100-Seiten-Bücher – Teil 11
Thomas Mann: »Der Tod in Venedig« (1912)

Solingen, 12. August 2011, 07:04 | von Bonaventura

Der ältliche Schriftsteller Gustav Aschenbach, nobilitierter Dichter und Urenkel der deutschen Klassik, lässt sich für einen Moment gehen und weicht einer Schreibblockade aus, indem er in Urlaub fährt. In Venedig angekommen, verliebt er sich in einen 14-jährigen polnischen Knaben. Zwar versucht er dem Wieland’schen Rezept für Verliebte zu folgen und so rasch wie möglich fortzulaufen, auch eine Sublimierung ins Geistig-Platonische wird probiert, letztlich hilft aber nichts gegen den einmal ausgebrochenen Mangel an »Zucht« und Aschenbach bleibt auf der Strecke: Mit einem letzten Blick auf das Rückenstück des göttlichen Knaben erliegt er der Cholera, die er sich im unmoralischengesunden Klima Venedigs zugezogen hat.

Das Erstaunliche an den Texten Thomas Manns ist immer wieder, dass es ihm gelingt, aus dem dünnen Fädchen seines persönlichen Erlebens und Empfindens Erzählungen von bemerkenswert artifizieller Dichte zu stricken. »Der Tod in Venedig« ist, was Ornatus, Motivik, Vorausdeu­tung, Spiegelungen und Ringstrukturen angeht, eine Perle traditionel­ler Erzählkunst. Der Wechsel von ausgewogensten Satzungeheuern und kürzesten Sentenzen verleiht dem Erzähler – bei aller inhaltlichen Schwülstigkeit und Überfrachtung des Erzählten – gerade genügend ironische Distanz, um ihn nicht unerträglich werden zu lassen. Wenn irgend ein deutscher Schriftsteller mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Schneide eines Rasiermessers hat tanzen können, dann war es wohl Thomas Mann.

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen. – Ausgaben:

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. München: Hyperion-Verlag Hans von Weber 1912.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Novelle. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2007.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

SPON, Helmut Kohl, Bundespresseball

Konstanz, 10. August 2011, 06:43 | von Marcuccio

Drei schöne Szenen aus Herlinde Koelbs Doku »Die Meute«, die dem deutschen Fernsehen vor genau zehn Jahren, am 10. August 2001, eine Sternstunde bescherte und längst zum Klassiker geworden ist – vgl. die Quotes in der Publizistikwissenschaft. Aber ich empfehle natürlich den ganzen Film (z. B. bei YouTube, dort in sechs Teilen).

1. Markus Deggerich!

»Deutschlands erster parlamentarischer Berichterstatter, der ausschließlich ins Internet berichtet« (Koelbl). 2001 unter lauter Print- und Rundfunkhasen noch eine echte Sensation. Mir gefällt, wie er sein Exotendasein mit diesem Laptop-Deckel behauptet, auf dem ein geradezu obszön großer (und deswegen auch hässlicher) Aufkleber von »Spiegel Online« prangt.

2. Buchpräsentation: »Mein Tagebuch« von Helmut Kohl

Sie klettern auf Stühle. Sie drängeln, sie schubsen. Die Fotografen wollen Helmut Kohl mit Buch. Der kapiert gar nicht, wie mediale Bilderlogik funktioniert – oder hat vielleicht auch einfach keine Lust:

–Aber Sie haben doch schon Bilder vom Buch.
–Ja, aber doch nicht mit Ihnen. Können Sie’s mal in die Hand heben?

3. Bundespresseball 2000

Herlinde Koelbl fragt den Silberfuchs Carl Weiss (* 1925):

Koelbl: Warum sind Sie Journalist geworden?
Weiss: Ich wollte immer Journalist werden. Ich glaube, ich war gut im Aufsatz, als ganz kleiner Junge schon. Das war natürlich im Dritten Reich. Ich hab mir gar nicht klar gemacht, wie das eigentlich sein würde, dann wäre es wohl auf Feuilleton hinausgelaufen. Ich wollte immer Journalist werden, das ist mein Beruf.
Koelbl: Was hat Sie so fasziniert?
Weiss: Die Oberflächlichkeit, fürchte ich.
Koelbl: Die Oberflächlichkeit der Welt?
Weiss: Die Oberflächlichkeit dieses Berufes, bei dem man nicht gezwungen ist, allzusehr in die Tiefe zu gehen, und es reicht trotzdem. Ein Diplomingenieur, Brückenbauer, Lungenfacharzt, der kann sich doch all so Dinge nicht leisten. So wie wir im Ungefähren zu bleiben und trotzdem akzeptiert zu werden.

