Archiv des Themenkreises ›Buchbuch‹


Listen-Archäologie (Teil 14):
Market Wizards

Hamburg, 11. Februar 2018, 23:17 | von Dique

Jack D. Schwager hatte irgendwann die hervorragende Idee, die besten Trader der USA zu interviewen. Erschienen sind die Gespräche dann in dem Band »Market Wizards«. Er enthält 17 Interviews mit heute weitbekannten Tradinghelden wie Paul Tudor Jones, Bruce Kovner und Michael Steinhardt. Es gibt jeweils einen kurzen Pro- und Epilog.

Der Tradingstil der Interviewten, grob zusammengefasst, besteht aus Disziplin und striktem Risikomanagement. Schwager fragt die Market Wizards auch gern mal nach prägenden Lektüren, und es zeigen sich Muster: Neben den Büchern von und über Jesse Livermore (»How to Trade in Stocks« von ihm selbst und »Reminiscences of a Stock Operator« von Edwin Lefevre) – einer der oder vielleicht sogar der erste Day-Trader a.k.a. The Boy Plunger – wird häufig ein alter Ziegelstein aus dem 19. Jahrhun­dert genannt, der den wunderschönen Titel »Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds« trägt. Dieses Buch, geschrieben von dem schottischen Journalisten Charles Mackay, ist 1841 erschienen, und es ist alles dabei: Alchemie und Kreuzzüge, Tulpenmanie und Südseeblase. Die Crypto-Currency-Manie kannte Mackay natürlich noch nicht, gewundert hätte er sich nicht.

Die »Market Wizards« wurden für Schwager zum großen Erfolg. Im Abstand von jeweils ein paar Jahren brachte er dann immer neue Bücher mit aktuellen Top-Tradern als Interviewpartnern heraus: »New Market Wizards«, »Stock Market Wizards« und »Hedge Fund Market Wizards«. Alle sind gleichermaßen großer Fun. In unserer Serie »Listen-Archäologie« folgt nun eine chronologische Übersicht mit den insgesamt 64 Interviewpart­nern, eine note to self, da ich oft verwechsle, welcher Trader für welches Buch interviewt wurde.

Die Trader in den späteren Büchern kannten natürlich die vorherigen Titel. Für einige war es neben einer großen Ehre sogar das Ziel, einmal für eines der Bücher von Schwager interviewt zu werden. Mark Minervini, der Trendfolgegott aus dem Band »Stock Market Wizards«, gibt das explizit in seinem Interview bekannt.

Mit Ausnahme von Linda Bradford Raschke und Dana Galante fehlen unter den Top-Tradern übrigens bedrohlich die Frauen, die Quote bei 64 Inter­views liegt bei gerade mal 3%.

But here we go, meet the Market Wizards, as interviewed by Jack D. Schwager!

Market Wizards:
Interviews with Top Traders (1989)

  • Michael Marcus: Blighting Never Strikes Twice
  • Bruce Kovner: The World Trader
  • Richard Dennis: A Legend Retires
  • Paul Tudor Jones: The Art of Aggressive Trading
  • Gary Bielfeldt: Yes, They Do Trade T-Bonds in Peoria
  • Ed Seykota: Everybody Gets What They Want
  • Larry Hite: Respecting Risk
  • Michael Steinhardt: The Concept of Variant Perception
  • William O’Neil: The Art of Stock Selection
  • David Ryan: Stock Investment as a Treasure Hunt
  • Marty Schwartz: Champion Trader
  • James B. Rogers, Jr.: Buying Value and Selling Hysteria
  • Mark Weinstein: High-Percentage Trader
  • Brian Gelber: Broker Turned Trader
  • Tom Baldwin: The Fearless Pit Trader
  • Tony Saliba: »One-Lot« Triumphs
  • Dr. Van K. Tharp: The Psychology of Trading (kein Trader, sondern ein Psychologe, der viele Trader betreut)

The New Market Wizards:
Conversations with America’s Top Traders (1992)

