Sonne und Kino — Ein Wochenende in 3D

London, 9. Mai 2011, 18:07 | von Dique

Ich gehe am liebsten am frühen Nachmittag ins Kino, da ist es immer so schön ruhig. Wenn der Film dann vorbei ist, bin ich stets angenehm erfreut, dass ich noch den ganzen Abend vor mir und scheinbar schon so viel erlebt habe.

Werner Herzog: »Cave of Forgotten Dreams«

Am Samstag sind wir zur Nachmittagsvorstellung ins Gate Cinema in Notting Hill gegangen, um uns »Cave of Forgotten Dreams« anzusehen, den neuen Hit von Werner Herzog. Es wird ein dreifacher Abstieg an diesem sonnigen Tag, in die Dunkelheit des Kinos, in die Tiefe der Höhle und in die plastische 3D-Welt. Als vierte Dimension sollte ich vielleicht noch die eigenartig einzigartige Welt erwähnen, die das sonore Englisch erzeugt, in dem Werner Herzog seine Filme kommentiert.

An der Kasse fragt man uns, ob wir unsere eigenen 3D-Brillen dabeihaben oder für zusätzliche 70 pence welche kaufen werden. Die Frage kommt mit einer Selbstverständlichkeit daher, dass ich mich beinahe schäme, jetzt hier eine der 3D-Brillen erwerben zu müssen, statt gleich mein eigenes cooles Teil aus der Tasche ziehen zu können. Wegen des billigen Preises halte ich den Obolus zuerst für eine Miete, aber die Brillen gehen tatsächlich in unseren Besitz über. Beim nächsten Mal werde ich also lässig nicken können, wenn jemand mein 3D-Brillen-Besitztum abfragt.

Im Film selbst gibt es dann neben der irren Landschaft im Tal der Ardèche die über 30.000 Jahre alten Kunstwerke zu sehen. Sie haben die vergangenen Jahrtausende in der zugeschütteten Chauvet-Höhle überlebt und sind erst vor ein paar Jahren wieder entdeckt worden, und Besucher haben normalerweise keinen Zutritt. Als ich die ersten Bilder an den Wänden erblicke, klar und scharf und in 3D, denke ich sofort an einen Fake, einen Hoax, einen Scherz, denn Qualität und Zustand der uralten Malereien sind atemberaubend.

Im Film wird deshalb auch gleich erklärt, dass die Echtheit in wissenschaftlich redlicher Weise eindeutig nachgewiesen worden ist, dank der Mineralschichten, die über den Zeichnungen gewachsen sind. An einer Wand hat einer der Künstler seine Handabdrücke hinterlassen, die müssten jetzt nur noch mit der Fingerprint-Datei des FBI abgeglichen werden, um vollkommene Sicherheit zu erlangen.

Ansonsten sieht man meist Pferde, Höhlenbären und Bisons, manche haben ganz futuristisch acht Beine, um Bewegung zu suggerieren, ganz so wie das später auch Giacomo Balla mit seinem vielbeinigen Hund versucht hat. Neben der Kunst an den Wänden gibt es in den Höhlengängen weiteres perfektes 3D-Material. Zugestaubte Totenschädel von Höhlenbären liegen auf dem Boden herum, und Tropfsteine bilden bezaubernde Formationen. Dazu dudelt die im positiven Sinne einlullende Stimme von Werner Herzog.

Nach dem Film begeben wir uns aus der Quasihöhle in Notting Hill wieder an die Sonne. Es ist noch nicht zu spät für einen Kurzbesuch im wie üblich vollkommen unaufgeräumten »Lisboa« in der Goldborne Road. Trotz intensiven Sonnenscheins lastet noch die Höhlenerfahrung auf meiner Seele, und gedankenversunken suche ich in den Zuckerformationen meines frischen Palmiers nach den Skelettresten von Höhlenbären.

Wim Wenders: »Pina«

Begeistert vom 3D-Erlebnis am Samstag und angefixt von der Kinowerbung müssen wir am Sonntag gleich in den nächsten 3D-Film gehen. Auch dieser stammt von einem »alten deutschen Regiehelden«, wie San Andreas später in einer E-Mail an mich schreiben wird, aber um ehrlich zu sein hat mir außer dem »Untergang« kein Film von Wim Wenders jemals gefallen, hehe.