Usw. usw.

Zum Nachlesen:
Herlinde Koelbl: Die Meute. Macht und Ohmacht der Medien. München: Knesebeck Verlag 2001. (DNB)

Zeitgenössische Rezensionen bei SPON (Christian Bartels) und in der FAZ.
 

Kaffeehaus des Monats (Teil 62)

sine loco, 4. August 2011, 09:50 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Der Hüttengrill in Detmold, unaussagekräftiges Foto, wie in dieser Reihe üblich.

Detmold
Der Hüttengrill Hiddesen in der Friedrich-Ebert-Straße.

(Eine sagenhafte Imbissbude mit deutsch-italienischer Küche. Hier haben sich schon vor über 2000 Jahren die römischen Legionen XVII bis XIX versorgt. Die Hausherrin summt alte venezianische Lieder und kocht dabei eine sehr hervorragende Pasta all’amatriciana.)

 

100-Seiten-Bücher – Teil 10
Giorgio Bassani: »Die Brille mit dem Goldrand« (1958)

Düsseldorf, 31. Juli 2011, 07:07 | von Luisa

Im Februar 1994, als er noch für die FAZ schrieb, besuchte Gustav Seibt den italienischen Autor Giorgio Bassani in Rom. Der Besuch verlief eher bizarr und endete mit einem plötzlichen Kuss Bassanis (damals 77 und unterwegs in die Demenz) auf die junge Wange des Kritikers. Der Dichter küsste das Feuilleton, das Feuilleton erwiderte den Kuss durchs Wort: Seibts Bericht, erst ein Jahr später erschienen, trug den Titel »Der Kuss« und glimmerte zwischen Grusel und Verehrung.

Alle Romane Bassanis spielen in Ferrara, wo der Autor seine Kindheit und Jugend verbrachte. Ferraras Altstadt mit Duomo, Castello und Stadtmauer ist UNESCO-Weltkulturerbe, dennoch: Ferrara never quite made it. Es liegt abseits. Kein schiefer Turm, keine Arena. Die Stadt lebt für sich und ist wunderschön.

Der Besitzer der Brille mit dem Goldrand, ein venezianischer Ohrenarzt namens Dr. Athos Fadigati, lässt sich 1919 in Ferrara nieder. Zunächst wird er freundlich aufgenommen, später ausgegrenzt. Er wohnt und ordiniert gleich hinter dem Dom, an der Kreuzung Via Bersagliere del Po/Via Garganello. Diese Wohnung gibt es noch, man steht vor dem Haus, schaut hinauf und fragt sich, ob man klingeln und um eine Nasenspülung oder um einen Kuss bitten soll. Der Roman erschien 1958, das ist lange her und vielleicht ahnt der heutige Mieter gar nicht, dass er einen fiktionalen Mitbewohner hat. Der Jude Bassani überlebte den Faschismus in Rom und kehrte nicht nach Ferrara zurück.

Zart wie der Roman, aber minder melancholisch ist die lokale Pasta-Spezialität: cappellacci di zucca, mit Kürbis gefüllte Ravioli. Gute Geschichten sind düster, Unrecht verbittert. Trost spendet die Küche.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (genaue Angabe folgt). – Ausgaben:

Giorgio Bassani: Ein Arzt aus Ferrara. Erzählung. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. München: Piper 1960.

Giorgio Bassani: Die Brille mit dem Goldrand. Erzählung. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. München: Piper 1985. S. 3–105. (= 103 Textseiten)

Giorgio Bassani: Die Brille mit dem Goldrand. Erzählung. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. Berlin: Wagenbach 2007.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Der Journalist im Kindercomic:
Wenn ich groß bin, mach ich was mit Medien

Konstanz, 28. Juli 2011, 16:49 | von Marcuccio

Lokomotivführer, Fußballer, Tierärztin … das war einmal! »Wenn ich groß bin, mach ich was mit Medien«, werden sich die sagen, die regelmäßig »Dein Spiegel«, »Geolino« oder die »Süddeutsche Zeitung für Kinder« zu lesen kriegen. Denn meine, nun ja, dreimonatige Testlesereihe in der Print-Bam-Bino-Szene hat ergeben:

Diese Zeitschriften bringen ständig Comics über Journalisten und solche, die es werden wollen. Ist das Zufall? Oder Strategie, im Sinne positiver Nachwuchs- und Imagewerbung für ein eigentlich ramponiertes Berufsbild? Selbst Rückschlüsse auf Journalismuskulturen in den jeweiligen Medienhäusern scheinen möglich, zum Teil sogar beabsichtigt.

