F wie Fräuleinwunder

Davos, 30. Dezember 2010, 13:02 | von Marcuccio

Unvergessen die Seite 245 des »Spiegels« Nr. 12/1999, auf der Volker Hage beiläufig vom »literarischen Fräuleinwunder« sprach, um ein paar Neuerscheinungen einzutüten. Was ja dann einiges zur Folge hatte. Davon handelt heute in aller Kürze die neue Episode von »Sprechen Sie Feuilleton?«, drüben in der »Welt«.

Mittlerweile ist die Prägung historisch und hat bereits eine atemberau­bende Karriere in der literaturwissenschaftlichen »Forchung« (Harald Schmidt) hingelegt, wie man schon anhand der Treffer bei Google Books sehen kann. Usw. usw.

Grüße aus dem Skilift,
M.
 

Regionalzeitung (Teil 40)

Leipzig, 28. Dezember 2010, 19:34 | von Paco

 
  196.   in den Wirren der Nachkriegszeit

  197.   machte ihr das Leben einen Strich durch die Rechnung

  198.   eine Erfolgsgeschichte

  199.   man darf gespannt sein

  200.   das galt damals wie heute
 

rebell.tv …

Konstanz, 23. Dezember 2010, 17:18 | von Marcuccio

… ist ja mit dem Jahreswechsel Geschichte. Gerade hat Tina Piazzi das auch per Rundschreiben verkündet:

»Am 31.12.2010 nehmen wir rebell.tv vom Netzt und präsentieren eine neue, konstellatorische Homepage auf den bisher bekannten Adressen und natürlich auch auf http://dfdu.org. Die über 3000 Video-Schnipsel, die rund 500 Podcasts werden online nicht mehr verfügbar sein. Die fast 16'000 Einträge und Hyperlinks im Zettel­kasten (Blog) gehen verloren. Die multimedialen, interaktiven Magazine bleiben online, die Wochenkommentare von Hanspeter Spörri mit den Werte- und Entwicklungsquadraten sind in Band 1 von ›Die Form der Unruhe‹ dokumentiert.«

Als atemberaubende Alternative zum Feiertags-Fernsehen empfehlen wir bis Silvester (und eben nur bis Silvester) 12 Lieblingsmomente von rebell.tv. D!a!n!k!e!, SMS, dafür:

1. In der Krypta des Cabaret Voltaire. Christoph Schlingensief holt bei seiner Mom telefonische Auskünfte über den Dadaismus ein: (27.10.2009)

Screenshot von rebell.tv


2. SMS bei Matussek im Büro. Der schaut rebell.tv: (31.8.2007)

Screenshot von rebell.tv

M.M.: Und Sie machen die Seite ganz alleine oder was?
SMS: Logo. Ich mach nichts anderes!
 

3. Henryk M. Broder signiert Bücher und prahlt damit, wie viele Kaffeehäuser von Zürich er schon durch hat: (29.10.2006)

Screenshot von rebell.tv


4. SMS auf Schneetour zum Herrnhuter Stern: (12.3.2006)

Screenshot von rebell.tv


5. SMS auf der Zoo Art Fair in London: »Joseph Beuys‘ Nightmare«. Allein schon wegen der Geigen-Sirenen: (03.11.2008)

Screenshot von rebell.tv

Im Urteil der NZZ »so ›trashig‹ wie ein unbeholfenes Ferienvideo und gleichzeitig so haargenau geschnitten und montiert, wie es sich für ein subversives Werk gehört«.
 

6. SMS als Anchorman der 10-Uhr-Nachrichten. Höhepunkt in dieser Folge ist die Verlesung des »Spiegel«-Gesprächs zwischen Safranski und Matussek und die unbändige Freude über bestimmte Formulierungen darin: (3.9.2007)

Screenshot von rebell.tv


7. Hermann Nitsch als Maskottchen von rebell.tv (»der mit den Augen klappt«): (12.7.2007)

Screenshot von rebell.tv


8. Bazon Brock besucht die Sendezentrale von rebell.tv: (15.7.2009)

Screenshot von rebell.tv


9. Käte Ledig-Schön zu SMS: »Machen Sie auch Kunst? Oder nur Fernsehen?« (20.5.2006)

Screenshot von rebell.tv


10. SMS als Field Correspondent für »Rocketboom«. Nach 1:50 Minuten wird zu SMS geschaltet. Der hat eine Frage an Riz Khan von Al Jazeera: »What could we learn right now from the Arabic World?« (17.1.2010)

Screenshot von rebell.tv

(Direktlink zu YouTube.)
 