Auch die Worte Pina Bausch und Tanz erzeugen bei mir eigentlich ignorantes Schulterzucken und die Erinnerung an einen bestimmten Typ Frau. Der Kinotrailer für »Pina«, der tags zuvor vor dem Werner-Herzog-Film gelaufen ist, hat mich allerdings sofort überzeugt. Dieses Mal gehen wir ins Curzon Chelsea und haben unsere neuen 3D-Brillen dabei, die eigentlich sogar ziemlich schick aussehen, wie Wayfarers, aber eben aus sehr billigem schwarzen Plastik gemacht sind. Zuerst hatten wir sie vergessen, ich bin extra noch mal nach Hause gerannt, sie zu holen.

Nun kaufe ich die Eintrittskarten, und gleich werde ich sagen können, dass ich natürlich meine eigene Brille dabei habe. Allerdings wird die entsprechende Frage gar nicht gestellt, und ich muss erfahren, dass wir im Kino ein spezielles Modell bekommen werden. Man habe eine eigene Technologie, jeder Zuschauer bekomme dafür eine Leihbrille, denn die 70-pence-Teile funktionieren hier wohl nicht.

Die Curzon-Brillen sind schwer und klobig und sehen aus wie Schweißerbrillen. Sie lohnen sich von der ersten Minute an. Zunächst werden reichlich Ausschnitte aus einer »Sacre du Printemps«-Choreografie von Pina Bausch gezeigt. Eine Bühne wird mit Erde vollgeschüttet, man sieht das im Zeitraffer, durch den 3D-Effekt spürt man das Gewicht der Erde und ist gleich ganz tief drin, und dann beginnen Musik und Tanz, erst langsam, aber bald schon tobt auf dem frisch bestellten Acker das organisierte Chaos.

Ich habe ungeheure Lust, jetzt einfach dieses eine Stück komplett sehen zu wollen, aber irgendwann wird dann zum nächsten Stück gejumpcuttet, dann zur nächsten Choreografie usw. Dazwischen O-Töne der Tänzer des Ensembles über Pina. Der ganze Film ist ein ziemlicher Rausch, wie tags zuvor der Höhlenbesuch mit Werner Herzog.

Als der Film zu Ende ist und wir das Kino verlassen, scheint noch immer die Sonne. Wir sind noch benommen von der Vorstellung, und es wird geschwiegen. Da unsere 70-pence-3D-Brillen abgedunkelt sind, benutzen wir sie nun einfach als Sonnenbrillen und schlendern die Kings Road hinunter, und ich freue mich, dass wir noch den ganzen Abend vor uns, aber schon so viel erlebt haben.
 

Das längste Gedicht der Welt

Leipzig, 5. Mai 2011, 07:33 | von Paco

Manchmal ist ein langes Gedicht einfach nur ein langes Gedicht. Der amerikanische Präriepoet Dave Morice (Künstlername: »Dr. Alphabet«) hat so eines geschrieben, es ist 10.000 Seiten lang, und es ist per einstweiliger Behauptung tatsächlich: das längste der Welt.

Ich habe darüber im Feuilleton der »Financial Times Deutschland« gelesen, auf der Seite für basiskulturelle Berichterstattung, die dort »Out of Office« heißt, das ist also tatsächlich die Bezeichnung für das Feuilleton der FTD, und das ist auf jeden Fall besser als kompromiss­lerische Rubriknamen wie »Kultur« oder, noch grausiger: »Kultur & Medien«.

Aber zurück zum 10.000-Seiten-Gedicht. Im FTD-Artikel wird natürlich vor allem die superlative Größenordnung des Werks diskutiert. Dabei hat der Redakteur vor lauter Zahlenmaterial sogar vergessen, den Titel des Gedichts anzugeben. Er lautet wahrscheinlich, so genau weiß ich das auch nicht: »City Poetry Marathon«.

In der weltweiten Berichterstattung darüber geht es eigentlich auch nie um dessen Inhalt. Was steht auf den 10.000 Seiten? Das ist offenbar auf sympathische Weise nicht das Wichtigste, also genau wie bei den Romanbollwerken von Proust, Joyce, Foster Wallace usw.

Das Gedicht wurde übrigens live geschrieben, unter den Augen der Öffentlichkeit, an den 100 Tagen zwischen dem Unabhängigkeitstag und Halloween 2010, in der Main Library der University of Iowa. Dort wurde dann auch ein Exemplar gebunden, und es ist schon eine große Kunst, das Buch sachgemäß aufzuschlagen und zum Beispiel mal zu kucken, was so auf Seite 7.437 steht (siehe das Bild hier).

