Bratwurstmuseum

Leipzig, 10. September 2008, 15:28 | von Paco

Auf der A4, unterwegs von West nach Ost, hatten wir mal eine Panne, glücklicherweise, denn sonst hätten wir sicher nie etwas vom – Achtung! – 1. Deutschen Bratwurstmuseum gehört.

Einen halben Kilometer vor uns lag die Abfahrt ›Wandersleben‹. Wir schafften es mit dem zerrissenen Reifen noch bis zum Autohof, der gleich hinter der Abfahrt liegt. Und da leuchtete uns dieses Schild entgegen:

A4, Abfahrt Wandersleben, Hinweissschild Bratwurstmuseum

Feuer und Flamme für eine solch abstruse Museumsidee wechselten wir den Reifen, fuhren durch Mühlberg, an Röhrensee vorbei und weiter Richtung Wachsenburggemeinde, die anhand der schön aussehenden Wachsenburg schon von weitem leicht zu erkennen ist.

Das 2006 gegründete Museum befindet sich dann im Ortsteil Holzhausen und wird von freundlichen Museumsleuten betrieben, die mit ihrer umfassenden Kompetenz auch jede Nietzsche-Gedenkstätte betreuen könnten. Es gibt zwei Etagen, in der unteren wird es gleich ganz realistisch: Zu den Ausstellungsgegenständen zählen Fleischwölfe, Brühtröge, Hackklötze, Speckhobel, Schlachtermesser, Fleischerbeile, Bolzenschussgeräte.

Zur Ablenkung sind an allen Wänden Volksmund-Verse verteilt: »In der allergrößten Not / schmeckt die Wurst / auch ohne Brot«. »Was Karl August unter Thüring’s Fürsten / ist die Bratwurst unter Thüring’s Würsten«. Unter der Headline »Die Bratwurst in Kunst und Kultur« wird u. a. die Titelseite des Buches »Wurstologia et Durstologia« (1662) präsentiert, das von einem Spezialisten namens ›Marcus Knackwurst‹ geschrieben worden ist.

Aus der oberen Etage kam mir eine Bratwursttouristin entgegen, die wie in Trance zu sich selbst sagte: »Bratwurst, Bratwurst, Bratwurst. Nichts als Bratwurst.« Ich schaute sie verwundert an, doch mit ihrem Tunnelblick schien sie das überhaupt nicht zu bemerken. Die ganze Museumsidee musste bei ihr eine kognitive Dissonanz ausgelöst haben.

Im oberen Ausstellungsraum geht es vor allem darum, wie die Botschaft der Bratwurst in alle Welt getragen wird (»J’aime la Bratwurst« usw.). Die in Portugal ansässige letzte Bratwurstbude vor Amerika wird erwähnt. Außerdem gibt es Schautafeln zur Geschichte der Bratwurst. Dort steht dann sowas:

1. Jh. v. u. Z.: Bratwurstrezept im ersten römischen Kochbuch von Apicius (römischer Feinschmecker und der bekannteste Kochbuchautor der Antike)

um 50: Der römische Dichter Petronius berichtet im Satyricon über »noch rauchende Bratwürste auf einem silbernen Roste«

Auch eine Anekdote des Bratwurstessers Goethe findet sich natürlich. Die erste urkundliche Erwähnung einer Thüringer Bratwurst erfolgte übrigens am 20. Januar 1404. An diesem Tag wurde in der Propsteirechnung des Arnstädter Jungfrauenklosters der Kauf von Bratwurstdärmen vermerkt: »1 g[roschen] vor darme zcu brotwurstin«. Dem entsprechend kann man einen Blick in eine klösterliche Schreibstube um 1404 werfen. Am Katheder steht Propst Johann von Siebeleben, einen Federkiel in der rechten, eine Bratwurst in der linken Hand.

Es gibt natürlich auch so eine Art Museumscafé, und da entschieden wir uns für die Empfehlung des Tages:

J'aime la Bratwurst!

SZ från igår och FAS från idag

Leipzig, 7. September 2008, 23:49 | von Paco

für Hans Dahl, unseren Schwedischlehrer,
gern auch ›Hans Fru‹ genannt :-)

Dique och jag har redan från början av våra studier studerat svenska i fyra terminer. Vi har sjungit »Du gamla, du fria« och flera Luciasånger samt lyssnat på Kent och Petter. »Ska vi riva hela haket? Så klart!«

Idag, för att »subrayar nuestra vocación paneuropea«, skriver jag just därför på svenska om gårdagens utgåva av »Süddeutsche Zeitung« och dagens utgåva av »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«.

