Lost: 4. Staffel, 5. Folge

London, 5. März 2008, 01:20 | von Dique

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »The Constant«
Episode Number: 4.05 (#76)
First Aired: February 28, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Die Konstante« (EA 13. 7. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Der Propeller rattert, ein glücklich lächelnder Desmond, ein besorgter Sayid, und der »Renegade«-mäßige Pilot bringt die Chopper schlingernd in eine Schlechtwetterfront.

Ziemlich verregnet geht es weiter, wir befinden uns plötzlich in einer Kaserne in Schottland, wo Desmond Militärdienst leistet, im Jahr 1996.

Was für ein Schotte, dieser Desmond. Was für ein Schotter, diese Folge. Zumindest kam mir das so vor. Egal ob Bewusstseinsstörung oder Zeitreise: Wer da keine Konstante hat, ja, der ist verloren und todgeweiht. »Lost« wird mit dieser Folge also endgültig Science-Fiction – das war ja nicht unbedingt in dieser Konsequenz zu erwarten.

Und das muss auch nicht schlecht sein, doch leider geht es nicht so richtig vorwärts, eher seitwärts. Besonders die Sache mit Desmond und seinen Zeitsprüngen muss erst mal inhaltlich verdaut werden. Die Angst wächst, dass sich viele Mysterien um die Insel in Klischees auflösen.

Desmonds Traumsucht kennen wir ja schon von seinen Blicken in die Zukunft, durch die er mehrfach Charlies Tod voraussah, bis der Rocker am Ende der 3. Staffel schließlich im Looking Glass ersoffen ist. Nachdem Des nun die Insel verlassen hat, scheint er über seine Realvisionen den Verstand zu verlieren. Wieso weiß er plötzlich nicht mehr, wer Sayid ist und wo er selber sich gerade befindet und überhaupt?

Das klärt sich dann einigermaßen auf: In dieser Folge werden Konstanten gesucht, wie schon der Titel ankündigt, und für uns, die Zuschauer, fungiert Daniel Faraday als Konstante, wie er back in time als junger hitziger Professor für Aufklärung sorgen soll, Mitte der Neunziger, am Physics Department in Oxford.

Das sind Szenen zum Aufpassen, hier wird sicher irgendwie der Plan für das »Lost«-Finale schon in Gang gesetzt, und bei all dem Ernst geht Daniels coole Antwort ein bisschen unter, die er Desmond gibt, nachdem dieser ihm sagt, was ihm vom 2004er Faraday aufgetragen wurde zu sagen:

»Why didn’t I just help you there, in the future? Why would I put you through the headache of time travel? You know what I mean, it just seems a little unnecessary.«

Danach wird es allerdings ziemlich klischiert: Wir sehen eine mit Formeln vollgeschmierte Tafel, ein Experiment mit einer Laborratte und einen besessenen Faraday, dem es irgendwie zu gelingen scheint, den Beweis für die Funktionalität dieser träumerischen Zeitreisen zu erbringen.

Wenigstens wird in dieser Desmond-Folge ein wichtiger loser Erzählfaden aufgegriffen: Im Jahr 1996 haben Penny und Desmond ihre Beziehung beendet, die genauen Gründe bleiben im Dunkel. Es gibt aber Parallelen zu einem früheren Ereignis: Desmond lernte Penny kennen, als er gerade aus einem Kloster entlassen wurde. Recht spontan hatte er sich davor für den Gang ins Kloster entschieden, kurz vor seiner Hochzeit, also eine Art Flucht. War der Gang in die Kaserne eine ähnliche Flucht? Ist das der Grund why Penny is »trying to make a clean break« von Desmond?