11. Ein Tagtraum in der U-Bahn: »Nächste Station: Neukölln«. (3.2.2009)

Screenshot von rebell.tv


12. Anstiftung zur Rebellion: »Get off your shoes«. (28.12.2008)

Screenshot von rebell.tv


Und der Abspann für die Ewigkeit:

»Im Namen des Ärgers, der Wut und
des heiligen Zorns. Gehet hin in Unruhe!«

 
(Die Links hier dürften also ab dem 1. Januar alle tot sein, außer Nr. 10. Die Screenshots bringen wir mit freundlicher Genehmigung des Urhebers. Und den aus der Seitenleiste herauszwinkernden Hermann Nitsch haben wir hier archiviert [GIF, 363 kB].)
 

R wie Rezept

Konstanz, 23. Dezember 2010, 11:50 | von Marcuccio

Wieder ein altes UMBL-Thema: kulinarische Literaturkritik. Über Lucía Etxebarria und weitere Geheimnisse der Feuilletonküche steht heute was im »Welt«-Kochbuch unter R wie Rezept.

Und gleich kommt dann hier noch eine Sammlung von Lieblingsschnip­seln aus 1000 Jahren rebell.tv, das sich ja zu Silvester abschalten wird. »Noch 9 Tage«, es eilt also, bis gleich
 

Die Erschütterung!
Stefan George und Julian Assange

Stanford, 21. Dezember 2010, 09:42 | von Srifo

Wer würde da stundenlang auf Julian Assange warten? Darauf, dass er im Park von Ellingham Hall in Norfolk mit Fußfessel samt elektroni­scher Kugel vorbeischlendert? In etwa so, um uns gleich mal in Schieflage zu begeben, wie Walter Benjamin 1921 im Park des Heidelberger Schlosses auf den schon früh gebrechlichen Stefan George samt Spazierstock gewartet hat. Und das nur, um ihn zu sehen.

Was beide gemein haben – George und Assange –, liegt dabei sofort auf der Hand. Zunächst einen Kreis eingeschworener Mitarbeiter, in dem sie unmissverständlich das Führungszentrum einnehmen. Dann ständiges Reisen, Couchsurfing bei Freunden und gleichzeitiges Arbeiten.

Dann eine virulente Jugendzeit im Kontakt mit dem Zeitgeist – Assange 1987 das erste Mal als Hacker ›Mendax‹, George das erste Mal 1889 als »un de ces mardis«, abends bei Mallarmé. Schließlich verbindet sie, und das ist es ja eben, dass beider Interesse etwas Höherem gilt, etwas nur schriftlich zu Vermittelndem, dessen Richtigkeit beide überzeugend auftreten und zur Tat schreiten lässt.

Zurück zur Auftaktfrage: Wer also, wo doch die Tat und nicht die Person zählt, wer würde da auf Assange warten? Wer würde nicht einfach zuhause bleiben und Wikileaks lesen, sondern müsste hinschauen, wie der Meister sich nähert und was trinkt? Assange einen Kaffee aus der Frontline-Club-Tasse, George Eiswein aus dem Silberbecher. Benjamin gibt den Hinweis: Der schon »Erschütterte« kann nicht anders als warten und hinsehen.

»… Im Bewußtsein, daß ein solcher Versuch nie und nimmer gelingen könnte, bemühe ich mich, desto genauer mir zu vergegenwärtigen, wie George in mein Leben hineinwirkte. Voranzuschicken ist dies: Er tat es niemals in seiner Person. Wohl habe ich ihn gesehen … Stunden waren mir nicht zu viel, … lesend, auf einer Bank, den Augenblick zu erwarten, da er vorbeikommen sollte. … Doch das war alles zu einer Zeit, da die entscheidende Erschütterung seines Werkes mich längst erreicht hatte.« (Über Stefan George, 1928, GS II/2, S. 622f.)