  • Bill Lipschutz: The Sultan of Currencies
  • Randy McKay: Veteran Trader
  • William Eckhardt: The Mathematician
  • Monroe Trout: The Best Return That Low Risk Can Buy
  • Al Weiss: The Human Chart Encyclopaedia
  • Stanley Druckenmiller: The Art of Top-Down Investing
  • Richard Driehaus: The Art of Bottom-Up Investing
  • Gil Blake: The Master of Consistency
  • Victor Sperandeo: Markets Grow Old Too
  • Tom Basso: Mr. Serenity
  • Linda Bradford Raschke: Reading the Music of the Markets
  • Mark Ritchie: God in the Pits
  • Joe Richie: The Intuitive Theoretician
  • Blair Hull: Getting the Edge
  • Jeff Yass: The Mathematician of Strategy
  • Charles Faulkner: The Mind of an Achiever
  • Robert Krausz: The Role of the Subconscious

The Stock Market Wizards:
Interviews with America’s Top Stock Traders (2001)

  • Stuart Walton: Back from the Abyss
  • Michael Lauer: The Wisdom of Value, the Folly of Fad
  • Steve Watson: Dialling for Dollars
  • Dana Galante: Against the Current
  • Mark D. Cook: Harvesting S&P Profits
  • Alphonse »Buddy« Fletcher Jr.: Win-Win Investing
  • Ahmet Okumus: From Istanbul to Wall Street Bull
  • Mark Minervini: Stock Around the Clock
  • Steve Lescarbeau: The Ultimate Trading System
  • Michael Masters: Swimming Through the Markets
  • John Bender: Questioning the Obvious
  • Claudio Guazzoni: Eliminating the Downside
  • David Shaw: The Quantitative Edge
  • Steve Cohen: The Trading Room
  • Arik Kiev, M.D.: The Mind of a Winner (wieder ein Psychologe)

Hedge Fund Market Wizards:
How Winning Traders Win (2012)

  • Colm O’Shea: Knowing When It’s Raining
  • Ray Dalio: The Man Who Loves Mistakes
  • Larry Benedict: Beyond Three Strikes
  • Scott Ramsey: Low-Risk Futures Trader
  • Jaffray Woodriff: The Third Way
  • Edward Thorp: The Innovator
  • Jamie Mai: Seeking Asymmetry
  • Michael Platt: The Art and Science of Risk Control
  • Steve Clark: Do More of What Works and Less of What Doesn’t
  • Martin Taylor: The Tsar Has No Cloths
  • Tom Claugus: A Change of Plans
  • Joe Vidich: Harvesting Losses
  • Kevin Daly: Who Is Warren Buffett?
  • Jimmy Balodimas: Stepping in Front of Freight Trains
  • Joel Greenblatt: The Magic Formula

 


Abenteuer mit Koni

Moskau, 10. Juli 2017, 21:59 | von Josik

Wir hatten uns an der Metrostation Baumanskaja mit Baumanski verabredet, dessen Nom de guerre ja von eben jenem revolutionären Bauman inspiriert ist, nach dem hier im Moskauer Osten viele Dinge benannt sind, etwa auch der Bauman-Garten, und in den gingen wir dann. Baumanski war ziemlich überrascht, dort einen Basler Springbrunnen vorzufinden, den die Stadt Basel den Moskauern geschenkt hatte. Dann aber, wie immer wenn man sich mit Baumanski trifft, kam die Rede irgendwie wieder ziemlich schnell auf Koni und auf die Frage, ob man ein literaturwissenschaftliches Instrumentarium entwickeln könnte, das die literarische Qualität von Schriftstellern direkt proportional zu ihrer persönlichen Hundeliebe misst. Der Gedankengang ist so:

Putins (1999 geborene und 2014 verstorbene) Hündin hieß Koni. Im Februar 2004 schenkte Putin dann dem damaligen österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil und seiner Gattin Margot Klestil-Löffler zwei von Konis Kindern, nämlich Olga und Orchidea. Völkerverständigung at her best! Margot Klestil-Löfflers Landsfrau Elfriede Jelinek veröffentlichte auf ihrer Homepage zwei schöne Texte über ihre (am 17. Juni 2006 verstorbene) Hündin Floppy. Karl Kraus schreibt in der Fackel Nr. 376 auf Seite 25: »Woodie, ein kleiner Hund mit langen Haaren, den ich persönlich gekannt habe, er lachte, wenn die Menschen zu ihm sprachen, und weinte, weil er mit ihnen nicht sprechen konnte, und sein Blick war für sich und sie der Dank der Kreatur: ist von einem Automobil getötet worden.« In der Fackel Nr. 454 auf Seite 63 veröffentlicht Karl Kraus das berühmte Gedicht: »Als Bobby starb (22. Februar 1917)«, das mit den Worten beginnt: »Der große Hund ist tot.« In Kraus’ letztem Lebensjahr war sein Lieblingshund Rover, ein schwarzer Neufundländer, den er Sidonie Nádherný geschenkt hat (Rover, Sandy, Flock und Pyri waren ein »Hundeviergespann«). 1991 erschien bei de Gruyter eine Studie mit dem Untertitel »Zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen«. Auch die Hundeliebe Schopenhauers, des bedeutendsten philosophischen Literaten aller Zeiten, ist sprichwörtlich. Friedrich Theodor Vischer hat den Hunden in seiner 600-seitigen Novelle »Auch Einer« ein Denkmal gesetzt. Salomon Maimon brachte seine Lieblingshündin Belline in die Berliner Salons mit und wollte ihr seine Bibliothek vermachen. Praktisch alle der erwähnten Personen sind superste Schriftsteller, und sie alle zeichnen sich durch ihre Hundeliebe aus – aber wie bringt man das theoretisch zusammen?

Darüber diskutierten wir endlos, und über dieser Diskussion waren wir mittlerweile aus dem Bauman-Garten heraus- und vor dem Club-Café Koni in der Novaya Basmannaya angekommen, das nur einen Knochenwurf entfernt liegt. Das Club-Café Koni war allerdings nicht nach Putins verstorbener Labradorhündin benannt, sondern nach dem Juristen Anatolij Fjodorowitsch Koni, der selber ein großer Hundefreund war, wie man gut an dem Foto sehen kann, das in Sergej Vysockijs Koni-Biografie aus dem Jahr 1988 zwischen den Seiten 64 und 65 abgebildet ist und auf dem Koni sich zusammen mit dem Hund Mirsa hat ablichten lassen. Leider hatte das Club-Café Koni geschlossen.

Man konnte aber durch die Fensterscheiben des Club-Cafés Koni kucken und erkennen, dass es innen sehr gut aussah, auf einem der Tische stand sogar eine noch nicht vollständig ausgelöffelte Tasse Tee. Wir aßen schnell woanders zu Mittag, und zwar auf der Terrasse eines nahen ukrainischen Restaurants. Und fuhren dann schließlich mit einem Yandex-Taxi zum weltweit einzigen Koni-Denkmal, vor der soziologischen Fakultät der Lomonossow-Universität.

Wir ließen das Taxi etwas zu früh halten, um der grässlichen russischen Popmusik zu entfliehen, die im Taxi lief und die gefährliche Ohrwurmqualitäten hatte. In einem Fußgängertunnel kauften wir ein paar frische Erdbeeren und aßen sie alle auf, während wir in die Richtung gingen, wo wir das Koni-Denkmal vermuteten, bis wir plötzlich da waren. Koni wurde in seinem Denkmal allerdings ohne Hund gebildhauert (dafür aber mit einem Gesetzbuch).

So verging dieser herrliche Tag, mein letzter vor der Rückreise nach München. Am nächsten Vormittag gab’s noch Frühstück bei Paco zuhause, und weil Paco zum Frühstück immer leise Ö1 hört, hörte auch ich leise Ö1 mit. Unmittelbar nachdem Paco das Internetradio angeknipst hatte, hörten wir als erstes einen merkwürdigen Satz, der ungefähr wie folgt lautete: »Ich finde Bürgerkrieg gut.« Ich nahm mir vor, zuhause noch mal nachzuhören, worum es hier eigentlich ging, habe das dann aber natürlich nicht getan.

Paco bestellte mir ein Yandex-Taxi, das mich zum Edward-Snowden-Flughafen Scheremetjewo bringen sollte. Fünf Minuten später stand das Taxi vor der Tür. Der Taxifahrer war anfangs leicht überfordert und meinte, er sei bisher noch nie nach Scheremetjewo gefahren, dafür brauche man eigentlich erfahrene Chauffeure, aber er habe die Anfrage ja nicht ablehnen können. Ich sagte in bestem Merkel-Russisch: »Успеем« (»Wir schaffen das«), da war er irgendwie beruhigt. Er fragte mich, ob ich Radiomusik wünsche, ich sagte: »Как хотите« (»Wie Sie mögen«). Er sagte, er möge lieber Ruhe, also lauschten wir weder schlimmem russischem Ohrwurmpop noch Ö1, womit ich als Bürgerkriegsgegner sehr einverstanden war, ich finde Bürgerkrieg nämlich wirklich nicht gut.
 