Und dann ist da noch die Sache mit der Telefonnummer. Gib mir deine Telefonnummer und ich rufe dich in 8 Jahren an. Das klingt dick aufgetragen und unglaubwürdig, sorgt aber trotzdem für starke Momente:

»I won’t call for 8 years. December 24th, 2004, Christmas Eve.«

Dazu dieses gänsehautige Musikthema, dieser Teil, wenn an einem knackigen Bass eine Saite angerissen wird und lange ausschwingt. Solche Momente lassen jedenfalls alle Räder stillstehen und enden in einem emotionalen Feuerwerk. Penny mit ihrem wunderbaren Akzent schmeißt Desmond aus der Wohnung. Aber 8 Jahre danach, wir müssen gar nicht lange warten, es ist ja auf der Insel bzw. offshore jetzt genau Weihnachten 2004, da kommt auch tatsächlich der Anruf von Desmond:

»Hello?«
»Penny?«
»Desmond?«
»Penny, Penny, answer, answer, Penny …«
»Des, where are you?«
»I’m, I’m, I’m, I’m on a boat, errm, I’ve been on an island …«

Beenden wir das Ganze mit ein paar offenen Fragen, nein, nicht mit der nach dem vierzehigen Statuenrest, sondern mit der nach dem letzten der Oceanic Six, oder der nach dem komisch gestrandeten Schiff, das die Losties am Ende von Staffel 1 mitten auf der Insel finden, und dessen Logbuch nun von Mr. Widmore, Pennys Vater, bei Southfield’s in London ersteigert wird.

Und wer ist Bens Mann an Bord des Schiffes? Die »Lost«-Fansites erwarten in diesem Zusammenhang die Rückkehr von Michael, oder vielleicht ist es doch ein tropischer Eisbär, der hier eingehüllt von schwarzem Rauch die Szene betreten wird?

Wie ich mal wieder die taz las

Konstanz, 4. März 2008, 07:56 | von Marcuccio

Als ich einem Kumpel vor ein paar Jahren erzählte, dass ich genauso gern wie die FAZ eigentlich nur noch die taz läse, runzelte er die Stirn. Komischerweise machen die Leute das öfter, wenn ich das erzähle. Weil ich die taz nur reziprok so häufig wie die FAZ zur Hand habe, kaufte ich mir am letzten Sonntag mal wieder eine Ausgabe. Vier Beobachtungen und ein Fazit auf Basis der Wochenend-Ausgabe vom 1./2. März:

Die Titelseiten sind ein Spiel

Es fängt taz-typisch, taz-gefällig mit politischer Farbenlehre an: Ein Rubik-Zauberwürfel mit allerlei schwarz-grüner Unordnung obenauf, aber auch rot-grün-gelb an den Seiten. Dazu die hübsche Bildunterschrift »Noch ein Dreh, und alles sieht schon wieder ganz anders aus.«

Großes Thema dieses taz-Wochenendes ist also die Balz der Hamburger CDU mit den Grünen. Im Innern (S. 4/5) ein distanzierter Hintergrundbericht zur Entscheidung der Grünen, mitzuflirten (Motto: »Die Basis nickt das ab«) und ein Worst-Case-Szenario mit Paul Nolte im Interview (»Es gibt ein schwarz-grünes Projekt«).

Im Wirtschaftsteil (S. 9) labt sich jeder F-Zeitungs-Leser an den erfrischend flapsigen Unternehmensnachrichten: »McDonald’s macht jetzt auf fair und bio.« Auf der Seite »Meinung und Diskussion« (S. 11) scheint ein Hintergrund-Kommentar von Raul Zelik zur »Vergifteten Nachbarschaft« zwischen Kolumbien und Venezuela schon allein deswegen interessant, weil er, um mit Oliver Gehrs zu sprechen, mal nicht Medien-Mainstream ist.

Ritter Sport schmeckt nicht jedem

In den Leserbriefen, die erwartungsgemäß »leserInnenbriefe« heißen, setzt es Ärger: Offenbar hatte sich die taz erlaubt, »zu hymnisch« über die Firma Ritter Sport zu berichten, und das ist …

»(…) eine arge Zumutung für Lesende, die seit Jahren fair produzierte Bio-Schokolade in nicht quadratischer Form genießen« (S. 12)

Doch die taz wäre nicht die taz, wenn es dafür keine redaktionelle Wiedergutmachung gäbe: Auf der allerletzten Seite, der Genossen-Seite (»taz muss sein«), werden unter dem Stichwort »Fairführt« (und expliziten Bezug auf die Ritter-Sport-Geschichte) ökologisch korrekte und fair gehandelte Schokoladenhersteller wie Rapunzel oder Gepa bedacht.