Hat die heimische Wikileakslektüre die Journalisten noch nicht genug erschüttert, die da der Person Assange im dezembrig totgesagten Park ihre Aufwartung machen? Eventuell nicht genug, denn wieso sollten sie sonst auf Assange warten und Zeugen des Meisters werden? – Um Neues von seinem leckschlagenden Kreis zu erfahren, hätten sie ja im Warmen lesen können.

Oder andersherum: Trotz Georges unvergleichlicher »Anonymität bei Weltberühmtheit«, wie Ludwig Marcuse 1928 Georges medienabsti­nentes Bild in der »Kölnischen Zeitung« begreift, war Benjamin einfach neugierig und hat ihn sehen müssen. Wäre er da in unserem, um Frank Rieger aus der FAZ zu zitieren, »Zeitalter der Geheimnislosigkeit« einem so öffentlichen Meister wie Assange nicht folglich fern geblieben? Warum also warten? Oder besser: Worauf also warten?

Bei George – »Komm … und schau« – ging man in den Park und hing ab (damals gab es noch ein intransitives ›schauen‹, später ja erst wieder in »Tristesse Royale«). Laut Benjamin bekam man dort aber nicht »von Birken und von Buchs« die Erschütterung, sondern irgendwie vom Lesen. Den Meister zu sehen ist nur Ornament. Entsprechend versorgt Assange heute per iPhone im Park, mit den ›Cables‹ als »Schimmer ferner lächelnder Gestade«.

Wie immer man es chiffriert, es muss die Erschütterung sein, auf die der Schreiber lesend zu warten hat. Irrelevant, ob er sie in den nummerierten Oktavbändchen mit Goldschnitt oder aus den PDFs der Allgegenwärtigkeit schaut. Aber die theoría wird nicht mehr sosehr übers Wort genommen, heute zählt für die Erschütterung scheinbar umso mehr, dass man weiß, derjenige ist anwesend, aus dessen Texten die Erschütterung lecken soll. So eine Art Zwangsbeaufsichti­gung des Autors über den Leser, nicht umgekehrt, wie eben bei Benjamin.

Usw.
 

Drei Feuilletons, zwei Holbeins, eine Passion

Konstanz, 20. Dezember 2010, 07:26 | von Marcuccio

Stuttgart! Holbein-Ausstellung! Graue Passion! Nichts wie hin.

Dreh- und Angelpunkt der Grauen Passion ist ein eigentlich ganz krude zerlegter Flügelaltar. Gäbe es ihn noch bzw. wäre da noch was auf- oder umklappbar, würde man die zwölf Passionsszenen von Hans Holbein dem Älteren, jeweils sechs in grau und sechs in ocker, so en suite gar nicht sehen können. Nur dank der Barbaren früherer Jahrhunderte, die das Retabel längs und quer kleingesägt haben, bekommen wir die Holbein-Tafeln wie in der Fernsehillustrierten unserer Omis präsentiert: auf einen Blick.

Die enge Hängung hat auch was von gemalten Video-Stills. Und falls Mel Gibson sich noch mal mit einer Pixar-Variante an The Passion of the Christ versuchen wollte, hier könnte er die Farbproben nehmen. Auch deswegen haben unsere Feuilletons mit ihrer Artikel-Bebilderung geklotzt, hier mal drei Artikel kontrastiv gegeneinandergehalten:

  • Willibald Sauerländer: Die Farben des Leidens. SZ, 29. November.
  • Tilman Spreckelsen: Seine Augen weit aufgerissen. FAZ, 2. Dezember.
  • Hans-Joachim Müller: Holbeins Auferstehung in Stuttgart. Die Welt, 3. Dezember.