Wo Journalisten noch Helden sind

Unter Erwachsenen zählt ›Journalist‹ seit Jahren zu den Jobs mit der miesesten Reputation überhaupt, den aktuellen News-of-the-World-Skandal noch nicht mal mit gerechnet. Da möchte und kann man doch wenigstens vor Kindern noch mal ganz ungestört Held sein.

Geeignete Comic-Helden geben Journalisten schon deshalb ab, weil ihr Job zwei klassische Kindergenres bedient: die Detektiv- und die Pfadfindergeschichte. Statt »Fünf Freunde« oder »TKKG« ermitteln dann eben:

Klara Argus und Ben Riecher bei »Geolino«

Sprechende Namen, oh ja bitte, sind natürlich seit Karla Kolumna ein Muss. Wer Klara Argus und Ben Riecher heißt, kann nur für eine Schülerzeitung namens »Wadenbeißer« arbeiten:

»Wenn die beiden Spürnasen eine gute Story wittern, lassen sie nicht locker, bis die Wahrheit ans Licht kommt. Was nicht immer einfach ist …«

Die ganz fiesen Murdoch-Machenschaften sind da selbstredend nicht vorgesehen. Schülerbrav und jugendfrei bleiben die journalistischen Ratekrimis. Wie geschaffen für »Geo«-Eltern, die ihren Kindern »Geolino« kaufen.

Das Netzwerk Recherche der Kinder-SZ

Mutiger, bissiger, investigativer geht’s in der »Süddeutschen Zeitung für Kinder« zu. Im Comic der aktuellen Pilot-Ausgabe ist der FC Dribbling pleite. »Die Reporter Anne, Bene und Franzi wollen der Sache auf den Grund gehen – und wählen eine ungewöhnliche Ermittlungsmethode.« Sie schleusen sich ins Fußballtraining ein und finden heraus, was herauszufinden ist:

»Reiseprospekte und Rechnungen von Luxusreisen … alle auf den Verein ausgestellt.«

Verdeckte Recherche also. Hier macht die SZ nun einerseits sehr geschicktes Role Model Branding für investigativen Journalismus, andererseits betreibt sie aber auch gewiefte Eigenmarkenpflege: Denn der Comicstrip endet bezeichnenderweise damit, dass die Enthüllung in der »Süddeutschen Zeitung« zu stehen kommt (die auch wirklich so heißt):

»Kinderreporter entlarven Vorstand. Vereinsgelder veruntreut«

Subtext: Journalisten, die sich was trauen und auch mal undercover ermitteln, arbeiten bei der SZ. Würde die Atomlobby Kinder mit ähnlichen Suggestiv-Cartoons bedienen – es hätte natürlich schon längst einen empört-kritischen SZ-Artikel gehagelt.

»Dein Spiegel«: Ferdinand und sein fieser Chef

Im Gegensatz zu seinen »Geolino«- und Kinder-SZ-Kollegen, die im Team arbeiten, ist Ferdinand klassischer Einzelkämpfer. Schon rein optisch-figürlich ein Antiheld, von Ralph Ruthe (Text) und Felix Görmann sympathisch als hundeähnliches Maskottchen überzeichnet: Die hohe Journalistenstirn hat die gleichen Längenmaße wie der ganze übrige Leib. Yess, ein Denkriese! Lustig, wenn er die investigative Taschenlampe zwischen seine beiden Lauscher klemmt.