In der tazzwei dann ein sehr schönes, doppelseitiges Reisefeuilleton mit S/W-Fotos aus Sils-Maria (S. 16/17), eines von der Sorte, wie man es als Kulturklatschmensch schon allein deshalb schätzt, weil man sich spätestens beim nächsten Engadinbesuch dann doch wieder ganz genau dafür interessiert, in welchem Chalet Annemarie Schwarzenbach nun noch mal mit Erika und Klaus Mann gekifft hat.

»Leibesübungen« gibt’s nur mit Daily Dope

Im legendär überschriebenen Sportteil der taz gefällt der sympathisch offensive Umgang mit dem offensichtlichen Mut zur Lücke: »Was alles nicht fehlt« – so sind die wenigen Meldungen überschrieben, hehe. Zukünftige Umblätterer-Praktikanten könnten die sporadisch-zufälligen Sportnachrichten doch glatt mal zum Ausgangspunkt nehmen, um uns über die Lieblings-Leibesübungen der taz-Redaktion aufzuklären (Sport-Idole setzen wir erst kaum voraus, denn das könnten ja allenfalls Fußballtrainer vom Schlage Hans Meyer sein).

Außerdem gibt’s eine Rubrik namens »daily dope«, Folge 263 – werden hier also tatsächlich tagtäglich Meldungen zum Thema Doping aufbereitet? Im Vergleich zu den Blutbeutel-Beichten im »Spiegel« ist so eine nachrichtliche Daily Soap natürlich echtes, konsequentes Trockenfutter. Damit bin ich jetzt endlich bei den fünf Seiten Food-Feuilleton im tazmag:

Eine Seite davon ist echtes Supermarkt-Feuilleton: Gina Bucher vergleicht so naja das Einkaufen bei Galeria Kaufhof, bei der LPG BioMarkt und auf dem Wochenmarkt. Schade finde ich allerdings, dass an die ganz normalen Supermärkte in Deutschland offenbar erst gar keine Ansprüche mehr gestellt werden. Und dann kommt noch ein echtes Highlight zum Schluss:

Warum die taz nicht an Bord der Lufthansa darf

Das kann man auf der schon erwähnten Seite »taz muss sein« nachlesen. Hier ist nämlich nicht nur Platz für den schokoladigen Sündenablass vor den taz-Genossen; hier wird auch knallhart am eigenen Mythos weitergeschrieben. Ein Foto mit winkender Retro-Stewardess erklärt uns die taz als Flugbegleiterin – ein Thema, das man bei anderer Aufbereitung jetzt nicht unbedingt gelesen hätte, denn es geht um die reichlich perfiden Finessen der so genannten Bordexemplare, mit denen Tageszeitungen gern ihre Auflagenzahlen türken (›türken‹ schreibt die taz natürlich nicht).

Jedenfalls darf die taz der Lufthansa keine Bordexemplare mehr ausliefern, seit das Blatt zur Trauerfeier des 1991 von der RAF ermordeten Treuhandschefs Detlev Rohwedder diese Schlagzeile brachte:

»Weizsäcker: Detlev, der Kampf geht weiter!«

Das bezog sich auf die bundespräsidiale Trauerrede für Rohwedder und verstand sich als Referenz (»Holger, der Kampf geht weiter!«, hatte Rudi Dutschke am Grab von Holger Meins gerufen). Doch für solchen Humor hatten die Rohwedderschen Trauergäste auf dem Heimflug von der Beerdigung nachvollziehbar kein Verständnis. Seither (und angeblich bis heute) möchte die Lufthansa ihren Passagieren an Bord keine taz mehr zumuten. Naja, vielleicht hat man mittlerweile Angst vor der ersten emissionsfreien Zeitung, vielleicht will man aber auch einfach nur die überbordende Papierflut in den ACP-Areas im Zaum halten.

Fazit

taz hat mal wieder Spaß gemacht. Vor allem die allseits kreativen, intelligenten Ressort-/Rubriken-/Artikel-Benamsungen künden von einer erfrischend wachen Zeitung. Ein paar mehr Leser als Genossen könnte sie im Interesse der Leser allerdings schon vertragen – damit’s bei aller angenehmenen Selbstironie nicht nur noch genossenschaftlich selbstreferenziell wird.