Ansonsten liegt das Dichtwerk auch komplett in herunterladbaren Word-Dateien vor. Ich bin gerade auf Seite 82 des 1. Bandes. Es geht dort um den unbändigen Hass auf Vokale, der unter Aliens üblich zu sein scheint:

When you write 10,000 pages, you’ve got to go beyond the world
and borrow things from aliens who land here and whisper
»Write a poem that doesn’t have any vowels in it.«
I ask »Why?«
They reply, »We hate vowels.«
Vowel hatred is
not common on
earth.

Und ohne Vokale wäre der Dichter auch nicht auf 10.000 Seiten gekommen.
 

Regionalzeitung (Teil 45)

Leipzig, 4. Mai 2011, 08:20 | von Paco

 
  221.   lebt und arbeitet in

  222.   wie durch ein Wunder

  223.   sagte er mit Nachdruck

  224.   wagte den Sprung in die Selbstständigkeit

  225.   war schon immer ihre große Leidenschaft
 

20 unter 30: Frühvollendete deutsche Dichter

Leipzig, 28. April 2011, 17:01 | von Paco

Ja, ein »27 Club« (Hendrix! Joplin! Cobain!) ließe sich auch für die deutsche Literatur aufstellen, mit ebenso großem Berüchtigtkeitsgrad (Günther! Hölty! Trakl!).

Jedenfalls habe ich neulich wieder mal Guido K. Brands sehr spezielle Literaturgeschichte »Die Frühvollendeten« von 1928 aufgeschlagen. Dann diskutierte ich beim Abendessen noch eine Weile mit Ben, und schnell war eine Übersicht fertig mit den (sagen wir mal:) 20 berühm­testen deutschsprachigen Autoren, die keine 30 Jahre alt geworden sind.

In Klammern steht das jeweilige Sterbealter, und geordnet sind die Leute nach der Größe ihrer Wikipedia-Artikel, das fiel mir als sehr heutiges Relevanzmaß ein, hehe. Unangefochten: Borchert! Sein Artikel ist mehr als doppelt so lang wie der des zweitplatzierten Novalis. Hinter dieser Art des Rankings lauert aber auch ein veritabler Skandal:

Denn Theodor »Hurra!« Körner hängt den groooßen Georg Büchner mühelos ab, so sieht es nämlich aus in der Wikipedia. Der Körner-Artikel ist aber auch deshalb so lang, weil ein überambitionierter Lokalhistoriker(?) alle möglichen Körner-Denkmäler dort eingetragen hat. Wäre mal eine Idee für Wolfgang Büscher, die alle abzuwandern.

Aber hier nun die 20 unter 30:

  1. Wolfgang Borchert (26)
  2. Novalis (28)
  3. Theodor Körner (21)
  4. Georg Heym (24)
  5. Georg Büchner (23)
  6. Georg Trakl (27)
  7. Karoline von Günderrode (26)
  8. Hertha Kräftner (23)
  9. Wilhelm Hauff (24)
  10. Johann Christian Günther (27)
  11. Wilhelm Waiblinger (25)
  12. Gerrit Engelke (27)
  13. Ludwig Hölty (27)
  14. Wilhelm Heinrich Wackenroder (24)
  15. Hermann Conradi (27)
  16. Elisabeth Kulmann (17)
  17. Walter Calé (22)
  18. Fritz Stavenhagen (29)
  19. Sibylla Schwarz (17)
  20. Alfred Lichtenstein (25)

 

100-Seiten-Bücher – Teil 3
Adelbert von Chamisso: »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« (1814)

Hamburg, 25. April 2011, 13:08 | von Dique

Ein junger Herr verkauft seinen Schatten an einen grauberockten Mann. Das so beginnende Kunstmärchen ist aber keine Nonsensprosa, sondern eine genaue Ausarbeitung dieser närrischen Augenblicksidee. Der »Schlemihl« hat sich bis heute gehalten, weil die Schattenlosigkeit als Allegorie einfach sehr vielseitig ausdeutbar ist und zu immer neuen Lesarten geführt hat. Jedes beliebige Stigma lässt sich da herausinterpretieren.

Als Gegenleistung hat der unbedachte Schattenverkäufer übrigens einen Goldbeutel erhalten, der sich von ganz allein immer wieder füllt. Allerdings muss der Neureiche schnell erfahren, dass er ohne Schatten von seinen Mitmenschen verstoßen wird: »Von einem Schattenlosen nehme ich nichts an.« Immerhin taucht der Mann im grauen Rock nach einem Jahr wieder auf und möchte ihm den Schlagschatten zurückgeben. Er könne sogar das Goldbeutelchen behalten, müsse ihm dafür allerdings seine Seele überlassen. Diesmal widersteht der Schattenlose und verbringt den Rest seines Lebens büßend als einsiedelnder Botaniker.