Book-Release-Party »Abenteuer im Kaffeehaus«, Setlist und Fotoreportage

Moskau, 21. April 2017, 09:47 | von Paco

Der Band ist am 24. März raus, die Book-Release-Lesung war am selben Tag, Leipziger Buchmesse:

Leipziger Lesung 'Abenteuer im Kaffeehaus', 24. März 2017

San Andi hat dazu eine kleine Fotoreportage gedreht, die man sich hier anschauen kann.

Die Setlist war wie folgt (die Seitenzahlen beziehen sich natürlich, sofern nicht anders angegeben, auf das Buch):

  • Dique: Die FAS und die Tauben, S. 46–48 (3:30 min.)
  • Dique: Im Apsley House, S. 141/142 (2:30 min.)
  • Paco: Christa Wolf und Leo Perutz, S. 152–154 (3 min.)
  • Paco (als Perutz-Zugabe): Mario Perutz, S. 178 (0:30 min.)
  • Dique: Turandot und die Sitznachbarin des Grauens, S. 155–157 (3 min.)
  • Paco: Die »Süddeutsche« vom 13./14. Februar 2010, S. 179–181 (4 min.)
  • Dique: Die Sportteil-Aussortierung, S. 193–195 (5 min.)
  • Paco: Nougattorte, Wirtschaftsteil, Runge, S. 203–205 (4 min.)
  • Dique: Der tausendste Buchladen, S. 215–218 (5 min.)
  • Paco: Einsteins Briefe, S. 151 (1 min.)
  • Dique: »Grete Minde«, S. 214 (2 min.)
  • Paco: MRR in der FAS, S. 227 (1 min.)
  • Dique: Café Fraunhuber, S. 228 (1 min.)
  • Dique: Room 59, der Saal des Gurkenmalers, S. 225/226 (2:30 min.)
  • Paco: Auszug aus der Master-Thesis von Maja Hoock (PDF), S. 59–62 (3 min.)
  • Briefwechsel mit Woodard mit verteilten Rollen, S. 278–281 (2:30 min.)
  • Dique: »Spiegel« lesen in Detroit, S. 273–276 (7 min.)

»Abenteuer im Kaffeehaus« ist gleichzeitig auch Band 1 unserer bei Ille & Riemer erscheinenden Reihe »Schriften des Umblätterers«, und nun machen wir uns mal an Band 2, bis später.
 


Am 24. März 2017 erscheint:
»Abenteuer im Kaffeehaus«

Leipzig, 19. März 2017, 18:45 | von Paco

In ein paar Tagen erscheint als erster Band der Reihe »Schriften des Umblätterers« beim Leipziger Verlag Ille & Riemer:

Abenteuer im Kaffeehaus (Cover)

 
André Seelmann (Dique)

Abenteuer im Kaffeehaus

Feuilletons aus dem Umblätterer
2007–2015

Mit einem Vorwort von Frank Fischer

Hrsg. von Frank Fischer, Andreas Vogel und Joseph Wälzholz

Im Anhang enthalten ist ein Briefwechsel mit David Woodard

Leipzig · Ille & Riemer · 2017
281 Seiten · 15,– €
ISBN 978-3-95420-018-4

Bestellen: Verlag | lehmanns.de | Amazon

 
Klappentext

Die wichtigsten Dinge der letzten zehn Jahre: »Spiegel« lesen und »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«. In Museen gehen, amerikanische TV-Serien schauen, das Gesamtwerk von Leo Perutz überdenken. Zwischendurch immer wieder ins Kaffeehaus, um ein bisschen was davon zu besprechen. Und damit alles schön ungenau bleibt, lieber rasch einen pindarischen Sprung zum nächsten Thema.

André Seelmann, geb. 1971 in Leipzig, war zwischen 2007 und 2015 Korrespondent des Kultur- und Freizeitjournals »Der Umblätterer« und berichtete aus London, Hamburg, Barcelona und São Paulo. Der vorliegende Band »Abenteuer im Kaffeehaus«, der seine Texte aus dieser Zeit versammelt, eröffnet die Reihe »Schriften des Umblätterers«.