Der DAAD-Koreaner: Die FAS vom 2. 3. 2008

Leipzig, 3. März 2008, 17:16 | von Paco

Einen schönen Montag allerseits, und los geht es mit dem Feuilleton-Aufmacher der gestrigen FA-Sonntagszeitung, Volker Weidermanns sehr eingängig strukturiertem Überblick zu den literarischen Neuerscheinungen des Frühjahrs. Auch die Überschrift ist hervorragend, irritiert allerdings etwas nach der Artikellektüre: »Ich weiß, was wir in diesem Frühling gelesen haben werden« kündigt sie an, aber dann sagt V. W. nicht ein einziges Mal »ich« im Artikeltext, komisch.

Dann Peter Richter, ein Porträt des Künstlers Ralf Ziervogel, der den Inhalt einer seiner Zeichnungen so angibt: »Parallel rechts pfählt eine lange Amy-Mullins-Stelze einen DAAD-Koreaner mit Zahnseide längs durch den Körper.« Etwas später schreibt Richter dann in Anspielung auf den Detailreichtum der Ziervogel-Zeichnungen: »Endlich mal eine Bildwelt, in der sich jemand um Plausibilität bemüht«, hehe. Da übrigens the erfindungskraft dieses Künstlers oft mit der Bruegels verglichen werde, weist Richter schönerweise darauf hin, dass sowohl der »Höllen-« als auch der »Blumen-Bruegel« damit gemeint sein können, die Ornamentik der abgebildeten 4 Zeichnungen plausibilisiert das auch.

Nachdem Axel Brüggemann neulich Jonas Kaufmann, ähm, porträtierte, führt er diesmal ein Interview mit Rolando Villazón, »Vielleser« und Tenor, der übrigens kein Comeback feiert, sondern nur mal kurz weg war. Wie auch immer, wenn Villazón irgendwann einmal die Stimme auf immer versagt, sollte er weiter solche Interviews geben, denn er liefert hier fulminant abgeklärte Antworten. Außerdem erklärt er, seine Stimme konstituiere sich en realidad aus drei Stimmen: 1. »ein Pferd mit Flügeln«, 2. »eine Marionette«, 3. der »Schatten einer stummen grauen Katze«.

Dann hat Julia Encke die Friederike Mayröcker im »Café Imperial« in Wien getroffen. Den Text habe ich gestern aus spontanem Interesse gleich als erstes gelesen. Es wird noch mal die Geschichte mit dem kaputten Schreibmaschinen-»ß« rekapituliert. Und dass F. M. die knallrote Freud-Ausgabe nicht bei sich zu Hause findet, ist als Bild sehr gelungen.

Den Wahlkampf im US-demokratischen Lager nimmt dann Stefan Niggemeier unter die Lupe. Good golly, »nimmt unter die Lupe«, das klingt ja jetzt schon fast wie bei der Perlentaucher-Feuilleton-Rundschau, hehe. Also, wer sich in letzter Zeit mal gefragt hat, wie Hillary Clinton eigentlich so schnell ins Abseits geraten ist, der bekommt hier eine Antwort. S. N. beschreibt die Mechanismen der mediengetriebenen, sich selbst verstärkenden »Obamania«, gegen die Clintons Strategie, »die Rolle der unvermeidlichen Kandidatin zu spielen«, schon lange nicht mehr ankommt.

Endlich gibt es auch wieder mal einen Artikel von Alban Nikolai Herbst. Leser seines »Dschungel«-Blogs wissen, dass er gerade in Sachen Musik in Spanien war, und hier ist jetzt sein Bericht über die Tournee des Konzerthausorchesters Berlin. Chefdirigent Zagrosek ist mit in der Economy-Class geflogen, und zwar hin und rück. Auch durch diese Art von Reisedetails wird ANHs Text ein gelungenes thematisches Gettogether von Tourstrapazen und Musikglück, und außerdem hat er die 6 abgebildeten Fotos selbst gemacht. Es scheint ein Trend bei der FAS zu sein, dass man heutzutage ruhig auch mal öfters Schnappschüsse der Autoren abdruckt. Dann kann es wengistens nicht passieren, dass in einem Text von einer roten Krawatte gesprochen wird, während das Agenturbild nebenan eine grüne Fliege zeigt. Und ach ja, gleich im zweiten ANH-Satz werden wir mit der für ihn typischen Eindeutschung des deutschen Wortes »Handy« bekannt gemacht: »Mobilchen«. Klingt immer noch sehr unschön (Google schlägt als Alternative vor: »Mobilküchen«, vielleicht ist das Teil des Problems), trotz Dauerverwendung im Dschungel-Blog, it just doesn’t do it for me, aber das nur nebenbei.