Um allzu ernsthaften Schulbuchinterpretationen zu entgehen, hilft übrigens ein Blick in Arno Schmidts Roman »Aus dem Leben eines Fauns« (1953), der ebenfalls sehr kurz und schnell zu lesen ist. Dort erscheint Schlemihls tragisches Schicksal plötzlich als ziemlich zukunftsträchtig. Außerdem werden zeitgemäße Alternativen für das Goldsäckel durchgespielt: »Sommersonne : Schatten : Peter Schlemihl ! : Heute würd er in‘ Zirkus gehen und Unsummen verdienen ! Wenn mir bloß mal son <grauer Mann> erschiene, und mir was dafür böte, was Zeitgemäßes : ne Tabakspfeife, die nie leer wird; n Auto, das ohne Benzin fährt, ne Pferdewurst, die nicht abnimmt.«

Und Recht hat Schmidt. Was gibt es Besseres, Schöneres, Zeitgemäßeres als eine unendliche Pferdewurst!

Länge des Buches: ca. 123.000 Zeichen. – Ausgaben:

Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit einem Nachwort von Thomas Mann. Illustriert von Emil Preetorius. Frankfurt/M.: insel taschenbuch 1984. S. 7–122. (= 116 Textseiten)

Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit zwölf Zeichnungen von Karl-Georg Hirsch. Frankfurt/M.; Leipzig: Insel Verlag 2001. S. 3–113. (= 111 Textseiten)

Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit einem Kommentar von Thomas Betz und Lutz Hagestedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. S. 9–82. (= 74 Textseiten)

Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. München: K. G. Saur Verlag 2003. (Großdruckausgabe.) S. 3–109. (= 107 Textseiten)

Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit Anmerkungen von Dagmar Walach. Stuttgart: Reclam 2009. S. 3–79. (= 77 Textseiten)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100-Seiten-Bücher – Teil 2
Willem Elsschot: »Käse« (1933)

Leipzig, 18. April 2011, 17:27 | von Paco

Zu kurz sei das Buch. »Für kleine dünne Bände besteht in Deutschland augenblicklich bei dem Publikum ein verhältnismässig geringes Interesse«, schreibt der Verleger Peter Diederichs 1951 an die Über­setzer von Willem Elsschots »Käse«-Novelle. Kurz darauf erscheint der Band dann doch, ein Erfolg wird das Buch aber erst 2004 mit der überarbeiteten Neuauflage.

Frans Laarmans ist Büroschreiber auf einer Schiffswerft in Antwerpen, und das ist eigentlich auch gut so. Seine Hybris besteht nun darin, aus dem kleinbürgerlichen Kreislauf ausbrechen zu wollen, als sich die Gelegenheit bietet. Er besucht nämlich die Mittwochsgesellschaft des Anwalts van Schoonbeke, wo seine geringe Stellung zum Problem wird. Dort wird geschwätzt und große Welt gespielt, und selbst wenn der Hausherr ein Meister im Schönreden ist (aus dem Büroschreiber wird ein »Inspektor«), reicht das nicht. Laarmans wird quasi dazu gedrängt, belgischer Vertreter für einen niederländischen Käsehändler zu werden, um seine Tätigkeitsbezeichnung zu verbessern.

Er lässt sich bei der Werft krankschreiben, will seinen Schreiberposten aber nicht einfach so aufgeben. Diese Halbherzigkeit nimmt dann schon seinen späteren Sinneswandel vorweg. Was aber bis dahin geschildert wird, ist eine der komischsten Firmengründungen aller Zeiten. Laarmans spielt den Geschäftsmann so gut er kann und geht schrittweise alle Probleme an. Noch nie sind die Anschaffung von Briefpapier und eines Diplomatenschreibtisches so entzückend beschrieben wurden. Und dann werden die ersten 20 Tonnen Edamer angeliefert, vollfett.

Im Geschäftsalltag reiht sich Windigkeit an Windigkeit, und irgendwann hat Laarmans genug davon, dass er »in aller Stille und unbemerkt Käse verkaufen muss, als ob es ein Verbrechen wäre«. Er begibt sich zurück in die vertraute Eintönigkeit seines Bürolebens. Und es war alles, alles gut.