Die SZ

… kommt mit gleich sechs abgebildeten Szenen dem Original-Wandfeeling am nächsten, mosert dafür aber ein bisschen viel an der Konzeption der Ausstellung rum. Dabei ist die ganz hervorragend und keineswegs zu wissenschaftlich. Der Witz der Grauen Passion ist ja grad, dass Holbein mitten im Zeitalter der Grisaille-Mode keine bloßen Statuen mit Grauschimmer malt, sondern Figuren, die menschlich-leibhaftiger nicht wirken könnten. Der Einsatz anderer Farben ist beschränkt auf Jesus himself, Nicht-Grau also ein Stilmittel, um den Protagonisten aller Protagonisten von der Entourage abzuheben. Ein bisschen so als würde Hollywood im Sinne eines Spezialeffekts nur noch die Hauptrolle in bunt zeigen, den Rest aber in schwarz-weiß.

Die FAZ

… bildet zwei Passionsszenen ab, erzählt dann aber vor allem von einer dritten. Und klagt kunsthistorischen Kindesmissbrauch an: »Was stupst er da? Soll das Kind lauter brüllen?«

Tatsächlich lässt Holbein bei der Ecce-Homo-Szene ein gut verstörtes Kind zuschauen. Und tatsächlich steht es neben einem Fratzengesicht von Vater, der seiner Tochter irgendwie obszön seine Finger in die Wange drückt. Jesus natürlich im Blickkontakt mit der Kleinen, die Nase und Mund traumatisch weit aufgesperrt hat. FAZ-Rezensent Spreckelsen kann sich auch beim Rausgehen gar nicht trennen: »Das Kind bleibt so ungeheuerlich wie beim ersten Sehen. Und es verlässt einen auch nicht auf dem Weg zum Bahnhof.«

Die Welt

… bringt einzig und allein, dafür aber in XL, das Abschlussbild des Zyklus: die Auferstehung Christi. Hier steht der – ja wie nur? – aus dem Grab entstiegene Leibhaftige vor uns. Der Holbein’sche Grabdeckel ist, anders als bei so vielen Passionsmalern, nicht geöffnet oder gar geborsten. Nein, die Nägel (Initialen: H & H) sitzen wie bei Hagebau. Mach! Dein! Ding! Holbein macht sein Ding, indem er malerisch zeigt: Christus macht sein Ding, er kann sowieso »nicht anders denn als Geistleib seiner irdischen Gefangenschaft entkommen sein (…). Das ist die Pointe«, so Müllers Bildbeschreibung in der »Welt«.

Am meisten aber gefällt mir der gut gesetzte Hinweis auf die familiäre Arbeitsteilung. Hans Holbein d. Ä. also hat, wie gesehen, die Todesüberwindung gemalt; »Holbeins Sohn wird später einen toten Christus malen, wie er toter nie gemalt worden ist.« Ein Satz, für den man am liebsten sofort mal wieder nach Basel fahren würde:

Holbein, The Body of the Dead Christ in the Tomb (Quelle: Wikimedia Commons)

 

Mit San Andi und Arcimboldo in Washington

Hamburg, 19. Dezember 2010, 08:23 | von Dique

Im September in Washington gewesen, einziges Ziel dieses Ausflugs: Besichtigung der National Gallery of Art. Wir reisen also von New York aus mit dem Greyhound Bus an und drehen nach Ankunft direkt Richtung Museum ab.

Es ist entsetzlich heiß hier, über vier Stunden haben wir gebraucht und nun, kurz nach 10, stehen wir vor dem richtigen all der klassizistischen Tempel, die da zwischen Lincoln Memorial und Kapitol aufgestellt worden sind.

Sofort stelle ich fest und zeige mich sehr erfreut darüber, dass gerade eine Giuseppe-Arcimboldo-Ausstellung stattfindet. Es handelt sich um die abgespeckte Version der Schau, die vor ein paar Jahren in Wien und Paris zu sehen war, den Katalog habe ich hier schon mal erwähnt.

Philip Haas, Winter (Quelle: Wikipedia)Damals habe ich auch wiederholt behauptet, dass Arcimboldo mehr ist als die Composite Heads, diese obskuren Porträts aus vornehm­lich Obst- und Gemüsestücken, aber im Fokus stehen sie trotzdem und hier ganz besonders: Gleich vor dem Eingang ist eine Leihgabe aus Wien aufgestellt, die von Philip Haas angefer­tigte Riesenattrappe des »Winters« aus Arcimboldos Jahreszeitenzyklus, nicht schlecht!