Dann noch Peter Körte kurz über Roland Emmerichs »10 000 BC«. Er leistet Abbitte bei Mel Gibson und dessen »Apocalypto«, denn Emmerichs Film findet er offenbar schrecklicher. Sehr schöner Satz mittendrin: »Der Forschungsstand in Sachen Präneolithikum hat Emmerich viele Freiheiten gelassen.«

Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 4):
Melancholie Modeste über Friedrich Sieburg

Leipzig, 3. März 2008, 07:31 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 4:

Melancholie: Modeste: »Ein zum Rühmen Bestellter«
(modeste.twoday.net, 3. 2. 2008)

In ihrem Blog hat M. M. über Friedrich Sieburg geschrieben – und zwar eben mal ohne äußeren Jubiläumsanlass. Das heißt, der Schreibanlass war einfach der, dass sie die Bücher irgendwann mal gelesen hatte.

MRR meinte, dass der Kritiker Friedrich Sieburg deshalb so schnell nach seinem Tod (1964) vergessen worden sei, weil er sich nie über die relevante Literatur nach ’45 gekümmert hätte. Die Modeste meint nun, dass gerade wegen der Missachtung der langweilenden Gruppe-47-Literatur Sieburg eigentlich wieder aktuell sein könnte.

Sie bezieht das vor allem auf seine Franzosen-Biografien (Robespierre, Chateaubriand, Napoleon), vergisst aber auch nicht, das Schreckliche seines Stils noch mal für alle eindrucksvoll auszuformulieren, und dann fällt ihr noch dieser schöne Satz ein: »Wer an Stefan Zweigs Biographien nichts als den allzu schlamperten Stil bemängelt, wird mit Sieburg glücklich werden.« Wir alle wissen, was gemeint ist, hehe.

Wann fusioniert das deutsche Feuilleton?

Konstanz, 2. März 2008, 22:00 | von Marcuccio

Nach dieser Woche kann und muss man sich das schon mal fragen, denn so viel Gemeinsamkeit im Protokoll war selten. Donnerstag abend waren sie alle im Berliner Ensemble, bei Jonathan Littells einzigem Auftritt in Deutschland:

Eckhart Fuhr erlebte für die »Welt« einen »Nazi-Synthesizer«, Harry Nutt von der FR einen »Schriftstellerdarsteller« und Lothar Müller (S-Zeitung) einen Yale-Absolventen.

Sieglinde Geisel von der NZZ griff »sicherheitshalber zur Simultanübersetzung (…); doch auch der Übersetzer hat zu kämpfen«. Dirk Knipphals von der taz sah einen Littell, der mit allem, was er sagte, drauf aus war, »die Sache niedriger zu hängen«, während Hubert Spiegel für die F-Zeitung (Reading Room!) natürlich betont, dass Littell gar »nicht daran denkt, die Provokationen seines Romans kleinzureden«.

Schon am Mittwoch abend waren sie in Weimar kollektiv zur Urlesung von Martin Walsers »Ein liebender Mann« versammelt (und zwar nicht nur die gleichen Zeitungen, sondern sogar Eckhart Fuhr und Dirk Knipphals, so dass man sich unwillkürlich bei der Frage ertappte, ob taz und »Welt« denn jetzt schon Fahrgemeinschaften bilden).

Neben Walsers Krawatte, auf die wir wohl noch eigens in unserer Umblätterer-Rubrik »Eingeschneidert« zurückkommen werden müssen, bleibt uns aus Weimar vor allem Edo Reents als Lach-Detektor in Erinnerung:

An der Stelle »noch Gelegenheit gab zu rühmen, wie gesund er sich hier fühle«, lacht Joachim Kaiser das erste Mal laut auf: »Ha!« In den Anlaut ist ein kleines p hineingeschmuggelt, das a hat leichte Tendenz ins ä oder ö: »Hpäöh!« Was es da zu lachen gibt? Der nächste Lacher kommt bei »dringend zu wünschen«, wo Goethe Ulrike das Wort »unvorgreiflich« erklärt: »Hpäöh!« Das geht dann so weiter: Martin Walser liest in seinem alemannischen Singsang seine nicht immer ganz stubenreinen Goetheana, und Joachim Kaiser macht alle paar Minuten »Hpäöh!«

Das Live-Lachen des Kaisers hat sogar soviel News-Wert, dass es zu einem eigenen Interview mit dem »Leit-Lacher« geführt hat. Da findet man Martin Walser lustig, und schon ist man selber im Feuilleton, hehe.

Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 3):
Peter Urban-Halle über dänische Literatur

Leipzig, 2. März 2008, 08:12 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 3:

Peter Urban-Halle: »Der Krimi soll’s richten« (NZZ, 7. 1. 2008)

Warum soll man gleich noch mal die NZZ lesen? Zum Beispiel wegen der Artikel, in denen die literarische Lage einer Region ganz kurz mal eben ausführlich beschrieben wird. Vor zwei Wochen gab es einen gründlichen Artikel über Slowenien (von Wilhelm Baum), und einen Monat davor war dieser kritische Artikel über die dänische Gegenwartsliteratur erschienen.

Wenn in Dänemark im Moment offenbar keine ›echten‹ Schriftsteller erwähnenswert sind, dann könnte man ja wenigstens über die Krimiautoren reden. Peter Urban-Halle meint aber, dass sich wegen der mangelnden literarischen Qualitäten auch das nicht lohne. In Zeiten des skandinavischen Krimi-Booms kriegt es Dänemark irgendwie nicht auf die Reihe, davon zu profitieren.

Insgesamt polemisiert er recht unterhaltsam, etwa gegen die Werke von Stig Dalager, »deren Weltgewandtheit sich darin äussert, dass sie den Kalender nach interessanten Daten durchschauen und danach politisch korrekte Bücher verfassen, den Roman zum Jahrestag sozusagen«.

Neben Heimat und Mythos sei vor allem auch der Körper ein urdänisches Thema, mittlerweile aber eben eher als Obduktionsobjekt im nordischen Kriminalroman. Von der Verknüpfung dieser drei Themenkreise innerhalb eines Krimis verspricht sich P. U.-H. allerdings ein »Literaturfest«. Im Moment scheint die dänische Literatur sowas dringend nötig zu haben.

Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 2):
Peter Richter und das Rap-Manifest

Leipzig, 1. März 2008, 08:21 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 2:

Peter Richter: »Kannst du stecken lassen« (FAS, 20. 1. 2008)

Ok, Verrisse sind einfacher zu schreiben als Hymnen; soweit die Ergebnisse der weltweiten Feuilleton-Forschung. Trotzdem muss man es können, auch ein Verriss braucht einen Stil.

Peter Richter hat das als Ostpunk des deutschen Feuilletons gut drauf, zuletzt wieder zu sehen bei seinem passgenauen Verriss des Pirmasens-Rappers Massiv. Wer auch immer jetzt noch etwas dazu schreibt, hat nicht gemerkt, dass das Thema nach Richters Artikel gegessen ist fürs Feuilleton. Massiv ist ab jetzt der »dicke Jungen, der die Treppe nicht hochkommt«.

Darüber hinaus ist der Artikel ein Manifest für die Berichterstattung über Rap. Wer in Zukunft irgendwas über deutschen what-so-ever Gangstarap schreibt: Bitte diesen Text vorher lesen. Um einen Unterschied machen zu können zwischen Provokation und Thema, zwischen der Perpetuierung der »stumpfsinnigsten, reaktionärsten und langweiligsten Werte« und diskutablen Texten.

Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 1):
Renate Meinhof über Jauch-Fans in Tel Aviv

Leipzig, 29. Februar 2008, 07:09 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 1:

Renate Meinhof: »Eine Sendung Sehnsucht« (SZ, 4. 1. 2008)

Die Autorin unseres Feuilleton-Lieblingsartikels 2007 hat nachgelegt: Wieder eine fantastische »Seite Drei«-Reportage in der S-Zeitung, diesmal über einige Rentnerinnen in Tel Aviv, die nach 60 bzw. 70 Jahren zurückliegender Emigration Kontakt zu Deutschland und ihrer Muttersprache Deutsch halten – durch Einschalten der Günther-Jauch-Rateshow »Wer wird Millionär?«

Meinhof schildert die vormittäglichen Kaffeekränzchen, die die herrlichen alten Damen im Jeckes-Treffpunkt »Café Mersand« abhalten, um die letzte Folge ihrer Lieblingssendung zu besprechen. Mit dem Besuch des tatsächlichen Jauch hat die Geschichte auch einen unerwarteten Höhepunkt.

