Das längste Gedicht der Welt

Leipzig, 5. Mai 2011, 07:33 | von Paco

Manchmal ist ein langes Gedicht einfach nur ein langes Gedicht. Der amerikanische Präriepoet Dave Morice (Künstlername: »Dr. Alphabet«) hat so eines geschrieben, es ist 10.000 Seiten lang, und es ist per einstweiliger Behauptung tatsächlich: das längste der Welt.

Ich habe darüber im Feuilleton der »Financial Times Deutschland« gelesen, auf der Seite für basiskulturelle Berichterstattung, die dort »Out of Office« heißt, das ist also tatsächlich die Bezeichnung für das Feuilleton der FTD, und das ist auf jeden Fall besser als kompromiss­lerische Rubriknamen wie »Kultur« oder, noch grausiger: »Kultur & Medien«.

Aber zurück zum 10.000-Seiten-Gedicht. Im FTD-Artikel wird natürlich vor allem die superlative Größenordnung des Werks diskutiert. Dabei hat der Redakteur vor lauter Zahlenmaterial sogar vergessen, den Titel des Gedichts anzugeben. Er lautet wahrscheinlich, so genau weiß ich das auch nicht: »City Poetry Marathon«.

In der weltweiten Berichterstattung darüber geht es eigentlich auch nie um dessen Inhalt. Was steht auf den 10.000 Seiten? Das ist offenbar auf sympathische Weise nicht das Wichtigste, also genau wie bei den Romanbollwerken von Proust, Joyce, Foster Wallace usw.

Das Gedicht wurde übrigens live geschrieben, unter den Augen der Öffentlichkeit, an den 100 Tagen zwischen dem Unabhängigkeitstag und Halloween 2010, in der Main Library der University of Iowa. Dort wurde dann auch ein Exemplar gebunden, und es ist schon eine große Kunst, das Buch sachgemäß aufzuschlagen und zum Beispiel mal zu kucken, was so auf Seite 7.437 steht (siehe das Bild hier).

Ansonsten liegt das Dichtwerk auch komplett in herunterladbaren Word-Dateien vor. Ich bin gerade auf Seite 82 des 1. Bandes. Es geht dort um den unbändigen Hass auf Vokale, der unter Aliens üblich zu sein scheint:

When you write 10,000 pages, you’ve got to go beyond the world
and borrow things from aliens who land here and whisper
»Write a poem that doesn’t have any vowels in it.«
I ask »Why?«
They reply, »We hate vowels.«
Vowel hatred is
not common on
earth.

Und ohne Vokale wäre der Dichter auch nicht auf 10.000 Seiten gekommen.
 

6 Reaktionen zu “Das längste Gedicht der Welt”

  1. foxi

    ich habe in der siebten oder achten klasse ein ähnliches projekt verfolgt, es aber nach fünf seiten wieder abgebrochen; das war damals ja alles handschriftlich mit tinte und daher schnell nervtötend. öffentlich geschrieben habe ich es nicht, es gab aber mindestens zwei öffentliche lesungen. (öffentlich hier im sinn von „draußen“, also es war glücklicherweise kein publikum da.) auf den ersten beiden seiten war ich noch stark von pink floyd beeinflusst, die letzte seite handelte dann von fischen.

  2. Rolf Schönlau

    In diesem Zusammenhang muss natürlich Franz Dodel genannt werden und sein Endlos-Haiku „Nicht bei Trost“, das aktuell bei Z.19001 angelangt ist.

    http://www.franzdodel.ch/home.htm

  3. Florian Voß

    Letztendlich wird auch dieser Schmarrn nicht die Ausgabe letzter Hand des „Phantasus“ von Arno Holz schlagen können. Dieses Lebenswerk des „Jugendstildichters“ lag 1925 in drei Bänden vor, alles in allem 1345 Seiten, eng bedruckt. Das nenne ich ein Langgedicht.

  4. Klausens

    Ich nenne hier mein „UNENDLICHES GEDICHT DER GEDICHTE ALS ZWEIFELNDES GEDICHT“, welches schon qua Anlage das längste Gedicht der Welt sein wird, eines nahfernen Tages, weil das Gedicht so existiert, dass es immer und endlos nach einem Prinzip verlängert und erweitert wird. Unendlich. Es ist immer unfertig, wartet ständig auf Erweiterung. Denn die Masse der Gedichte zu einem Thema ist per se unendlich, weil die Themen und Schlagwörter, um dazu ein Gedicht zu verfassen, unendlich sind.

    http://www.klausens.com/unendliches_gedicht_der_gedichte.htm

  5. Martin

    Manchmal gibt es so schöne Zufälle. Meine Tochter soll ein Gedicht für die Schule lernen und startet natürlich ein Drama. Also mal Google fragen wie schlimm es sie hätte treffen können und „längste Gedicht“ eingegeben.

    Ausgerechnet Pacos Text aus dem Umblätterer als erster Treffer. Toll.

    Schöne Grüße aus Leipzig,
    Martin

  6. Klaus

    Ich bekam ein Werk eines Vorfahren namens Nikolaus Peterson geschenkt. Es ist in Kurrent geschrieben und es war für mich schwer es zu lesen. Doch ich transkribierte es in Langschrift und es hat nun in A5 ca. 540 Seiten. Laut eines vorhandenen Briefes des Autors, ist es sein Tagebuch, das er in einen „Roman“ verpackte. Die Strophen sind meist in 8-12 Zeilen gefasst, die Reime sind gekonnt, somit ist alles leicht zu lesen. Es ist nach der Einleitung von ca. 40 Seiten, recht spannend geschrieben, zeigt ein großes Wissen des Autors und seine Erlebnisse kann man in etwa 60 Kurzgeschichten teilen. Das ist auch in dem erschiénenen Buch übersichtlich erfasst. Die kleinen Weisheiten sind unübersehbar, somit wird darin wohl Gesellschaftskritik, aber auch menschliche Gefühl gezeigt.

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