Als Gegenspieler hat Ferdinand einen fiesen, schwergewichtigen Chef, der keinen Feierabend kennt, sondern immer nur skrupellos anordnet – gern auch Nachtschichten (wie in Nr. 6/2011, S. 74):

»Außer Ihnen ist keiner mehr da. Uns fehlt aber noch die Rezept-Kolumne für den Koch-Tipp! Los! Ab in die Haushaltsredaktion!!!«

Ratgeberjournalismus als wahre Sklavendisziplin – wer will, kann und wird das alles unbedingt als Parabel lesen. Es bleibt auch hübsch offen, was diesen Berufsstand eigentlich mehr peinigt: Der Leser – oder der Chefredakteur, der diesen Leser behauptet:

»Und nicht einfach was aus dem Internet kopieren. Unsere Leser erwarten exklusive Rezepte!«

Besonders gut kommen solche Chefansagen natürlich im Langzeitwiderspruch, sprich im Abgleich mit früheren Ferdinand-Folgen, in denen es auch schon hieß:

»Uns fehlt noch ein Artikel für die Wissenschaftsseite, Ferdinand. Schreiben Sie was! Irgendwas! Aber hopp, hopp!«

In Nr. 7/2011 sieht man, dass die Zeitung, bei der Ferdinand und sein Chef arbeiten, in einem Hochhaus residiert, das der Brandstwiete 19 in Hamburg dann aber doch arg ähnelt. Immerhin – soviel Anstand im Gegensatz zur Kinder-SZ hat man – heißt das Medium nicht »Der Spiegel«, sondern »Der Globus«.

Auch der »Globus« hat ein Archiv, das einer riesigen unterirdischen Festung gleicht. Hier sitzen scary Skelette an einer Riesenmaschine – von der Flut der Online-Anfragen zugrunde gerichtet. So bitteschön mochten wir uns die Innereien der »Spiegel«-Dokumentation doch immer vorstellen.

Wann schafft es Ferdinand vom kleinen in den großen »Spiegel«? Ein Comic im deutschen Nachrichtenmagazin, das wär doch noch mal was Neues.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 9
Fritz Mauthner: »Der letzte Tod des Gautama Buddha« (1913)

Solingen, 26. Juli 2011, 09:09 | von Bonaventura

Fritz Mauthner (1849–1923) dürfte sich hart an der Grenze des kultu­rellen Gedächtnisses bewegen. Während meines Studiums waren seine »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« noch viel besprochen, wenn auch wenig gelesen. Vom Dichter Fritz Mauthner wollte man aber schon damals nichts mehr wissen. Umso mehr war ich überrascht, als mir jetzt eine Neuausgabe seiner Erzählung um den Tod Gautama Buddhas in die Hände fiel.

Der 1913 erstmals erschienene Text ist eine direkte Reaktion auf die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzende Popularisie­rung buddhistischen Gedankengutes in Europa. Erzählt werden die letzten Tage Gautama Buddhas, stofflich weitgehend orientiert an den Legenden. Inhaltlich allerdings nimmt Mauthner, ähnlich wie später auch Hermann Hesse in seinem »Siddhartha«, eine deutlich distan­zierte Haltung zu der offenbar als zu pessimistisch empfundenen Lehre ein. Mauthner lässt seinen Buddha nicht nur die Abkehr von allem Weltlichen hin zu einer Bewunderung der Schönheit der Welt und des Lebens überwinden, er erfindet auch eine letzte Lehrpredigt Buddhas hinzu, die sogenannte Schmetterlingspredigt, in der die bunten Flattermänner zum großen Paradigma einer lebensbejahenden Existenz ohne Wollen und Denken geraten.

Etwas spannender als diese religiöse Gymnastik gerät die Beschrei­bung der Jünger des Erleuchteten. Während sich Buddha um letzte Einsichten und die Überwindung des Sterbens bemüht, finden unter seinen Schülern die ersten Verteilungskämpfe um Macht und Einfluss in der zukünftigen buddhistischen Kirche statt. Hier findet sich Mauthners eigentliche Absage an den Buddhismus: Die Lehre Buddhas ist disku­tabel, der kirchlich organisierte Buddhismus ist es nicht.

Sprachlich dürfte die Erzählung ebenso wie Hesses Pendant heute als etwas schwülstig empfunden werden, ansonsten ist sie ein nettes, kleines Schmuckstück für alle, die sich ein wenig für Buddhismus oder Fritz Mauthner interessieren.

Länge des Buches: ca. 127.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. München; Leipzig: Müller 1913.

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. Leipzig: Superbia-Verlag 2005.

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus. Lengwil-Oberhofen: Libelle 2010. S. 5–110. (= 106 Textseiten)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Gottfried Kellers katholisches Abenteuer — eine Provokation?