Die 24 Kurzkapitel enthalten übrigens viele schöne Käsewörter (Käseelend, Käsetestament, Käseheimsuchung), die der Autor dankenswerter gleich am Anfang schon alle auflistet.

Länge des Buches: ca. 151.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Willem Elsschot: Kaas. Übertragen von Agnes Kalmann-Matter. Düsseldorf; Köln: Eugen Diederichs Verlag 1952. S. 5(?)–118. (= 114 Textseiten)

Willem Elsschot: Käse. Aus dem Niederländischen von Agnes Kalmann-Matter und Gerd Busse. Mit einem Nachwort von Gerd Busse. Zürich: Unionsverlag 2004. S. 3–121. (= 119 Textseiten)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100-Seiten-Bücher – Teil 1
Klabund: »Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde« (1920)

Leipzig, 14. April 2011, 01:00 | von Paco

Ich habe für dieses angebliche Ein-Stunden-Buch drei Stunden ge­braucht. Eine Paketlieferung für Nachbars hat mich aus dem Tritt gebracht, und eins zwei andere Ausreden habe ich auch noch. Dabei ist das Buch eine gelungene Begeisterungsshow für deutsche Literatur aller Epochen, eine Art Deutsch-Grundkurs in gut.

Klabund beginnt beim Althochdeutschen um 800, beim Wessobrunner Gebet, und springt und hüpft und stolpert sich durch die Jahrhunderte, zu den Minnesängern, zu Luther, zu den Barockdichtern und Klassi­kern, den Vormärzlern, Realisten und Expressionisten, bis zu seinen Zeitgenossen um 1920. Wie ein Theaterkorrespondent direkt nach der Premiere berichtet er uns von uralten Texten, man kann ihn sich gut mit Deutschlandfunk-Stimme vorstellen.

Und fast hätte man es nicht gemerkt, Klabund hat sich auch selbst mit viereinhalb Zeilen in seine Literaturgeschichte hineingeschrieben, hehe. Ansonsten kommen natürlich alle üblichen verdächtigen Autoren vor, allerdings ebenso viele inzwischen Vergessene. Am Überraschend­sten ist Klabunds Vorliebe für Johann Christian Günther (1695–1723), vor dem selbst der Lyriker Schiller zurückstehe.

Günther wird neben Goethe an mehreren Stellen als wichtigste Referenzgröße herangezogen, bis ins Schlussgedicht hinein, in dem dann doch Goethe dominiert: »Und du, o ewige Früh- und Abendröte: / Du Turm, du Sturm, du erster Mensch, du: Goethe!« Über das gelegentliche Pathos liest man lachend hinweg, die knallharte Schwärmerei nervt an keiner einzigen Stelle. Das einzige, was bei der Lektüre stört, sind fremde Paketlieferungen.

Länge des Buches: ca. 176.000 Zeichen. – Ausgaben:

Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Vierte, vom Autor neu durchgesehene und überarbeitete Auflage. Leipzig: Dürr & Weber 1923. S. 5–97. (= 93 Textseiten)

Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. (»Die Ausgabe folgt der zweiten vom Autor durchgesehenen Auflage, Leipzig 1921. Der Epilog folgt der Fassung der dritten vom Autor durchgesehenen Ausgabe, Leipzig 1922.«) Hamburg: Textem 2006. S. 9–121. (= 113 Textseiten)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100 Seiten — Ein Kanon kurzer Bücher

Leipzig, 11. April 2011, 22:00 | von Paco

Das 100-Seiten-Buch ist ein Mythos. Es ist gerade so lang, dass es den Einzeldruck rechtfertigt. Es hat die magische Seitenzahlenuntergrenze erreicht, ohne sie dann wirklich zu überschreiten. Man kann es in einem Schwung lesen, zwei Stunden, drei Stunden, fertig, nächstes Buch.

Immer wenn es mir einfiel, habe ich um mich herum nach berüchtigten 100-Seiten-Titeln gefragt. Und immer wussten alle sofort, was gemeint war, obwohl die Maßeinheit ›100 Seiten‹ alles andere als unproblema­tisch ist. Schon beim ersten Aufscheinen der Idee, beim Baden im Gold­fischteich des Cour aux Ernest in der Rue d’Ulm, kam eine stattliche Zahl prototypischer Hundertseiter zusammen:

Chamisso: Peter Schlemihl. – Dostojewski: Weiße Nächte. – Heine: Harzreise. – R. L. Stevenson: Jekyll & Hyde. – Schnitzler: Traumnovelle. – Thomas Mann: Tod in Venedig. – Nietzsche: Ecce homo. – Machiavelli: Der Fürst. – Voltaire: Candide. – Diderot: Rameaus Neffe. Etc. Etc. Und César Aira schreibt berüchtigterweise fast ausschließlich 100-Seiten-Bücher.