 
Niemand erzählt so vom Feuilleton dieser Jahre wie der »Umblätterer«.
— Florian Kessler

 
Inhalt

Vorwort: Die Ungenauigkeit von Kaffeehausgesprächen … S. 7–11
Abenteuer im Kaffeehaus … S. 13–276
Anhang: Briefwechsel mit David Woodard … S. 278–281

 
Leseprobe und Cover

 
Book-Release-Lesung am 24. März 2017

Falls jemand zur Buchmesse oder einfach so in Leipzig ist und sich die Book-Release-Lesung anschauen möchte: Die findet am Freitag, 24. März, um 20:00 im schönen Kulturcafé Rumpelkammer statt (Dresdner Straße 25, 04103 Leipzig). Weitere Informationen bei Facebook und »Leipzig liest«.
 


Derrida

Lille, 15. September 2016, 22:44 | von Niwoabyl

Wie schon erwähnt lese ich gerade »Für immer in Honig« und habe eben Seite 600 erreicht. Vor zwei, drei Tagen war ich bei einem Kapitel angekommen, in dem zwei »Denker« vorkommen, und zwar tragen sie die Vornamen Jacques und Jürgen. Hahaha! (So hervorragend und empfehlenswert es ist, klingt »FiiH« leider ab und zu ein bisschen nach Jugendwerk, Dath kann oft nicht einfach aufhören, wenn’s gut und witzig ist, sondern muss immer wieder eins drauflegen, und dann kommt irgendwas Plumpes gegen Postmoderne und so.)

Das hat mich dann an Horzon erinnert, bei dem Derrida ja auch eine prominente Rolle spielt, direkt im ersten Kapitel vom »Weissen Buch«, als Haupterlebnis seiner Pariser Zeit (als PDF auf suhrkamp.de, S. 11–13). Und damit dachte ich dann wiederum sofort an Gespräche mit Österreichern, denen ich erklären musste, dass ich ja wirklich Franzose bin, aber mit Derrida nichts anfangen kann, und sie sagten, wie ist das möglich.

Da fiel mir auf: Ich habe eigentlich bislang überhaupt nur mit Deutschen und Österreichern über Derrida geredet (d. h., eigentlich sie von Derrida erzählen hören), und einmal vielleicht noch mit Amerikanern, aber auf jeden Fall nie mit Franzosen. Ich glaube, mein einziges Derrida-Gespräch auf Französisch fand 2003 statt, ich war gerade eben nach Paris gewechselt, als mir jemand erzählte, im Telefonbuch der ENSianer stehe Derridas private Telefonnummer (was auch stimmte, allerdings unter seinem bürgerlichen Namen Jackie Derrida). Sonst ging es irgendwie nie um ihn.

Als junge Studenten unterhielten wir uns über Foucault, wir lasen Deleuze und zitierten ihn nächtelang, wir führten Debatten über Strukturalismus in seiner Softcore- (Barthes) wie in seiner Hardcore-Prägung (Lévi-Strauss). Die ganz Philosophischen entdeckten auch Wittgenstein und Quine und die Sprachphilosophie für sich, die weniger Philosophischen versuchten es halt mit den politischen Autoren, alle mussten irgendwie für oder gegen Bourdieu sein. Wir waren also im Kopf Zeitgenossen unserer Lehrer.

Aber die eigentliche Postmoderne, Derrida und Lyotard, fand bei uns einfach nicht statt. Der vielleicht größte Star der Clique, der in Deutschland und den USA andauernd zitierte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Niemand las das oder wollte das lesen, das war kein Thema und gehörte schlicht und ergreifend nicht zum Kanon. Schwierigkeit könnte natürlich ein Grund sein, aber irgendwie auch nicht, denn einige – ich nicht – waren durchaus auch auf dem Weg zur Lacan-Kennerschaft, und unleserlicher kann selbst Derrida eigentlich nicht sein.
 


Kele hat’ta Chrigu Krachtu plikel be-reshta

Moskau, 13. September 2016, 21:07 | von Paco

Mugza ber nepo la kentop su »Keleges« (»Die Toten«) bo seren’ta plen. Bus kulta nasrat nu ponteve set. Rag set. De viul ger sot ande filmos benuk.