Jag satt alltså för bara en liten stund sedan på Telegraph och hittade dom här tre mycket bra artiklarna:

1. Werner Spies skrev om Max Ernst och upptäckten av »Dripping«-metoden (episoden med »Sauce Robert« var verkligen rolig);

2. Volker Weidermann skrev om Dietmar Daths nya bok »Die Abschaffung der Arten«, Weidermann beskriver den som en »roman för alla«;

3. Harald Staun skrev om storprojektet »24h Berlin« (filmades i förrgår, 5/9 2008, av mer än 80 kamerateam, resultatet kommer visas om exakt ett år, den 5/9 2009, på RBB, ARTE och finska digitalkanalen YLE Teema; mer på SvD).

Sedan läste jag också i gårdagens SZ, nämligen i bilagan »SZ am Wochenende«, det suveräna porträttet, som Marc Felix Serrao har skrivit, om Götz Kubitschek, hjärnan bakom det såkallade KSA (Konservativ-Subversiv Aktion).

Den lilla artikeln av Thomas Steinfeld om Alaska som republikansk utopi (»Das Lied von Anchorage«) var också mycket bra, nämligen på grund av hans nya tolkning av sången »Anchorage« av Michelle Shocked.

Bää bää vita lamm, har du någon ull?
Ja ja kära barn, jag har säcken full.
Söndagsrock åt far och söndagskjol åt mor
och två små strumpor åt lille lille bror.

Kaffeehaus des Monats (Teil 40)

sine loco, 7. September 2008, 11:30 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Vapiano, Tallinn

Tallinn
Das Vapiano in der Hobujaama 10.

(»See you at my office,« she had said, but the address
on her business card pointed me to this pizza chain. I tried
to find another door but then I really glimpsed her through
the window and watched her a while. She was sitting
al fondo, working her way through some food, reading mails,
receiving a call, digging through some paper work. She had
no office, I figured, the pizza place was her office. And now
she was waiting for me to present my company’s offer.)

»Schön!« — Mit Judith Hermann durch Berlin

Leipzig, 4. September 2008, 12:56 | von Paco

Die Leute von Literaturport.de haben einige bekanntere Berliner Autoren dazu gebracht, eine »Literatour« durch Berlin zu unternehmen und darüber zu texten. Auch Judith Hermann hat einen Text beigesteuert, und im Prinzip kann so etwas ja nur schiefgehen.

So wurde Ingo Schulze neulich im »Spiegel« dafür abgewatscht, dass er seinen Roman »Adam und Evelyn« offenbar als eine Art Auftragsarbeit für eine bestimmte geplante Reihe des Berlin Verlags unternommen hat, in der »große Mythenstoffe neu erzählt und gedeutet« werden. »Nicht von kreativem Drang, vielmehr von Marketing-Blabla beflügelt«, nannte das Urs Jenny (Nr. 33/2008, S. 142).

Der Titel des Hermann-Texts ist dann auch gleich in Maßen schrecklich: »Spazieren.Gehen.« – das wirkt etwas zu sehr gewollt experimentell poetisch. Der eigentliche Text dann gar nicht, es geht alles glatt, auch weil die Autorin es von Anfang an ablehnt, überhaupt ein Thema, einen Auftrag zu haben. So wandert sie themenlos einige Randgebiete des Prenzlauer Bergs entlang, die einzelnen Stellen sind auf der Webseite auch per eingebettetem Google Maps verortet.

Relativ schnell hat man dann wieder den Hermann-Sound im Ohr, vor allem, wenn man sich die Story gleich als MP3 von der Autorin vorlesen lässt.

Erst wundert man sich, dann nimmt man ihn hin, dann findet man ihn gut: einen wohlausgesuchten Manierismus, der sich schon nach 3 Absätzen festsetzt – die Erzählerin bezeichnet ihr Kind, das sie auf der Tour begleitet, stets als »mein Kind«:

»Wir nahmen, am Fuß des Berges angelangt, den asphaltierten Weg, ein Stückchen lang, und schlugen uns dann in die Büsche, die Abkürzung, ein Trampelpfad durch Dickicht und Sträucher, sehr steil aber kurz; wir gerieten außer Atem, worüber mein Kind froh war, weil es wusste, dass das zu einer Bergbesteigung dazu gehört.«

Eine ganz hervorragende Stelle, im Prinzip schon viel zu literarisch für den Approach des Literaturports, und ab hier beginnt »mein Kind« auch, zur literarischen Figur zu werden und der Text löst sich endgültig von seinem »Literatouren«-Kontext. Das gilt auch für den Fotografen, »eine Gestalt ganz nach meinen Wünschen, immer mit der Kamera vorm Auge und bereit zu sehen was ich sage«.