Lob des kurzen Buches

Die Vorschlagsliste ist im Moment ca. 125 Titel lang (Voraussetzung war: mindestens eine nachgewiesene Einzelausgabe; und keine Theaterstücke, die sich ja in einem ähnlichen Seitenzahlenbereich bewegen). Jedem dieser Bücher, so der Plan, werden wir hier ab sofort einen kurzen Teasertext widmen, der anekdotenhaft die Kürze der Form feiern soll, das Leseerlebnis, den Inhalt, den Stil, die Rezeptionsgeschichte oder was auch immer, je nachdem.

Diese Anamnesen sollen ihrerseits schlagartig kurz sein, so um die 1.500 Zeichen (Vorbild: Marius Fränzels »Lektüren eines Nachtwäch­ters«). Sie würden dann locker auf jeweils eine Buchseite passen. Und am Ende dieses Experiments steht dann vielleicht ein 100-Seiten-Buch über 100-Seiten-Bücher, mal sehen.

Enzensberger und »Die hundert Seiten«

In seinem »Ideen-Magazin«, das seine »Lieblings-Flops« beschließt (vor ein paar Wochen bei Suhrkamp erschienen), stellt Hans Magnus Enzensberger Projekte vor, die »über das Stadium der Skizze nie hinausgekommen« sind. Eines davon hatte den Arbeitstitel »Die hundert Seiten«. Anders als wir schlägt er vor, Klassiker der Weltliteratur, die besonders umfangreich, besonders unzugänglich sind, auf genau hundert Seiten zu komprimieren, als Nacherzählung eigenen Rechts. Denn »viele der berühmtesten Klassiker werden nicht gern gelesen«, da sie eine »Zumutung an das Zeitbudget« seien.

Auch bei Enzensberger findet sich der Mythos des 100-Seiten-Buchs: »Hundert Seiten erschrecken niemanden; sie geben jedem das angenehme Gefühl, ein ganzes Buch zu Ende gelesen zu haben.« Aus seiner Idee ist dann nichts geworden. Wir gehen das Problem nun von einer anderen Richtung her an. Das Sammeln von bereits existierenden Hundertseitern wird vielleicht erst mal konkretisieren, was ein 100-Seiten-Buch überhaupt eigentlich ist, was es kann, was es nicht kann usw.

Seitenpolitik

Die ›Seite‹ ist mindestens seit Gutenberg das populärste und nachvollziehbarste Maß für die Länge eines Textes. Wenn jemand ein Buch empfiehlt, gibt es ja stets sofort die Gegenfrage: »Wie lang?« Autoren und Verlage spielen natürlich mit der Anzahl der Seiten, und oft wird ein Buch mit satztechnischen Mitteln auf eine bestimmte Seitenzahl gebracht. Arno Schmidt, wer sonst, hat daher mal vorgeschlagen, die »Normalseite« einzuführen:

»Wie irreführend ist es oft, zu sagen, ein Buch zähle 500 Seiten; nachher hat es auf jeder einzelnen davon nur 20 Zeilen und in jeder 40 Anschläge = 800 Buchstaben. Ein anderes, von ›nur‹ 200 Seiten, aber mit 40 Zeilen a 50 Anschläge, enthält genau so viel Text. Man führe endlich in Wissenschaft und Buchhandel den Begriff der ›Normalseite‹ (abgekürzt: SN) von 2000 Buchstaben pro Seite ein! Es bleibe natürlich auch in Zukunft jedem unbenommen, mit Format, Zeilenzahl oder Typen völlig souverän zu schalten, aber man füge der Anzeige auch des apartesten Sonderdruckes noch in Klammern hinzu: ›SN 340‹ – oder wieviel es nun gerade sind. Das würde, konsequent durchgeführt nicht nur in Katalogen aller Art, viel nützen, sondern endlich auch einmal ermöglichen, das Werk eines Schriftstellers rein quantitativ zu fixieren und mit anderen vergleichbar zu machen.«