Bulko ter sa kramlon ta mer pantrele, ospe bo la sinita plesizte coto locandat. Ter set jolirandra ulkem bo ger rantislit balurpo maxim. Kontrek pan de bo sintra na Carli Caplin’a plek. Ek ter ma lutrente fil ta gruro, ra kelek’te sunam.

Aiar ga anga’a sausa ne uts ga rag matahuk anak, gua nepe iang euna. Lukant elt lemor ha Suis reisor at sufta, bundel kand ne ruga niponta surkan. Ku saga, rag set nir. Eun laftan, ta mer runanda gat set ne kauna nah kans.

In letertara runan kiast’ta calftun gia upa su gagang. Dua hurniang Krachte avtor’la aiar ana kaniang iang ratlaks. Nur lu sa Suisa go, Emile Nagelu, bo la ne film’te anakati tung un gautsa, aiat lest ta’ha gagang.

Dede sinunt ilel be-sapta, lelisedir dida saus teatir su no, kan geisu lar ufas ne haleir nal sinit mesher. Run meriro lehek ha »daia tudal« mene, se hu keset naid ner bish farait’ta. Eru wais kaniang shu nunta ne sabere nik on »Keleges«, lo han ma balat ter sa muhat. Su oste ner mahat bo teatir vi letertur sehek, ra sohot ne lemora serfi kans.
 


Gruß aus Wien

Wien, 12. April 2016, 14:19 | von Niwoabyl

Ich sitze nämlich gerade im vierten Ausstellungsraum des nagelneuen Literaturmuseums im Grillparzerhaus. Schöner und reicher ist wohl kein Literaturhaus auf der Welt. Diese Räumlichkeiten sind eine Hymne an die Schriftkultur österreichisch-größenwahnsinnigsten Ausmaßes.

Ich sitze da ganz allein und verlassen, als einziger Besucher tief in der Höhle, von Raum zu Raum gejagt von gefühlt zwanzig älteren, steifen, wienerisch vor sich hin murmelnden Museumswärtern, faszinierend.

In einer Vitrine mir gegenüber sind versammelt: ein Krauthobel aus dem Nachlass von Adalbert Stifter, der Selbstmordrevolver von Ferdinand von Saar, Ernst Jandls Metronom, Peter Handkes Maultrommel, Lernet-Holenias Springschnur und Doderers Morgenmantel.

Und dann das Original eines handschriftlichen Fanbriefs von Ian Fleming an Leo Perutz!
 


Die neuen Feuilletons

Berlin, 7. November 2015, 09:55 | von Paco

Wir kamen natürlich grad aus dem Fitnessstudio und sprangen endlich wieder auf allen Satellitenbildern als pulsierende Punkte durch Neukölln. Gleich im nächstbesten Laden tranken wir ein salziges Lassi und da fiel uns ein, dass wir ja in die »Merkur«-Redaktion eingeladen waren. Das hatte spontan der Untote Ostgote vermittelt, also rein in die Ringbahn und ab nach Charlottenburg.

Man schrieb Mittwoch, es war der Tag, an dem in der »Süddeutschen« eine Rezension zu Alban Nikolai Herbsts »Traumschiff«-Roman erschienen war. Wie gebannt hatte ich nicht die Rezension selber gelesen, sondern alles, was ANH dazu zu kommentieren hatte. Sein praktisch tägliches Arbeitsjournal ist mit das Beste, was zur Zeit an deutscher Literatur entsteht, aber das weiß jetzt logischerweise noch niemand.

Auch ich hatte das Journal die letzten paar Jahre etwas aus den Augen verloren, bis ich neulich die schöne Dissertation von Innokentij Kreknin komplett durchlas, »Poetiken des Selbst«, wo es neben Rainald Goetz und Joachim Lottmann auch um ANH und sein Weblog »Die Dschungel« geht.

Der schönste Satz zum zweiten der genannten Autoren steht übrigens auf Seite 5 der Dissertation und lautet: »Zu Joachim Lottmann existiert außer einem Aufsatz von Heinz Drügh überhaupt keine nennenswerte Forschungsliteratur.« (siehe Google Books) Na gut, die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten zu Lottmann hat sich durch Kreknin nun auf zwei erhöht, Tendenz steigend.