J. H. hat ihn also kurzerhand ins Figurenarsenal ihrer Geschichte reingenommen, und zwischen der Gelassenheit der Autorin und der Mentalität des motivsuchenden Fotografen gibt es ein interessantes Hin und Her:

»Schön, hatte der Fotograf gesagt. Ich hatte ihm am Telefon die Stationen des Spazierganges aufgezählt: Volkspark Prenzlauer Berg, den kannte er vom Hörensagen, Kleingarten Kolonie ›Grönland‹, dazu wollte er sich nicht äußern, Jüdischer Friedhof Weißensee, da sagte er: Schön!«

Das ist judith-hermann-haft knapp gefasst, gerahmt von diesem zweimaligen einverstandenen »Schön!«, ein schwer vertextbares Detail des Gesprächs sehr gut eingefangen, ohne weitere Worte ist alles klar, später wird das im Text noch mal aufgenommen:

»Der Fotograf hat mich nicht gefragt, warum gerade der Jüdische Friedhof Weißensee mit hinein soll in diesen Spaziergang, er hat Schön! gesagt und ich weiß, was er meint.«

Der Auftrag des Fotografen sah auch vor, ein Autorenfoto zu schießen:

»Es soll ja, sagt der Fotograf am Telefon, auch ein Foto gemacht werden. Das musste dir dann irgendwie aussuchen, das Foto, da sollst du drauf sein, wo willst du das machen.«

Man kann von J. H. nicht einfach so und ohne Umstände ein neues Autorenfoto machen! Das ist unmöglich: »ich stelle mich nicht auf den Berg vor die Aussicht nach Osten«. Im letzten Absatz geht es dann um dieses Paratext-Bewusstsein der Erzählerin, der Autorin, das ist ein sehr guter Schluss dieser Auftragsarbeit. Im Café Surprise soll es dann sein: »Ich setze mich ganz gerade hin und schaue mal am besten links aus dem Fenster.« Klick!

Darf man das lesen? (Teil 14):
Das D-Radio-Programmheft

Konstanz, 3. September 2008, 14:25 | von Marcuccio

Diesen Monat muss man das D-Radio-Programmheft sogar lesen, wenn man die ganze Wahrheit über uns Umblätterer erfahren will: »Ein guter Umblätterer ist ein Segen, ein schlechter ist ein Fluch«, heißt es im aktuellen September-Heft (S. 5). Und weiter:

»Die edle Kunst des Umblätterns beherrschen offenbar nicht viele. (…) Umblätterer bekommen keinen Applaus. Sie werden ignoriert, sind eigentlich nicht da. (…) Welche Fauxpas geschehen immer wieder? Und: Wie sehen Umblätterer-Karrieren aus? Die Musikszene gibt Einblick in eine unterschätzte Kunst.«

Die »Geschichten von Notenwendern und Blätterknechten« am kommenden Sonntag, 7. September, um 15:05 im Deutschland­funk …

Das D-Radio-Programmheft liest man also niemals nur aus den bekannten praktischen Gründen. Man muss es vor allem als monatliche Mythen-Beigabe lesen:

Zum Beispiel: Der Seewetterbericht

Wenn Jörg Kachelmann sich im Gastkommentar (# 8/2007) als Reformator des DLF-Wetterberichts bewirbt (Es »gäbe natürlich schon eine Welt jenseits des ›teils heiter, teils wolkig‹.«), dann denke ich: Wohl wahr, hehe, aber scheint ja nichts draus geworden zu sein … zum Glück für den (zumal am Binnengewässer) doch immer wieder gern gehörten, ominösen Seewetterbericht: »Östlich Fehmarn West bis Südwest 5 bis 6, Böen 7«. So geil.

Zum Beispiel: Die Mittagsfrau

Wenn Julia Franck auf der Promi-Seite des Programmhefts (# 12/2007) erklärt …

»Auch die Nachrichten sind meine Lieblingssendungen. Ihre Sprecher und Moderatoren kann ich größtenteils von den Stimmen her unterscheiden.«

… dann weiß ich, dass meine Favoritin auf jeden Fall die »Mittagsfrau« ist, die um 12 Uhr 50 immer die »Internationale Presseschau« spricht. Da wird »die Zeitung ›Die Welt‹« mit der gleichen öffentlich-rechtlichen Sorgfalt zitiert wie »Jyllands-Posten« oder der »New Zealand Herald«.

Zum Beispiel: Das Gesamtwerk

Hat eigentlich schon jemand gemerkt, dass das Deutschlandradio-Programmheft die Edition Suhrkamp unter den Rundfunk-Postillen ist? Man muss es nur lang genug abonnieren und archivieren, dann steht man irgendwann wie Siegfried Unseld vor seinem berühmten Spektral-Regal.