Für das 100-Seiten-Projekt hier gehen wir großzügig von einer Zeichenanzahl zwischen 100.000 und 225.000 aus (wie üblich inkl. Leerzeichen). Das sind je nach Ausgabe normalerweise zwischen 75 und 125 Textseiten. Wenn es sich um fremdsprachige Titel handelt, gilt die Zeichenzahl der deutschen Übersetzung. Für die zehn oben genannten Beispiele sieht es so aus (aufsteigend nach Länge geordnet, die Zeichenzahlen entstammen digitalen Versionen der Texte und sind auf den nächsten Tausender aufgerundet):

Dostojewski: Weiße Nächte (russ. 92.000, dt. 125.000)
Chamisso: Peter Schlemihl (132.000 Zeichen)
Heine: Die Harzreise (136.000)
R. L. Stevenson: Jekyll & Hyde (engl. 138.000, dt. 164.000)
Schnitzler: Traumnovelle (165.000)
Thomas Mann: Der Tod in Venedig (169.000)
Machiavelli: Der Fürst (ital. 164.000, dt. 177.000)
Nietzsche: Ecce homo (196.000)
Voltaire: Candide (frz. 187.000, dt. 219.000)
Diderot: Rameaus Neffe (frz. 177.000, dt. 221.000)

Zum Vergleich: Goethes »Werther« (240.000 Zeichen) und Rousseaus »Gesellschaftsvertrag« (frz. 257.000, dt. 275.000 Zeichen, Überset­zung von 1880) haben das Hunderter-Genre bereits verlassen. Sie lesen sich auch nicht mehr wie klassische Hundertseiter und fühlen sich eher nach 300 Seiten an (was in dem einen Fall sicher auch an den Ossian-Gesängen liegt, hehe).

»Candide« (in der Übersetzung von 1782) und »Rameaus Neffe« (in der Übersetzung von 1891) gehen in der aktuellen Experimentanord­nung aber gerade noch so durch und grenzen die Sammlung nach oben hin ab. Jedenfalls im Moment, denn mal sehen, wie sich der Mythos ›100-Seiten-Buch‹ so macht, wenn wir ihm hier auf den Leib rücken.

Keine Zeit! – Ein Buch oder fünfzig Bücher?

Als Drückerkolonne im Auftrag fragwürdigster Leseökonomie würden wir natürlich schon sagen: Statt 5.000 Seiten lang Prousts »Recherche« zu lesen, könnte man auch 50 Hundertseiter lesen. Da hat man, rein rechnerisch, mehr davon, nämlich genau 49 Autoren und 49 Werke mehr, bei sozusagen gleichbleibender Strecke.

Diese Art von Rechnungen sind natürlich absolut unschöngeistig, und wir werden öffentlich auch jederzeit vehement abstreiten, so etwas zu befürworten! Lieber schieben wir wieder alles auf Arno Schmidt, den Statistiker der deutschen Literatur. Seine berühmte Lesevermögens­rechnung ging ja so:

»Das Leben ist so kurz ! Selbst wenn Sie ein Bücherfresser sind, und nur fünf Tage brauchen, um ein Buch zweimal zu lesen, schaffen Sie im Jahr nur 70. Und für die fünfundvierzig Jahre, von Fünfzehn bis Sechzig, die man aufnahmefähig ist, ergibt das 3.150 Bände : die wollen sorgfältigst ausgewählt sein !«

Und wer kürzere Bücher liest, liest normalerweise auch mehr Bücher. Wobei es dieser Rechnung natürlich an einem Koeffizienten für die Textschwierigkeit mangelt.

Nächstes Projekt: Tausend Tausendseiter!

Aber das Zeitproblem ist ja nun mal da. Marcel Reich-Ranicki hat sich 1993 zum Beispiel geweigert, den 1006-Seiten-Roman »Der rote Ritter« von Adolf Muschg zu lesen:

»Autor und Verlag versuchten, mich zu überreden: In dem Buch seien sehr gute Kapitel und Abschnitte. Das mag ja sein, aber ich habe nicht die Zeit, die Rosinen in diesem gigantischen Kuchen zu suchen.«

Fernab all dieser rechnerischen Unverschämtheiten behaupten wir hier natürlich gern und weiterhin, dass wir die »Recherche« lieben, den »Ulysses« und »Zettel’s Traum«, Alexander Kluges »Chronik der Gefühle« und Hans Henny Jahnns »Fluß ohne Ufer«. Wir haben Pynchons »Against The Day« und Wallace‘ »Infinite Jest« gelesen, Bolaños »2666« und Littells »Die Wohlgesinnten«, und zumindest kennen wir jemanden, der sich angeblich auch den barocken Ziegelstein »L’Astrée« sowie die »Römische Octavia« komplett reingezogen hat.