Konstanz, 24. Juli 2011, 08:24 | von Marcuccio

»Wie spricht man im Zeitalter des Unglaubens von Glaubenssachen?« Die Frage klingt nach Matthias Matussek. Doch Ferdinand Kürnberger stellt sie schon 1872, in seiner Besprechung von Gottfried Kellers »Sieben Legenden«.

Richtig kraftvolle Kritikerprosa ist das. Überhaupt: der Kürnberger! Wer philologisch Feuilleton liest, kennt vielleicht »Die Blumen des Zeitungsstils«, eine giftig-gute, frühe Abhandlung über Mediensprache. Und den Literaturkritiker Kürnberger empfahl neulich Peter von Matt, im Gespräch für Eingeweihte.

Gottfried Keller also. Wer das Porträt von Karl Stauffer-Bern kennt – es fehlt in keiner Literaturgeschichte –, der hat vielleicht vor Augen, wie bräsig Keller da auf seinem Schemel sitzt. So ziemlich das Gegenteil seiner Actionheldin, die in einer der besprochenen Novellen dynamisch das Schwert schwingt: »Die Jungfrau als Ritter«.

Der Plot

Zendelwald, ein schmächtiger, lediger Ritter, für den die Evolution im »Fight or Flight«-Fall offenbar eher Letzteres vorgesehen hat, wird von seiner Mutter gedrängt, bei einem Brautgefecht mitzubieten. Und weil das kämpferisch für ihn nur in die Hose gehen kann, versucht er vorher wenigstens noch matussekmäßig Kraft zu tanken:

»Glücklicherweise fällt es ihm ein, in einer Mariencapelle zu beten, und die Jungfrau Maria läßt sich das nicht zweimal sagen. Sie beschließt, dem braven Schlemihl, dessen Niederlagen gewiss sind, zu helfen und all seine Ritterwerke für ihn zu verrichten.«

Biografismus-Apologeten sagen zu dieser Novelle übrigens gern: Keller, der in eigenen Beziehungen höchst glücklos gewesen sei und lebenslänglich unter seiner Übermutter gelitten habe, poträtiere mit dem Schlemihl, der eine weibliche Ritterin zur Eheanbahnung brauche, vor allem sich selbst.

In jedem Fall parodiert Keller die Idee des göttlichen Beistands, indem er die Urformel aller Mariahilf-Legenden (»Die Jungfrau Maria hat geholfen«) schlagkräftiger bemüht als die Kirche dies jemals zu träumen geschweige denn offiziell zu glauben gewagt hat. Zugleich ist der Brautkampf ein ungeheuerliches Schaulaufen bizarrer Gesichtsbehaarungen.

Kellers Bart-WM

Ein Brautwerber trägt »einen pechschwarzen Schnurrbart, dessen Spitzen so steif gedreht wagrecht in die Luft ragten, daß zwei silberne Glöckchen, die daran hingen, sie nicht zu biegen vermochten und fortwährend klingelten, wenn er den Kopf bewegte«.

Ein anderer hat Nasenhaarzöpfe:

»Zum Zeichen seiner Stärke hatte er die aus seinen Nasenlöchern hervorstehenden Haare etwa sechs Zoll lang wachsen lassen und in zwei Zöpfchen geflochten, welche ihm über den Mund herabhingen und an den Enden mit zierlich rothen Bandschleifen geschmückt waren.«

War Keller wirklich nur Stadtschreiber von Zürich oder ist der Literaturgeschichte da womöglich eine heimliche Doppelbegabung verloren gegangen? Sozusagen Novellist und Nasenhaarcoiffeur in Personalunion, hehe.

Dramaturgisch klar ist, dass diese exzentrischen Insignien der Gesichtsbehaarung natürlich allesamt zerstört werden. Am Ende jeder akrobatischen Kampfszene widmet sich Kellers Maria denn auch genüsslich den Trophäen:

»Unverweilt sprang die Jungfrau vom Pferde, kniete ihm auf die Brust (…) und schnitt ihm mit ihrem Dolche die beiden Schnäuze mit den Silberglöcklein ab, welche sie an ihrem Wehrgehänge befestigte, indessen die Fanfaren sie oder vielmehr den Zendelwald als Sieger begrüßten.«

Kürnberger kriegt sich über Kellers Fighting Mary und ihre »halsbrecherische Hilfe« gar nicht wieder ein:

»Was sagt der Gläubige zu diesen Muttergottes-Abenteuern? Wird ihm dabei wohl, oder angst und bange? Hört er eine fromme Geschichte oder eine Blasphemie?«

Man muss eben dazudenken, dass 1872 noch nicht die Zeit war, wo die Kirche Fußballplätze und Boxkämpfe segnete. Kellers katholische Abenteuer konnten noch echte Katholiken provozieren. Matthias Matussek reicht für seine Provokation der agnostischen Medien­schaffenden schon die Tatsache, dass es heute überhaupt noch Katholizismus gibt.