Deutschlandradio, Deutschlandfunk, Sammlung von Programmheften

Das schafft kein arte- und kein 3sat-Magazin. Und die kosten sogar noch extra, während das D-Radio-Heft, man sollte es eigentlich nur flüstern, immer noch für nichts als unsere Gebühren frei Haus geliefert wird. GEZ-Teilnehmer sollte man bei Abo-Abschluss freilich schon sein, es sei denn, man will sich gerade auf diese Art anmelden …

In Brügge

Brügge, 2. September 2008, 18:02 | von Dique

»In Bruges« ist der beste Film des Jahres und auch des letzten und bestimmt auch des nächsten. Nun bin ich selbst in Brügge, und normalerweise wäre hier alles ganz Memling und van Eyck, doch jetzt ist hier alles »In Bruges«. So richtig Memling wird es erst wieder im Memling-Museum, ist ja nicht verwunderlich. Dort, im alten Johannishospital, steht neben einer guten Handvoll anderer Memlingwerke auch der wunderbare von ihm selbst bemalte Ursula-Schrein, welcher zu besonderen Anlässen und immer am Tag der Heiligen bei Prozessionen herumgetragen wurde.

Doch bevor ich dort sein werde, gehe ich erst mal ein bisschen durch die Stadt. Wenn ich einen iPod besitzen würde, dann würde ich jetzt das Klischee komplettieren und den fabelhaften Soundtrack von Carter Burwell auflegen. Ich habe aber gar keinen iPod.

Trotzdem geht mir das Hauptthema des Scores durch den Kopf, als ich dann vorm Belfried stehe. Es ist neun Uhr morgens, ich bin fast allein, und ich suche, wohl wissend, dass es nur ein Film war, auf dem Kopfsteinpflaster nach Blutflecken und denke an den beängstigenden deutschen Titel: »Brügge sehen … und sterben?«

Sünde und Sühne. Der entscheidende Mord vor der Verbannung der Hitmen geschieht bei der Beichte, das Opfer ist der Pfarrer selbst (ein Kurzauftritt als Opfer hat hier Ciarán Hinds, dem die Menschheit noch eine Menge Preise und Huldigungen für seine Meisterleistung als Caesar im HBO-»Rome« schuldet!). Aber neben dem Pfarrer trifft es ein zweites Opfer, einen kleinen Jungen, und was ist das für eine herzzerreißende Szene, als Ray den blutigen Zettel aufhebt, auf dem der Junge seine zu beichtenden Sünden notiert hat:

1. Being moody
2. Being bad at maths
3. Being sad

Gleich im Anschluss sieht man Ken und Ray durch das Groeninge Museum spazieren. Ray steht vor dem Gemälde von Gerard David, »König Kambyses und der Richter Sisamnes«, und da stehe ich auch gerade. Wegen Bestechlichkeit wird dem Richter Sisamnes die Haut abgezogen. In der schauerlichen Szene hat einer der Schergen bereits das Bein von Sisamnes gehäutet. Der Audioguide erklärt mir etwas zum limitierten Anatomieverständnis der flämischen Primitiven, die Venen liegen nicht direkt unter der Haut …

Um die Ecke des Groeninge, in der Liebfrauenkirche (Onthaalkerk Onze-Lieve-Vrouw), gibt es eine Madonna mit Kind von Michelangelo (ja, hier in Brügge!), und nach dem Diptychon von Gerard David tut der Anblick marmorner Schönheit sehr, sehr gut. Hier, in dieser Hochburg der nordischen Renaissance, wirkt diese italienische Leichtfüßigkeit besonders stark, ohne dass ich jetzt qualitative Vergleiche ziehen will. Michelangelo passt hier auch thematisch gut rein, ok, das war auch eine Generation nach Gerard David, aber er war ja einer der ersten Künstler, der Leichen sezierte, um den Körperaufbau genauer studieren zu können.

Ken und Ray bekommen die wunderschöne Madonna nicht zu Gesicht. Sie verweilen im Groeninge vor dem »Jüngsten Gericht« von Bosch und führen diesen Dialog:

Ken: It’s Judgment Day, you know?
Ray: No. What’s that then?
Ken: Well, it’s, you know, the final day on Earth, when mankind will be judged for the crimes they’ve committed and that.
Ray: Oh. And see who gets into heaven and who gets into hell and all that.
Ken: Yeah. And what’s the other place?
Ray: Purgatory.
Ken: Purgatory … what’s that?
Ray: Purgatory’s kind of like the in-betweeny one. You weren’t really shit, but you weren’t all that great either. Like Tottenham. (Pause.) Do you believe in all that stuff, Ken?
Ken: About Tottenham?