Und da nichts ohne sein Gegenteil wahr ist, kündige ich hiermit also auch gleich das Pendant und Nachfolgeprojekt zu diesem 100-Seiten-Projekt an: eine Sammlung der 1000 besten 1000-Seiten-Bücher!

Aber jetzt erst mal das Lob des kurzen Buches. 100 Seiten Zeit hat jeder, jeden Tag aufs Neue. Los geht es übermorgen mit Klabunds »Deutscher Literaturgeschichte in einer Stunde« (1920), dann folgen die »Käse«-Novelle des herrlichen Belgiers Willem Elsschot (1933), Chamissos »Peter Schlemihl« (1813) und Nietzsches »Ecce homo« (1888). Alles Hundertseiter vom Feinsten! Mögliche nächste Testobjekte sammeln wir dann weiter hier.

i.A. Paco
–Consortium Feuilletonorum Insaniaeque–

 

Denis Schleck

Konstanz, 10. April 2011, 17:47 | von Marcuccio

Vorsommer statt Nachsommer (Stifter), und endlich wieder Feuilleton im Freien! Außerdem, zumindest in Süddeutschland, sogar schon Erntezeit fürs Bärlauch-Pesto. Oder lieber erst mal ein Waldmeister-Eis?

»Zum Glück besitze ich eine Eismaschine«, sagt Denis Scheck, gestern in der taz. Und löst auch gleich ein, was er letzten Herbst in der FAS eingefordert hat:

»Wir brauchen mehr Kritik, nicht nur in der Literatur, sondern überall. Ich wünsche mir Anzugkritik, Wurstkritik, Autokritik […].« (FAS vom 26. September 2010, S. 57)

Jetzt also: Die Eissortenkritik

»Waldmeister war als Kind meine Lieblingseissorte«, erzählt uns der Ed von Schleck des Feuilletons und verweist aufs Waldmeister-Standing im Eissortenkanon alt:

»Ich würde sogar sagen, in den sechziger, siebziger Jahren nahm es nach Vanille, Schokolade und Erdbeere den vierten Platz ein. Als Waldmeister-Fan war man damals weniger einsam denn als FDP-Wähler.«

Die Frischdroge Waldmeister im Eis: Sozusagen der deutsche Gastarbeiterbeitrag zur italienischen Erfindung – oder mit Waldmeister-Fürsprech Scheck: »die einzige traditionelle Sorte, die hierzulande erfunden wurde«. Mittlerweile ist sie ja fast ausgestorben:

»Irgendwann kam raus, dass im Waldmeistereis Cumarin enthalten ist. (…) Schlimm, schlimm. Ich glaube, man hätte hundert Kugeln essen müssen, um davon leberkrank zu werden.«

Nichtsdestotrotz: »Anfang der Achtziger wurde Waldmeister als Zusatz im gewerblichen Lebensmittelhandel verboten.« Und damit wären wir wieder bei Schecks Eismaschine:

»Statt Vanille nehme ich einfach Waldmeister und jage das durch mein Gerät. Das Kraut selbst ist ja nicht verboten. Ganz quirlig sieht das aus, wie kleiner Farn und wächst unter Buchen und Eichen.«

Waldmeister. Waldmeister. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. Klingt so wunderbar wie Waldteufel und Waldmüller. Klingt außerdem nach selbst gewittert, eigenhändig gepflückt. Scheck (er muss ja Bücher lesen) hat für sowas natürlich einen »Kräuterhändler«, aber immerhin ein eigenes Maibowlenrezept:

»Schmeckt auch wunderbar, wenn Sie daraus Halbgefrorenes fabrizieren.«

Und das ist das wirklich Sympathische: Dass Scheck an dieser Stelle nicht »Semifreddo« sagt. Zeitschriften wie »Landlust« sollen ja schließlich auch noch ein paar Distinktionsvokabeln zur Hand haben, wenn es demnächst heißt: Waldmeister ist der neue Bärlauch.
 

Vossianische Antonomasie (Teil 19)

Leipzig, 9. April 2011, 11:54 | von Paco

 

  1. der Barney Stinson der FDP
  2. der Dr. Frankenstein der deutsch-sowjetischen Geschichte
  3. die bretonische Kuh der Literatur
  4. die Inge Meysel des Journalismus
  5. der Karl Dall der Rassentheorie