murmansk (»High Energy«). In der Politiker-Style-Rubrik geht es um Königin Rania von Jordanien, na ja, immer noch besser, als wenn es um den kurzärmeligen Beck ginge.

Aber zurück zum FAS-Feuilleton. Claudius Seidl meint, dass das Übel an Beck sein Provinzialismus sei und kann das auch sehr gut begründen. Dieser Provinzialismus sei eben nicht nur »ein Mangel an Ausdruck, Form und Haltung, sondern ein Mangel an Substanz« (wie ihn auch Peter Unfried in der taz von heute zitiert). Den Seidl-Artikel bitte lesen!

Wenn man Robert Redford aus rahmenloser Brille aus schwarzem Rollkragenpullover aus schwarzem Hintergrund lächeln sehen möchte, schlägt man das Feuilleton-Buch einmal auf. Man kann aber auch gleich eine Seite weiterblättern und die Rezension über die Herman-Melville-Biografie von Andrew Delbanco durchlesen, und die macht wirklich neugierig. (Der Artikel von Manuel Karasek ist nicht online, daher hier die Kritik des Deutschlandradio).

Daneben dann Peter Richter über das Obdachlosenmagazin »strassenfeger«, welches ich mir tags zuvor in einer Berliner S-Bahn kaufte, auch wegen der »Uta« aus Naumburg auf dem Titelbild.

Und dann gibt es noch einen großen Johanna-Adorján-Artikel über das Pyramiden-Project von Ingo Niermann und Jens Thiel. Die Idee entstammt Niermanns Buch »Umbauland« von 2006. Um das Beschäftigungsproblem Ostdeutschlands zu lösen, schlägt er den Bau eines riesigen Totenmonuments in Form einer Pyramide vor.

Diese traumhafte, etwas spinnerte Idee wurde zum Selbstläufer, und nun fangen tatsächlich einige renommierte Architekturbüros dieser Welt mit Entwürfen an. Mit 89.000 Euro fördert die Bundeskulturstiftung das Projekt, und in der Jury des Architektenwettbewerbs befinden sich Namen wie Rem Koolhaas, Miuccia Prada und Omar Akbar.

Alles in allem wie immer eine super Ausgabe, und ich habe hier nur vom Feuilleton gesprochen.


Günter Grass in Bologna

London, 4. Oktober 2007, 07:05 | von Paco

Getriggert durch Michael Jürgs‘ Grass-Artikel neulich (vorletzten Samstag) in der Wochenendbeilage der S-Zeitung fiel mir wieder der 12. August 2006 ein. Ich war damals gerade in Bologna, wegen der Restaurationsarbeiten in San Petronio.

Wie auch immer, am Vorabend hatte ich bei SP*N die Vorabmeldung gelesen. Am nächsten Tag würde die F-Zeitung ein Exklusiv-Interview mit Günter Grass bringen, in dem dieser seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS sagen-wir-mal ›gestünde‹.

Yeah, dachte ich aus irgendeinem Grund. Es würde wieder ein FAZ-Erlebnis werden wie zuletzt am 29. Mai 2002.

Ich hatte geahnt, dass sich das Herumsprechen würde und war am nächsten Morgen gleich um 8 beim Zeitungskarren unter den Due Torri.

Ich erwischte eine der letzten Ausgaben. Der SZ-Stapel war dagegen unangetastet. Ich überquerte die Straße und schritt auf McDonald’s zu. In Italien einen Cappuccio bei McD zu nehmen ist doch mindestens genauso gut wie zuletzt Jürgen Dollases Stippvisite bei »Subway«. Außerdem wird man da nicht rausgemobbt, sondern kann stundenlang in den Feuilletons dieser Welt lesen.

Jedenfalls: Ich betrat die Filiale und sah – lauter offenbar deutschsprachige Menschen, die grinsend, kopfschüttelnd, nickend und/oder mit weiten Augen alle dieselbe Stelle der F-Zeitung lasen.

Auch an der Theke stand vor mir ein vertiefter Zeitungsleser. »Ts, ts. Unser Nobelpreisträger«, murmelte er und bestellte sich noch einen saftigen McRoyal DeLuxe.

Der herrliche McRoyal DeLuxe wurde inzwischen übrigens abgeschafft, genau wie die Waffen-SS. Nur den Nobelpreis, den gibt es immer noch, hehe.


Wo warst du, als es passierte?

Madrid, 24. September 2007, 16:43 | von Paco

Das kann ich ganz genau sagen. Auf dem Weg zur Real Academia de Bellas Artes de San Fernando. Wir wollten uns dann doch noch einmal den Arcimboldo und die paar Riberas anschauen.

Und jetzt war es 9:03 Uhr und mich traf der Schlag. Ich war gerade dabei, mit Opera Mini auf dem Handy die Perlentaucher-Feuilleton-Schau zu scannen, die gerade online gegangen war. Ich musste kurz anhalten. Denn ich glaubte, mich auf dem Miniscreen verlesen zu haben. Aber da stand es, in der Inhaltsangabe der heutigen S-Zeitung:

»Hans-Jürgen Jakobs meldet überdies, dass die FAZ ab dem 5. Oktober mit Fotos auf der Titelseite und ohne Frakturschrift über den Kommentaren präsentieren will, um sich den Anschein von Modernität zu geben.«

Ich stand immer noch so halb auf der Calle de Alcalá und surfte Google News an und bekam heraus, dass der eigentliche Scoop ganz ausführlich im heutigen »Spiegel« steht. Ich rannte zum nächsten Quiosco und erstand das rote Magazin. Seite 90 bis 92. (Und auch kurz auf SP*N und schon schön eingetütet ins Altpapier der Netzeitung.)

Mit einem flauen Revolutionsgefühl im Magen ging ich weiter Richtung Academia. Dort warteten Dique, San Andreas und Cobalt. Alle hielten sie das Heft aufgeschlagen in den Händen, Seite 92/93. Nur Dique hatte schon gleichgültig weitergeblättert und las auf den Seiten 128 bis 130 den Sarkozy-Artikel, »Sarkozy«.

Wie auch immer, das war es dann mit Arcimboldo. Und auch auf die FAS, die Dique mir endlich überreichte, hatte ich keine Lust mehr. Wir gingen in die gut versteckte Fischbude in der Calle de Tétuan und diskutierten bei Kaffee und Karpfen die frakturlose Weltlage.