Auf dem Bild tummeln sich die üblichen Bosch-Gestalten, ein Reptil mit Menschkopf und langem roten Zipfelhut schaut zu, wie eine Menschengruppe einen großen Schuh in einem schwarzen Fluss zu einem Schiff umfunktioniert; in einem Fass, umringt von nackten Gestalten, scheint jemand gegart zu werden; etc. Fast einen ganzen Film lang erlebt Ray das Jüngste Gericht am eigenen Leib. Auf einem Filmset mitten in Brügge, in feinem (Brueghel’schem?) Neuschnee wird Ray erschossen, und an ihm vorbei ziehen fratzenhafte Gesichter, mit und ohne Masken, und er entdeckt seine ganz persönliche Hölle:

»And I thought, if I survive all of this, I’d go to that house, apologize to the mother there, and accept whatever punishment she chose for me. Prison, death, didn’t matter. Because at least in prison and at least in death, you know, I wouldn’t be in fuckin’ Bruges. But then, like a flash, it came to me. And I realized, fuck man, maybe that’s what hell is: the entire rest of eternity spent in fuckin’ Bruges.«

Software & Erinnerung (Teil 3)

Leipzig, 1. September 2008, 21:15 | von Paco

Das Motto lautet nach wie vor:
»Et tout d’un coup le souvenir m’est apparu.« (Proust, Combray)

Vor genau einem Jahr haben wir hier zum ersten Mal ein bisschen Versionsnummern-Lyrik präsentiert. Das damalige Preface könnte ich hier gleich noch mal reinpasten, aber der Link eingangs genügt. (Nur kurz zur Auswahl: Es wird nur die Software gelistet, die wir regelmäßig benutzen. Wir haben wirklich nichts gegen Fedora oder Red Hat, wir benutzen diese Distros nur nicht. :-)

Schon der lapidare Vergleich der vor einem Jahr aktuellen Releases mit den heute stabilen Versionen grenzt an (sagen-wir-mal:) Geschichtsschreibung. Schließlich geht es oft genug um die Propagierung dringend nötiger Sicherheitsreleases – eine Parallele zu den Erscheinungen heutiger Sicherheitspolitik. Außerdem geht es natürlich um sich änderndes Look&Feel beim Bedienen aktualisierter Software, nicht nur beim neuen Firefox oder beim neuen KDE – in der derzeitigen Sozial- und Gesellschaftsgeschichtsschreibung wird das natürlich noch ausgeblendet, hehe.

Zu jeder einzelnen Versionsnummer wäre im Prinzip ein Kommentar fällig, denn die Zählweisen der verschiedenen Projekte unterscheiden sich teilweise stark voneinander. Wann wird zum Beispiel eine ganze Nummer nach oben gesprungen? Trotz eines kompletten Engine-Rewrites ist Opera bei der Versionsbenennung nur den Schritt von 9.2 zu 9.5 gegangen, Firefox dagegen den von der 2.0 auf die 3.0.

Neben der manischen Lektüre ausufernder Software-Reviews bin ich immer wieder fasziniert über die steten Ausrufungen neuer Versionen auf heise.de, golem.de, fixmbr.de usw. Ein Highlight ist dabei immer der tausendfache Blogosphären-Schrei beim Release einer neuen WordPress-Version.

Wie auch immer, eine Ästhetik von Versionsnummern lässt immer noch auf sich warten. Solange horten wir hier mal weiter Material. (Wer sich gern mit Matthias Politycki an den Netscape Navigator 4 erinnern möchte, bitte.)

Jetzt die Übersicht, Stand 1. 9. 2008 – in Klammern die Version, die am 1. 9. 2007 aktuell war (die meisten Kommandozeilentools habe ich diesmal weggelassen):

Browser & Aufsätze:
Opera 9.52 (9.23)
Firefox 3.0.1 (2.0.0.6)
SeaMonkey 1.1.11 (1.1.4)
Netscape Navigator 9.0.0.6/eingestellt (9.0b3)
Konqueror 4.1.0 (3.5.7)
Safari 3.1.2 (525.21) (3.0.3 [522.15.5])
Amaya 10.0.1 (9.55)
Internet Explorer 8.0.6001.18241/Beta (7.0.5730.11)
Maxthon 2.1.4.238 (2.0.3.4643)

Server/Database/CMS:
Apache 2.2.9 (2.2.4)
MySQL Community Server 5.0.67 (5.0.45)
PostgreSQL 8.3.3 (8.2.4)
MediaWiki 1.13.0 (1.10.1)
osCommerce 2.2 RC 2a (2.2 RC1)
Trac 0.11.1 (0.10.4)
WordPress 2.6.1 (2.2.2)
Typo3 4.2.1 (4.1.2)
Joomla 1.5.6 (1.5 RC1)

Clients:
WinSCP 4.1.6 (4.0.3)
FileZilla 3.1.2 (3.0.0 RC3)
FireFTP 1.0.2 (0.98)
Trillian 3.1.10.0 (3.1.7.0)
mIRC 6.34 (6.3)
RapidSVN 0.9.6 (0.9.4) / Subversion 1.5.2 (1.4.2)
floAt’s Mobile Agent 2.1.4.0.R243 (»Outdated!«)