Wir waren jetzt doch zu früh dran, spazierten ultralangsam um den Lietzensee herum, und genauso ultralangsam verging die Zeit, weswegen wir noch kurz ins Café Manstein hineingingen. Da gibt es auch Zeitungen, ich las dann in der SZ doch noch die Originalkritik zu ANHs »Traumschiff«, geschrieben hat sie Insa Wilke, aha, nicht schlecht, wirklich nicht schlecht.

Nun war es aber Zeit, ein 15-minütiger Spaziergang lag noch vor uns, und wir passierten dabei auch die Suarezstraße. Ohne es schon zu wissen (»little did we know«), gab der Straßenname dann gleich ein Thema unseres Treffens vor. Nach einer kleinen Privatführung durch die urschöne »Merkur«-Redaktion gingen wir zusammen mit Christian Demand und Ekkehard Knörer rüber ins Haus der hundert Biere und um uns herum saßen an jedem anderen Tisch die sprichwörtlichen Drei Damen vom Grill, so ist das hier und so ist es exakt gut. Und irgendwann kamen wir nämlich auf Suárez zu sprechen, und zwar auf Luis, und zwar auf den 2. Juli 2010 und die letzte Spielsekunde im WM-Viertelfinale, diese weltgeschichtliche Szene voller Drastik und Spannung, dieses Brennglas ethischer Kernfragen des menschlichen Daseins.

Dann ging es noch um das neue Feuilleton der NZZ, das neue Feuilleton der FAZ und überhaupt die neuen Feuilletons aller anderen Zeitungen, und es war einfach ein sehr herrliches Treffen, und besonders mit @knoerer verbindet uns ja ein gegenseitiges Gutfinden, das auf immer komplett gegenteiligen Meinungen beruht, außer eben, wenn es um die Suáreztat geht, denn da herrschte schon stets triste Einmütigkeit.

Später waren wir wieder allein unterwegs nach Kreuzberg und trafen noch Marcuccio im internationalen Restaurant Kuchenkaiser. Die besten Anekdoten der Frankfurter Buchmesse machten noch mal die Runde, Essen und Trinken wurde gereicht, wir bestätigten uns noch mal, wie gut wir alle die erste Sendung des neuen »Literarischen Quartetts« fanden usw. usw., und dann war es Zeit zu gehen und wir verabredeten uns für den nächsten Tag wieder im Fitnessstudio, denn dort ist es doch immer so absolut super.
 


Dr. Fellinger antwortet

München, 15. Oktober 2015, 14:49 | von Josik

Es war damals am 18. März 2013 um Peter Handke gegangen. Sein »Versuch über den Stillen Ort« (2012) war in der Reihe zu 100-Seiten-Büchern hier im Umblätterer besprochen worden. Als Erklärung zu den auffälligen Diskrepanzen zwischen Handkehandschrift und Handkedrucktext hatten wir uns erhofft:

»Vielleicht wird Herr Dr. Fellinger oder wer auch immer einmal dazu Stellung nehmen müssen, wie es zu solchen Inkohärenzen kommen konnte.«

Dann verging das Jahr 2013, das Jahr 2014 kam und verging ebenfalls, und dann war es 2015, erst Januar, dann Februar, und noch weitere Monate kamen, aber dann plötzlich, um mit Christian Kracht zu sprechen: »Es war September. Ein Falter hatte sich auf mein Augenlid gesetzt. Er hatte sich in die Bewegung der Wimpern verliebt. Zeitgleich mit dem Öffnen und Schließen des Auges schlug er seine Flügel.«

Und ebenfalls im September, also quasi zeitgleich mit dem Flügelschlag des Kracht’schen Schmetterlings und nur zweieinhalb Jahre nach unserer verunsicherten Handkelektüre, reagierte eben jener Herr Dr. Fellinger auf diese nach wie vor aktuelle Verunsicherung. Es stand im Suhrkamp-Blog »Logbuch. Deutschsprachige Literatur heute« und ging so:

»Es gibt Passagen in den faksimilierten Seiten, die, mit leichten Änderungen, in die Buchfassung übernommen werden – […] Erst durch Umstellungen, Weglassen und Hinzufügen des im Notizbuch Festgehaltenen entstehen die einzelnen Sätze und deren Aufeinanderfolge im gedruckten Text […] Dabei vollzog sich die Transposition […] – allerdings, das macht die entscheidende Differenz der Druckfassung aus, unter Rückgriff auf Erinnerungen/Erfahrungen/Eindrücke, die sich einstellten im ›Abenteuer, im Tun/Schreiben‹ (so [Handke]), also während der Niederschrift, sowie unter Rückgriff auf die mit dem Buchprojekt teilweise viele Jahre vorher verbundenen Buch-Phantasien.«

Als stetig Antwortsuchende, als Handke-Adepten, als Fellinger-Fans könnten wir nicht dankbarer sein. Das »Logbuch« sollte man eh immer lesen, Handke sowieso, und wo bleibt eigentlich der nächste Teil des »Blauen Montags«, der zurzeit wohl besten Youtube-Sendung überhaupt?
 