Ich will gleich in die Sonderausstellung stürmen, aber San Andis Missmut hält mich zurück. Er habe jetzt keine Lust, eigentlich sogar nicht nur jetzt, sondern überhaupt nie mehr Lust, sich diese blöden Gemüseköppe anzuschauen. Lieber sofort und ausschließlich in die Dauerausstellung!

Ich lasse mich von dieser Devise erst mal breitschlagen und erkläre, zunächst auch ein bisschen in die dauerausgestellte Sammlung mitzukommen und erst später allein zu Arcimboldo zu wechseln, um mir dann zum tausendsten Mal die wunderschönen Gemüseköppe anzusehen.

Wir schleichen durch die Hallen und bestaunen die Erwerbungen von Andrew W. Mellon, Samuel H. Kress und all den anderen groooooßen amerikanischen Sammlern. Im NGA hängt auch übrigens das einzige Ölgemälde von Leonardo in ganz Nord-, Mittel- und Südamerika. Dieses Stück, die »Ginevra de’ Benci«, wurde 1967 aus der Sammlung Liechtenstein herausgekauft, um jetzt hier in der National Gallery zu sein. Die Wacholderfrau ist noch dazu viel schöner als die »Mona Lisa«, wenn auch unten um einige Zentimeter Leinwand beschnitten, weshalb ihre vermutlich formvollendeten Hände jetzt fehlen, aber auch die Hände der Nike von Samothrake zum Beispiel sind ja nur fragmentarisch überliefert, also!

Wegen des frühen Aufstehens haben wir unendlich viel Zeit, so kommt es mir vor, und wir begeben uns dann auch wie gewöhnlich erst einmal ausgiebig in die Museumskantine. Irgendwann frage ich aber trotzdem nach den Öffnungszeiten, und San Andreas, den ja stets der Nimbus des Sich-Auskennens umgibt, antwortet sofort und ohne zu überlegen: »Bis 21 Uhr.«

Dementsprechend gemächlich geht es auch nach dem ausgedehnten Essen weiter. Stundenlang unterhalten wir uns über die Süße und Farbe der amerikanischen Fanta und über das Blau des Brokatmantels der Madonna auf Jan van Eycks »Verkündigung«.

Und weiter geht’s durch die Ausstellung, und als es ca. Viertel nach vier geschlagen hat, frage ich trotzdem noch mal bei San Andi nach, ob er sich denn auch sicher sei, dass das Museum bis 21 Uhr geöffnet habe, und dann sagt er ganz normal, dass er das gar nicht wisse, er habe das mit den 21 Uhr nur so dahin gesagt, woher soll er denn die Öffnungszeiten ausgerechnet dieses Museums so genau wissen!

Ich habe nicht mal Zeit für eine Schockstarre, und ganz davon abgesehen, dass ich die amerikanische Sammlung noch nicht gesehen habe, sorge ich mich natürlich vor allem um meinen Besuch bei den Gemüseköpfen und frage besorgt den am nächsten stehenden Museums-Irrsigler, wann das Haus schließe. »Um 17 Uhr, in 35 Minuten!«

Sofort verschwinde ich gen Arcimboldo, »von der Sorge Qualen gejagt«, und erreiche 20 Minuten später und kurz vor Toresschluss die kleine Ausstellung und sehe noch alle 16 Composite Heads, die man von Europa hierher gebracht hat. Obst, Gemüse, Getreide, soweit mein Auge blickt!
 

»Morgen war Weihnachten.«

Leipzig, 16. Dezember 2010, 14:55 | von Paco

Christmas Tree (Quelle: Wikimedia Commons)Um kaum einen Satz ist in der Literaturtheorie so gestritten worden wie um diesen: »Morgen war Weihnachten.« Im Kontext: »Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachten.«

Immer wenn ich in Göttingen in den Käte-Hamburger-Weg einschwenke, um zu diesem Gebäude zu gelangen, muss ich an den Satz denken, auch im Hochsommer.