Media Players:
VLC media player 0.8.6i (0.8.6c)
Media Player Classic 6.4.9.1 rev 72 (6.4.9.0)
BSplayer 1.37 (letzte freie Version, immer noch gut)
Songbird 0.7.0 (0.2.5)
Amarok 1.4.10 (1.4.6)
foobar2000 0.9.5.5 (0.9.4.4)
Winamp 5.541 (5.35) (immer noch gut: 2.91)

Editoren/Word Processors:
OpenOffice 2.4.1 (2.2.1)
XMLmind 4.0.0 (3.6.1)
Notepad++ 5.0.3 (4.2.2)
UltraEdit 14.10 (13.10a)
Kate 3.1 (2.5.4)
XEmacs 21.4.21 (21.4.20)
joe 3.5 (immer noch)

Coding:
Perl 5.10.0 (5.8.8)
PHP 5.2.6 (5.2.4)
GCC 4.3.2 (4.2.1)
Ruby 1.9.0 (1.8.6)
Ruby on Rails 2.1.0 (1.2.3)
JDK 6 Update 7 (6 Update 2)

Gfx/Pics/Print:
Photoshop CS3 (immer noch)
GIMP 2.4.7 (2.2.17)
IrfanView 4.20 (4.00g)
Picasa 2.70 Build 37.36 (2.7.0)
ImageMagick 6.4.3-6 (6.3.5-6)
Ghostscript 8.63 (8.60)

Edu:
LingoPad 2.6 (360) (2.5.1 [325])
Google Earth 4.3.7284.3916 (4.2.0181.2634)

Distros:
Kubuntu 8.04 (7.04)
OpenSUSE 11.0 (10.2)
Slackware 12.1 (12.0)

Desktop/Command Line:
KDE 4.1.0 (3.5.7)
Beagle 0.3.8 (0.2.18)
Bash 3.2.33 (3.2.17)

The City’s Finest FAS

Antwerpen, 31. August 2008, 21:41 | von Dique

Heute in Antwerpen, und ich suche Stunden nach der FAS. Am Bahnhof gibt es keine, überhaupt scheint hier kein anständiger Zeitungsladen zu sein. Ich gehe dann Richtung Stadtmitte, zum Marktplatz, Grote Markt. Unterwegs ist auch Fehlanzeige, dabei habe ich gedacht, dass es ums Rubenshuis herum doch einen internationalen Zeitungsladen geben sollte, bei dem Andrang der hier überall herrscht.

Also gehe ich weiter bis zur Touristeninformation am Grote Markt und frage, wo man denn hier und heute internationale Presseerzeugnisse erwerben könne. Die beiden Angestellten, ich bin der einzige Kunde, stutzen erst etwas, doch dann verweisen sie mich, wenig Hoffnung machend, an eine Straße auf der anderen Seite des Marktes, und siehe da: Dort liegt, in all her glory, die FAS.

In der FAZ vom Freitag schrieb Hubert Spiegel in seinem Artikel »Das Buch, das aus dem Äther kam« über elektronische Lesegeräte. Im Besonderen stellte er den Kindle von Amazon vor, der um die 200 Bücher speichern kann. Und natürlich stellt sich die Frage, was das für das traditionelle gedruckte Buch bedeuten wird und vor allem, wie sich unser Leseverhalten im Angesicht der Volltextsuche verändert. Seit Jahren drücke ich beim Lesen von Büchern im Geiste Ctrl+F, weil ich einen bestimmten Abschnitt suche. Das wird nun Wirklichkeit.

Der Aufmacher des heutigen FAS-Feuilletons ist ein indirekter Anknüpfungspunkt, denn Johanna Adorján hat die Internationale Funkausstellung in Berlin besucht, und ich zucke erst mit den Schultern. Was geht mich die Funkausstellung an, und warum verschwenden die dafür so viel Platz in dieser Rubrik. Das ist aber ein zu schnelles und vor allem falsches Urteil. Der Text ist ein hochgradiges Lesevergnügen. Johanna Adorján kokettiert mit ihrer Unwissenheit hinsichtlich des technischen Fortschritts in Sachen Heimelektronik und Haushaltsgeräte und begibt sich durch den Wirrwarr lautloser Kühlschränke und Waschmaschinen, die automatisch erkennen, welche Flecken sie zu behandeln haben und bei denen man im Menü seine Lieblingsflecken auf Hotkeys legen kann.

Und wie der ganze Text von Spiegel endet dieser beim elektronischen Buch, hier beim E-Reader von Sony, »eine Akkuladung reicht für das Umblättern von 6800 Seiten, man kann also ›Die Wohlgesinnten‹ von Littell fünf Mal hintereinander lesen, ohne irgendeine Seite doppelt zu lesen«, heißt es im Text.