Das Bemerkenswerte ist: Unter der Hand erzählt die Autorin die Überlebensgeschichten ihrer Protagonistinnen. Und wie sie diese beiden Welten verbindet, den Holocaust und die RTL-Rateshow, wie sie immer wieder hin und her schaltet, das ist gewagt, aber gut gelungen. Ähnlich wie der alte Wagnerianer wollen einem die Günther-Jauch-Damen nicht mehr aus dem Kopf.

Übrigens, dass Renate Meinhof da ein überbordend interessantes Thema gefunden hat, bestätigt die Berliner Zeitung, die vor ca. zwei Wochen einen ähnlichen Artikel veröffentlicht hat. Der Autorin Charlotte Misselwitz geht es darin vor allem um die Nachfahren der Jeckes, die sich zu späterer Stunde im »Mersand« herumtreiben. Aber am Ende kommt auch sie nicht darum herum, die Jauch-affinen alten Damen zu erwähnen.

Kaffeehaus des Monats (Teil 25)

sine loco, 28. Februar 2008, 14:16 | von Dique

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Lisboa Patisserie, Golborne Road

London
Die Lisboa Patisserie in Golborne Road.

(Knietief in Servietten, und die Zeitung muss man
im Stehen lesen, meistens, das sprichwörtliche
Gegenteil des Wiener Kaffeehauses. Bitte nicht
die Tauben (auch noch) füttern! Und neulich griff
ein einheimischer Lümmel nach meiner FAS,
betrachtete sie kurz und warf sie angewidert
zurück auf den Tisch, ja, ich hatte einen Sitzplatz.)

Würdiger Vorläufer von »Rome«:
»I, Claudius« (BBC 1976)

auf Reisen, 27. Februar 2008, 06:25 | von Paco

Es gibt nach dem Ende der 2. Staffel leider keine Fortsetzung der HBO-Serie »Rome«. Bzw.: Es gibt sie doch, in a way.

Die 13-teilige BBC-Serie »I, Claudius« (nach dem Roman von Robert Graves) ist stilistisch ein deutlicher Vorläufer von »Rome«: Allein die skrupellos-genialen Intrigen der Livia (Siân Phillips), die sie immer so schön doppeldeutig kommentiert und am Ende dem Kaiserkandidaten Claudius (Derek Jacobi) offenbart, sind sehenswert. Die empfehlenswerte Website »I, CLAVDIVS PROJECT« nennt etwa ihre Loswerdung des Postumus in Folge 4 »a masterful piece of manipulation«.

Erzählrahmen bildet Claudius‘ Niederschrift der Geschichte der julisch-claudischen Dynastie unmittelbar vor seinem Tod im Jahr 54 n. Chr. Er beginnt seine Familienstory ca. 24 v. Chr., es handelt sich also historisch gesehen tatsächlich um die Fortsetzung der HBO-Serie »Rome«, die ja mit Marc Antonys Tod nach der Niederlage bei Actium und Octavians Machtantritt endet. Natürlich wirken die 70er-Jahre-Charakter alle etwas dröger als die vor Fleischeslust strotzenden und leuchtenden Römer der US-Serie. Aber das schöne UK-Englisch passt natürlich besser zu den Römern.

Um mit dem Figurenreichtum zurechtzukommen, sollte man auf jeden Fall irgendeinen Serienguide im Netz nutzen. Der unübersichtliche Familiennexus verwirrt sogar Augustus (Brian Blessed) selbst, der den kleinen Claudius in Folge 3 fragen muss:

– Now, which one are you?
– Claudius.
– Oh, yes, Drusus‘ boy.