Jakob Augsteins Baukasten

Berlin, 11. Juni 2015, 13:03 | von Josik

 
(Artikelupdate um 20:36 Uhr, siehe unten.)
 

Für die Workshopteilnehmer und sowieso auch für die Fans veröffentlichen wir heute unser A2-Poster A1-Poster »Jakob Augsteins Baukasten« (PDF, 166 kB; gesetzt mit LaTeX, Quellcode auf Anfrage):

Jakob Augsteins Baukasten (Poster, Vorschau)

Wir setzen damit auch die entsprechende Berichterstattung fort, die bisher so verlief:

Wir mussten für das Poster zuletzt von A3- auf A2-Format A1-Format umschwenken, denn es sind zwei drei neue Texte dazugekommen, die Augsteins Baukastenprinzip noch mal neu illustrieren. Die wie immer wertungsfreie Analyse hat dann auch gleich einige Dinge zutage gefördert. Nehmen wir mal das Wort »Beleidung« (statt »Beleidigung«) im Vorwort zum gerade erschienenen Schirrmacher-Sammelband »Ungeheuerliche Neuigkeiten«. Dieser Tippfehler könnte eventuell anzeigen, dass Augstein nicht einfach copy&paste mit seinen alten Texten macht, sondern die Sachen offenbar tatsächlich alle noch mal neu auf Grundlage vorhandener Fixierungen seiner Gedanken zusammenstellt, und das ist doch schon mal interessant.

Aber gut, hier noch mal die genauen Quellenangaben zu den sechs sieben der Analyse zugrunde liegenden Augstein-Texten:

  • Jakob Augstein: Ein Mann ohne Komplex. In: Die Zeit, 2. 3. 2006, S. 59. [link]
  • Jakob Augstein: Frank Schirrmacher – Der Aufreger. In: Stephan Weichert / Christian Zabel (Hrsg.): Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im Porträt. Köln: Herbert von Halem Verlag 2007, S. 324–330. [link]
  • Jakob Augstein: Mein Hirn gehört mir. In: Welt am Sonntag, 7. 2. 2010, S. 55. [link]
  • Jakob Augstein: Wir töten, was wir lieben. In: der Freitag, 16. 8. 2012, S. 3. [link]
  • Jakob Augstein: »Es gibt keinen anderen wie ihn«. In: Der Spiegel, 16. 6. 2014, S. 114–115. [link]
  • Jakob Augstein: Vorwort. In: Frank Schirrmacher: Ungeheuerliche Neuigkeiten. Texte aus den Jahren 1990 bis 2014. Herausgegeben von Jakob Augstein. München: Blessing Verlag 2015, S. 9–14. [link]
  • Jakob Augstein: Alpha und Ende. In: Der Spiegel, 6. 6. 2015, S. 17. [link]

Soderla, nach dem Ende unserer Raddatz-Berichterstattung nun also auch endlich das Ende unserer Augstein-Berichterstattung, macht’s gut.

 
<Update when="20:36 Uhr">
Siehe da, wir haben grad beim Zitatecheck noch weitere Legoteilchen gefunden, nämlich in Augsteins Schirrmacher-Artikel aus der »Welt am Sonntag« vom 7. Februar 2010. Es ist für uns etwas peinlich, dass uns das jetzt erst auffällt, denn wir hatten diesen Text damals, anlässlich der Verleihung des 6. Goldenen Maulwurfs, zu einem der Top-Ten-Artikel des Feuilletonjahres 2010 gekürt, und der Artikel ist ja auch nach wie vor sehr gut zu lesen. Jedenfalls, wir mussten in unser Poster nun eine weitere Spalte einziehen und das Format noch mal, von A2 auf A1, vergrößern. Das PDF ist also nun aktualisiert.
</Update>