Am Ende gibt es ein Gedicht, welches genau unseren Geschmack als Freunde der Alltagspoesie trifft. Es ist die leicht modifizierte Gebrauchsanleitung des E-Readers:

Eine Seite, zu der ich zurückkehren wollte,
konnte ich mit einem Zeichen versehen
Ich drückte das Zeichen auf der ersehnten Seite
Die Leuchtdiode leuchtete auf,
und das Zeichen erschien in der rechten Ecke der Seite

Weniger amüsiert bin ich über den Snack, welchen ich während meiner Lektüre einnehme. Gleich neben dem Zeitungsladen ist diese große Frituur, FRITUUR n° 1. Ich meine mal irgendwo über diesen Laden gelesen zu haben: »the city’s finest fries«. Neben einer Portion Pommes nehme ich auch noch so einen kleinen Spieß mit Hühnchenstücken dran, so eine Art Schaschlik. Ich weiß wirklich nicht mehr, warum ich dachte, dass das irgendwie kuhl wäre, das Hühnchenfleisch ist völlig überfrittiert, und die Pommes sind einfach schlecht. Und das in Belgien!

El destino del Umblätterer

Göttingen, 30. August 2008, 16:45 | von Paco

¡¡¡Henryk M. Broder en el »Frankfurter Allgemeine«!!! En realidad sólo responde, prudente como siempre, al texto de Patrick Bahners. Pero imaginarme que él podría escribir para el »FAZ«, como redactor, me emocionó.

En el diario »Die Welt« un tal Wolfgang Schuller escribe en contra de la genial traducción que Raoul Schrott hizo de la »Ilíada« de Homero. Schrott no usa el hexámetro y, sobre todo, juega tanto con el original que no le gusta a Schuller. Sea como sea, me gusta la idea que Helena y Paris se amaran »dass die Bettpfosten wackelten«. ¡Maravilloso!

Después de terminar todos los artículos en ambos diarios decidí comprar el »Süddeutsche« en el Tonollo, el mejor negocio de diarios en toda Baja Sajonia (digamos).

Valió la pena. Jörg Häntzschel vio los primeros episodios de la segunda temporada de »Mad Men« y escribió un buen texto sobre ésta. Absolutamente es acertada su observación de los años sesenta que muestra la serie: »noch tragen die Sekretärinnen Busen wie Atomraketen, die Moskau erreichen könnten«, jaja.

El destino del Umblätterer: Como ya leí los folletines del 30 de agosto de 2008, hay que esperar hasta mañana que se publique el »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«.

Der Mauerkaiser mit dem Bart

London, 28. August 2008, 07:06 | von Dique

· für Marcuccio ·

Brian Sewell hatte das Glück, sich die Hadrian-Ausstellung »Empire and Conflict« im Reading Room des British Museum, abgesehen von den Teppichverlegern, allein anzusehen. Den ersten Absatz seines Reviews für den Evening Standard widmete er der allgemeinen Lage des ständig neue Besucherrekorde aufstellenden British Museum:

»But when I left the domed Reading Room that is the exhibition hall inherited from the Chinese terracotta warriors, it was to descend into the mayhem maelstrom of the Great Court and have my meditative mood cut short, all reflection swept away by the heaving tide of bodies and the uproar that they make.«

Ich musste schon durch den Malstrom des Great Court, um in die Ausstellung zu gelangen. Unter dem Kuppeldach des Reading Rooms ist es kühl und dunkel und man taucht gleich ein in die Hadrianwelt und es gibt eine Menge Hadrian zu sehen. Zuallererst diesen riesigen Schädel, den man erst kürzlich irgendwo in der Türkei ausgegraben hat. Die gesamte Statue soll um die fünf Meter hoch gewesen sein. (Vielleicht ist das der missing link zur vierzehigen Monumentalstatue aus »Lost«?)

Aber zweieinhalb Stunden später dann eben wieder in diesen Malstrom, und die Stimmung ist einfach im Eimer, da muss man Sewell einfach Recht geben. Wie in jeder Ausstellung in Großbritannien endet man direkt im Shop, nicht daneben, nicht gegenüber. Man spaziert direkt auf eine lebensgroße Antinous-Statue zu, eine Replik vom Original in der Ausstellung, und man kann sie kaufen, für 15.000 GBP in Resin und für nur 10.000 GBP in Gips.

Aber bleiben wir lieber in der Ausstellung. Der architektur­begeisterte Hadrian ließ ja das Pantheon bauen, also neu bauen, nachdem der durch Marcus Agrippa errichtete Vorgängerbau um das Jahr 80 herum abgebrannt war. Freundlicherweise ließ Hadrian aber den prominenten Spruch, der auf den ursprünglichen Baumeister verweist, über dem Eingangsportal stehen:

M AGRIPPA L F COS TERTIVM FECIT

In der Ausstellung kann man die kleine Anekdote über den Hobbyarchitekten und Kuppelfreund Hadrian hören, der, bevor er Trajan als Imperator nachfolgte, dem Architekten Apollodorus einen Designverbesserungsvorschlag machte, welchen dieser mit der Bemerkung ablehnte, dass er sich besser trolle und »seine Kürbisse« male. Das Pantheon ein großer Kürbis.