»I, Claudius« folgt als gute Britenserie auch einem speziellen Humor. Wenn es zum Beispiel in Folge 2 um die römische Provinz Britannia geht, heißt es: »There’s nothing of value there and the people make poor slaves.« Genauso schön funktioniert übrigens das Krautbashing: »Shall we ever civilise the Germans?« Gut, der Ton ändert sich ein wenig im Jahre 9, nachdem Varus an der Grenze zu Germania ein paar Legionen verheizt hat.

Ähnlich wie »Rome« liegt auch der 70er-Jahre-Serie ein lüsternes Drehbuch zugrunde, das sich vor allem für die sagenhafte Promiskuität der Römer interessiert. Nur ein Beispiel: Augustus‘ Tochter Julia hält sich dutzendweise Liebhaber, nachdem ihr dritter Mann Tiberius auf Rhodos exiliert ist. Einmal fragt sie ihren Lover Plautius, der gleichzeitig der Freund ihres Sohnes Lucius ist: »Tell me, does Lucius know you’re ploughing his mother’s furrow with such ferocious skill and energy?« (Folge 3)

Livia setzt diesen Plautius dann irgendwann als Spitzel ein und lässt ihn eine Liste mit allen Lovern von Julia anfertigen. Es wird eine lange Liste. Sie brieft Augustus mit den ausspionierten Daten, und der befragt ein paar angetretene Männer nach ihren Beziehungen zu Julia und rastet dann aus: »Is there anyone in Rome who has not slept with my daughter!«

Dann gibt es noch die Anekdote mit dem Lovemaking-Contest: Während ihr Gatte Claudius Britannia erobert, arbeitet Messalina im Wettstreit mit der berüchtigten Starprostituierten Scylla eine Männerschlange ab, wobei aber nicht mal heruntergelassene Hosen gezeigt werden. Das HBO-»Rome« hätte dafür sicher auch ein paar lustige Bilder gefunden. Erwähnt sei auch noch John Hurt als blondgelockter Lustmolch Caligula, dem schon eine Präfiguration des 1979er Caligula im gleichnamigen Film von Tinto Brass (nach Gore Vidal) gelingt.

An seinem Beispiel lässt sich auch die brutale Entschlossenheit der Figuren zeigen, für die ja auch »Rome« überzeugende Ausdrucksmöglichkeiten gefunden hat (erinnert sei an die Zunge, die Titus Pullo einem Kontrahenten in Folge 2.08 herausbeißt): Caligula hat dem für tot gehaltenen Tiberius bereits den Ring abgestreift und sich pompös zum neuen Emperor erklärt, da kommt ein Sklave angerannt und vermeldet, dass der bereits Totgeglaubte noch lebt und seinen Ring zurück haben will. Herrlich: Caligulas Blick in diesem Moment. Macro nimmt dann ein Kissen und hilft Tiberius ins Jenseits. – Oder wenn in Folge 9 der Kopf des kleinen Gemellus gebracht wird, und Caligula kommentiert: »I’ve cured his cough.«

»I, Claudius« ist entlang der historischen Begebenheiten also auch so brutal wie »Rome«. Beispielhaft zu nennen wären hier auch noch die Grausamkeiten rund um die Ermordung des Sejanus (gespielt vom jungen Patrick Stewart) und seiner Familie. Dessen minderjährige Tochter steht auch mit auf der Prosrikptionsliste, und als einer der Exekutoren Bedenken trägt, eine Jungfrau zu ermorden, da das Unglück für die Stadt bedeuten würde, schlägt ihm ein Kamerad vor: »Make sure she’s not a virgin before you kill her.«

In 13 fast einstündigen Folgen ist übrigens auch Platz für schöne Details, etwa die häufige Wiederkehr von Augustus‘ komischem Lieblingsausdruck »quick as boiled asparagus«.

Am Ende wird Claudius durch seine letzte Frau Agrippinilla vergiftet, die auf diese billige Weise machthungrig ist wie alle ihre Peers. Claudius will es aber auch gar nicht verhindern, dass ihr verzogener Sohn Nero als sein Nachfolger installiert wird. Die julisch-claudische Dynastie wird mit diesem verwöhnten dicken Jungen tatsächlich abtreten, und genau das ist auch Claudius‘ Ziel, von dem er sich langfristig die Wiederherstellung der Republik verspricht, auf dass es endlich ein Ende habe mit den Giftmischern und Mördern. Es sollte natürlich anders kommen.

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