Denn Käte Hamburger hat sich für ihre nicht weniger als epochal zu nennende »Logik der Dichtung« (1957) genau diesen weihnachtlichen Satz herausgesucht, um die Funktionsweise des epischen Präteritums zu demonstrieren. Denn dass morgen Weihnachten war, klingt ja erst mal nach erstklassigem grammatisch-logischen Unsinn.

Das epische Präteritum aber, soweit jetzt mal die Kurzfassung, zeige nicht Vergangenheit an, sondern lediglich die Fiktionalität eines Textes. Das ist dann in der Folge hundertfach interpretiert, kritisiert, erweitert worden, ein literaturtheoretischer Hexenkessel allererster Güte!

Es gibt nun natürlich in den Literaturen aller Zeiten und Sprachen Unmengen solcher »morgen war«-Sätze. Der von Käte Hamburger gewählte stammt komischerweise aus einem relativ unbekannten Roman von Alice Berend: »Die Bräutigame der Babette Bomber­ling« (S. Fischer 1915, Neuauflage bei AvivA 1998, Volltext im Projekt Gutenberg). Die groschenheftartige Geschichte ist aber weder unlustig noch ganz unspannend: Mutter Bomberling sucht händeringend nach einem passenden Bräutigam für ihre adrette Tochter Babette, deren Verehrer jedoch von der eher unangenehmen Mitgift vergrault werden: der väterlichen Sargfabrik.

Und bevor ich jetzt gleich zur Weihnachtsfeier des Instituts aufbreche, zitiere ich die weihnachtliche Passage etwas ausführlicher aus dem Projekt Gutenberg heraus. Und oh Wunder, der berühmte Satz lautet sogar leicht anders, ›Weihnachten‹ heißt dort jetzt ›Weihnachts­abend‹, und damit klingt es gleich noch ein bisschen wundersamer:

»Eine Mutter geht von Pflicht zu Pflicht.

Frau Bomberling sagte sich, daß sie etwas tun müsse, um dünner zu werden. Noch einmal wollte sie Babettes Glück nicht aufs Spiel setzen.

Helene hatte gestern einen Arzt genannt, der die Wohlhabenden mager kurierte. Sie mußte ihn aufsuchen.

Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachtsabend.

Babette half der Mutter bei dem Ausschmücken. Ihr Arbeitsfeld war der Gipfel der Tanne. Frau Bomberling wagte nicht zu klettern, Babette aber stand auf einem Stuhl, der auf den Tisch gehoben war. Sie befestigte an die Baumspitze einen großen Stern, und darunter kam ein Wachsengel, der aus einer gläsernen Trompete ›Friede auf Erden‹ blies.«

Usw.
 

Vossianische Antonomasie (Teil 17)

Leipzig, 15. Dezember 2010, 16:13 | von Paco

 

  1. ein Galilei der Fakteninnenwelt
  2. der Robespierre der Bücherrevolution
  3. der Zinedine Zidane der Geschichtsaufarbeitung
  4. die Nana Mouskouri der Inneren Sicherheit
  5. die Claudia Roth der TV-Serien

 

Die FAS vom 12. Dezember 2010:
Nougattorte, Wirtschaftsteil, Runge

Hamburg, 12. Dezember 2010, 23:45 | von Dique

Was davor geschah

Auf dem Weg zur Konditorei Lindtner in Eppendorf, die FAS in der Manteltasche. Ich mache die letzten Schritte auf die Eingangstür zu, vorbei an einem beleibten und unscheinbaren Paar Ende 40, Typ Wochenendurlauber.

Als die Frau bemerkt, dass ich dasselbe Ziel habe wie sie und ihr Mann, rennt sie plötzlich kurzentschlossen los und an mir vorbei, wackelnd wie ein kleiner Elefant, das Gesicht zwischen Anstrengung und Empörung. In der Netztasche ihres Outdoor-Rucksacks plätschert in einer Halbliter-Cola-Light-Plastikflasche das nachgefüllte Leitungswasser.

Fassungslos über soviel Ehrgeiz betrete ich die Konditorei und sehe, wie sich die beiden Urlauber aus ihren Outdoorjacken schälen und befriedigt niederlassen. Der Kampf der beiden um die letzten freien Plätze war aber voreilig, das Lindtner ist im Moment nur zur Hälfte gefüllt.