Kürnberger sortiert Keller unter die ganz großen Namen: Er sei »satyrisch wie Voltaire, naiv wie Homer, graziös wie Heine, humoristisch wie Jean Paul«. Ausdrücklich verbittet er sich, »in demselben Athemzuge mit den Sieben Legenden auch die Parodien von W. Busch zu nennen, gleichsam als geistesverwandte Seitenstücke. Das heißt die Posse mit dem höheren Lustspiel, den ›Sommernachtstraum‹ mit ›Evakathl und Schnudi‹ zusammenstellen.«

»Evakathel und Schnudi« (aka »Eva Kathel und Schnudi«), UA 1804 in Wien: Die Oper von Wenzel Müller muss im Habsburgerreich des Jahres 1865 ein Riesenrenner gewesen sein. Die »Blätter aus Krain« berichten in ihrer Ausgabe vom 29. April 1865 über die Laibacher Bühne: »Die Saison schloß Anfang März mit ›Prinz Schnudi und Prinzessin Evakathl‹. Es waren 152 Vorstellungen gegeben worden.« (PDF)

Kürnberger über Keller war nur die Premiere. Demnächst mehr zu Kürnbergers Feuilletonisten-Tyopologie von 1856. Die ist nämlich auch ganz großes Kino.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 8
Platon: »Das Gastmahl« (um 380 v. Chr.)

Düsseldorf, 20. Juli 2011, 18:46 | von Luisa

Noch geschwächt vom Besäufnis des Vortags, beschließen die Teil­nehmer dieses berühmten Gelages, ausnahmsweise nur mäßig zu trinken und sich stattdessen am Gespräch zu erfreuen. Jeder soll eine Rede über die Liebe (unter Männern selbstredend) und den Gott Eros halten. Fünf Gäste geben ihr Bestes.

Dann kommt Sokrates an die Reihe. Gnadenlos sichelt er die Ausfüh­rungen seines Vorredners Agathon nieder, bis dieser stammelt: »Ich, o Sokrates, weiß dir nicht zu widersprechen, sondern es soll so sein, wie du sagst.« Der Logos als Zerstörer, der Leser zürnt. Als ob er dies spüre, spielt Sokrates nun selbst den Trottel, indem er ein Gespräch mit der weisen Diotima wiedergibt, einer Frau also, was in all diesem Männergeglucker schon mal versöhnt. Es gerät zum Liebeswörter­rausch »in der bacchischen Wut der Philosophie«, zum psychedelischen Aufschwung ins Licht der Idee. Das ist am besten laut, bekränzt und betrunken vorzulesen.

Aber das Beste ist da eigentlich schon vorbei, nämlich die Erzählung des Aristophanes. Ursprünglich, so behauptet er, waren wir alle kugelförmig und hatten zwei Gesichter, vier Arme/Beine sowie doppelte Sexualorgane, mit denen wir in die Erde zeugten. Sehr fröhlich waren diese Komplettmenschen und aufmüpfig. So griff Zeus zur Säge. Und wenn wir nicht endlich brav und fromm werden, droht uns eine weitere Halbierung. Hier siegt Mythos über Logos, Dichtung über Deduktion, ein einziges, heiteres, herzerwärmendes Wunder.

Das Gastmahl endete in Lärm und Chaos, »man sei genötigt worden, gewaltig viel Wein zu trinken«. Das hat sich nicht geändert in 2400 Jahren, schlauer sind wir heute auch nicht, aber das »Gastmahl« ist immer noch ein großer Jux, besonders wenn man es nachspielt.