Es gibt ein beeindruckendes Modell des Pantheon zu sehen (das kann man leider nicht im Museumsshop erwerben), und das steht natürlich genau unter der Kuppel des Reading Rooms, in dem die Ausstellung stattfindet. Und diese Kuppel ist ja, wie jede große Kuppel nach dem Pantheon, der Mutter aller Kuppelbauten, an eben dieses angelehnt.

Gleich daneben gibt es dann ein paar Fotos von anderen wichtigen Kuppeln zu sehen. Es ist nur eine kleine Auswahl, die Hagia Sophia und die Süleymaniye-Moschee, beide in Konstantinopel, Brunelleschis Duomo in Florenz, die Kuppel des Reading Rooms, unter welcher wir uns gerade befinden, und noch eine: die nie gebaute Kuppel für die »Halle des Volkes« für Hitlers Traumwelthauptstadt Germania.

In den Rezensionen zur Ausstellung wird Hadrian mehrheitlich als moderner Kaiser gefeiert und aktuelle Parallelen werden gezogen. Weil er sich nach seiner Machtübernahme sogleich aus dem heiß umkämpften Mesopotamien zurückzog und überhaupt wegen allgemeiner Friedensbemühungen, und das kommt natürlich immer gut, und vielleicht stand das so in dieser Richtung in den PR-Unterlagen der Veranstalter. Erfrischenderweise sieht Brian Sewells Beitrag das anders:

»These parallels may seem significant to the naïve, but they are irrelevant – Hadrian was wholly a man of his time, not ours, and any dictator we might set up as an example from our day, Hitler, Stalin, Ceausescu and the tyrants of the Middle East, is a transitory ninepin in comparison, for what Hadrian achieved politically in the two decades of his rule had lasting influence – for two centuries and more, and his architectural legacy has lived on for almost two millennia«.

Von den zahlreichen weiteren Objekten der Ausstellung beeindrucken zwei Pfauen aus Bronzeguss, welche normalerweise in den Vatikanischen Museen in Rom zu bewundern sind. Sie wurden im Castel Sant’Angelo gefunden, der Engelsburg, auf der neulich, in unserer kleinen Geschichte über den Sacco di Roma, Benvenuto Cellini Kanonen auf das spanisch-deutsche Söldnerheer abfeuerte und die ursprünglich Hadrians Mausoleum war.

Ebenfalls von ausgezeichneter Qualität ist die Büste des jungen Marcus Aurelius. Es gibt überhaupt sehr viele Büsten zu sehen. Sie sind sehr schön über die Ausstellung verteilt, mal einzeln, mal im Cluster. Gleich zu Anfang zum Beispiel gibt es eine Büstengruppe von Hadrians engstem Familienkreis, später dann, natürlich unter der Kuppel, starrt Agrippa allein von einer Säule.

Ach so, ja, eh ich das vergesse, Hadrian hatte einen Jüngling zum Geliebten, mit dem er gern Löwen jagte und der dann irgendwann im Nil unter leicht verschwommenen Umständen ertrank, und er trug Vollbart, Hadrian, nicht Antinous, unter römischen Kaisern eher unüblich, aber das hatte vielleicht mit seiner Liebe zu allem Griechischen zu tun, einige seiner Untertanen nannten ihn deshalb sogar ›Greekling‹.

In Großbritannien ist Hadrian besonders beliebt wegen seiner die Insel in der oberen Hälfte teilenden Mauer, damals erbaut zum Schutz gegen die nördlichen Inselbewohner, also eine Art antischottischer Schutzwall. Die Mauer, der Wall, war nicht lange in Betrieb, aber die Reste kann man immer noch entlangwandern, und erst kürzlich las ich von jemandem, der die Insel in neun Tagen den Wall entlang durchmessen hat. Und das ist auch mein Vorschlag zum nächstjährigen Betriebsausflug des Umblätterers.

Kurz bevor der bärtige Mauerkaiser starb, soll er folgende Worte gedichtet haben.

»Little soul, little wanderer, little charmer,
Body’s guest and companion,
To what places will you set out now?
To darkling, cold and gloomy ones –
And you won’t be making your usual jokes.«

Mit diesen Worten endeten Hadrians (physisches) Leben, die Ausstellung und dieser Text. Und ich dränge mich durch den Malstrom des Great Court und habe großen Appetit auf Kürbiscremesuppe.