Ich bestelle eine Tasse Kaffee und, Hauptgrund für mein Hiersein: ein Stück von der Nougattorte. Am Tisch neben meinem sitzt ein Mann mit abgelegtem Hut, der seine FAS schon aufgeblättert vor sich hält. Er schöpft gerade den letzten Schaum aus seinem Latte-Macchiato-Glas, als zwei ältere Herren auf ihn zugestürzt kommen und behaupten, dass der Tisch gar nicht frei gewesen sei.

Jedenfalls schnappt sich der eine erbost ein Gläschen vom Rand des Tisches, in der nicht mehr als noch ein Schluck Orangensaft schwappt. Der Hutmann lacht die beiden auf sympathische Weise aus und vermeldet, dass er da jetzt schon 30 Minuten an diesem Tisch sitze und Zeitung lese. Die Bedienung kommt herbeigeeilt und beschwichtigt, und bald verschwinden die beiden älteren Herren nach draußen, die Mäntel hatten sie eh schon übergezogen.

Was in der FAS geschah

Ok, wie immer lese ich zuerst den Wirtschaftsteil. Der sogenannte »Sonntagsökonom« gefällt mir heute mal sehr gut, es geht um Prognosemodelle, und in der Literaturliste wird das »International Journal of Forecasting« erwähnt, was für ein schöner Titel!

Auf der nächsten Seite steht ein Interview mit Norbert Rethmann, der gleich zu Beginn zu Georg Meck sagt: »Ich stelle fest: Dies ist mein erstes großes Interview. Übrigens nicht, weil ich Sie unbedingt kennenlernen wollte.« Meck nennt ihn im Gegenzug »Europas Müllkönig«, auch nicht schlecht, und es geht also leicht provokativ zur Sache, in diesem Fall vor allem um Müll und Schrott, mit deren Entsorgung bzw. Recycling Rethmann aus einem kleinen Familienunternehmen einen weltweit agierenden Konzern geschaffen hat.

Nach dem Umblättern wird es erwartungsgemäß krisig, Lisa Nienhaus spekuliert auf einer Doppelseite über die Rückkehr der D-Mark, Petros Markaris (Berufsbezeichnung: »griechischer Krimiautor«) erzählt im Gespräch mit Winand von Petersdorff, wie leer die Straßen Athens inzwischen leider seien: »Athen ist so tot wie eine Kleinstadt in Skandinavien.« Und Lena Schipper schreibt einen beeindruckend schneidigen Artikel über die Hochschulreform in England, die ursprünglich von Lord Browne angeregt wurde, dem ehemaligen BP-Chef (und nunmehrigen Peter Hartz des englischen Universitätswesens).

So vergeht eine kleine Weile, und es bleibt eigentlich jetzt keine Zeit mehr fürs Feuilleton, ich schaffe vor lauter Zeitdruck nur Jan Freitags sensationelles Interview mit Gung aus der »Lindenstraße«.

Was in der Kunsthalle geschah

Aber nun muss ich Paco treffen, er war zu einem Stück Nougattorte im Lindtner nicht zu überreden gewesen und wartet nun am Bühneneingang des Schauspielhauses, wo er sich noch angeregt und lachend mit der Einlassfrau unterhält, als ich ankomme. Das Gung-Interview hat er ebenfalls längst gelesen, und schon sind wir auf dem Weg zur Kunsthalle, um die allseits gepriesene Runge-Ausstellung zu sehen.

Regelrecht erschrocken gehen wir durch die Räume! Die Ausstellung ist zwar didaktisch ein Hit, siehe Swantje Karich in der FAZ, aber in so einem Gesamtüberblick macht die Lokalgröße Runge einfach keinen Spaß, seine mittelmäßige Begabung überschreitet selten die Qualität gehobener Akademiestudien.

Am Schlimmsten sind aber eigentlich die »Hülsenbeckschen Kinder«, leblos wie tote Puppen stehen sie da vor dem Gartenzaun, zum Fürchten! Also schnell weiter ins kunsthalleneigene Café Liebermann, und plötzlich ist alles wieder gut: Nougattorte!