Länge des Buches: ca. 145.000 Zeichen (Niethammer-Übersetzung), 153.000 Zeichen (Susemihl-Übersetzung). – Ausgaben:

Platon: Das Gastmahl. Übersetzt und herausgegeben von Thomas Paulsen. Nachwort und Anmerkungen von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn. Stuttgart: Reclam 2008. S. 3–78. (= 76 Textseiten)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Regionalzeitung (Teil 47)

St. Petersburg, 19. Juli 2011, 09:07 | von Paco

 
  231.   redete Klartext

  232.   ein mutiger Film

  233.   die agile 85-jährige

  234.   der Dichterfürst

  235.   ein glühender Verfechter
 

Unterwegs mit der FAZ des 12. Juli 2011:
Das anerkennende Nicken des Milizionärs

St. Petersburg, 15. Juli 2011, 11:18 | von Paco

Es war also Dienstag, und am späten Vormittag traf ich mich an der Moskovskaja mit dem Galeriebesitzer. Er war gerade mit dem К-13 vom Flughafen gekommen und hatte mir wie versprochen die aktuelle FAZ mitgebracht. Ich berichtete dann noch, dass ich mich mehrfach an den Legobausteinen gestoßen hatte, die Jan Vormann in der Galerie verbaut hatte, und dass wir unbedingt einen WLAN-Router besorgen sollten, denn alle verfügbaren Netzwerkkabel waren als Wäscheleinen quer durch drei Zimmer gespannt.

Zusammen mit der FAZ fuhr ich dann tief hinab zur Metro. Den Aufmacher, einen Artikel von Frank Lübberding über Herbert Wehners Aktentasche (S. 35), las ich gleich in den fünf Minuten, die man mit der Rolltreppe bis nach unten braucht. Das Feuilleton war übrigens wieder mal randvoll mit Spitzentexten, es war wie immer ein guter Feuilleton-Dienstag gewesen, und atemlos las ich weiter.

Für den nächsten Tag wurde übrigens ein Beitrag zu 25 Jahren Historikerstreit angekündigt. Es gab dann ja am Mittwoch in den »Geisteswissenschaften« diesen Diss von Egon Flaig gegen Habermas, was ich am Dienstag aber noch nicht wusste. Ich dachte daher jedenfalls erst mal sofort wieder an das SPIEGEL-Interview mit dem »Bloodlands«-Autor Timothy Snyder (dt. »Blutgebiete«, übers. v. Charl. Roche), in dem er sagt:

»Ich ging damals in Ohio auf die Highschool, und der Historikerstreit war der Grund für mich, Deutsch zu lernen.« (aktuelle Ausgabe, S. 47)

Das ist mal ein schöner Grund! Heute wird ja nur noch wegen Rammstein und Tokio Hotel Deutsch gelernt. Und wegen der Einstürzenden Neubauten, die ausnahmslos jeder Russe kennt, und das obwohl kein einziger Russe den Bandnamen aussprechen kann.

Außerdem las ich noch die Besprechung von Robert Wilsons Vanitas-Abend über »Leben und Tod der Marina Abramovic« in Manchester (S. 37). Geschrieben hatte sie Gina Thomas, die momentan absolut verdient unsere unangefochtene Lieblingsfeuilletonistin ist.

Um die Mittagszeit saß ich dann eine Weile in der Nationalbibliothek am Ostrowski-Platz und las in ein paar Ausgaben der »Russkaja Starina« wilde Geschichten über das 18. Jahrhundert. Als ich davon genug hatte, kam ich erst mal nicht mehr hinaus aus der Nationalbibliothek, denn die Frau am »Дежурный«-Schalter wollte mir keinen Ausführ­stempel für mein mitgebrachtes Buch geben, eine uralte Grammatik aus den 60er-Jahren. »Bücher dürfen hier nicht mit hineingebracht werden, unter gar keinen Umständen!« Und nach einer Pause: »Es sind doch nun wirklich genug da!« Und dieses eine eingeschleuste (»oder nicht eingeschleuste!«) Buch sei jetzt ein groooßes Problem.

Sie schaute sich die Grammatik gründlicher an, als ich es jemals getan habe und tun werde, und war trotzdem noch nicht überzeugt. Es steht zwar mittelbar ein deutscher Name drin, aber nicht meiner (vielmehr diese Widmung: »Дорогому Вольфгангу Фогту / с неизменным уважением / М. Городникова. / 17. XII. 66«). Sie fragte mich, wer dieser Wolfgang Vogt sei und wer diese M. Gorodnikowa. Einige ausgedachte Geschichten und Beteuerungen später drückte sie endlich einen Stempel auf meinen Passierschein, gepaart mit den Worten: »Das ist jetzt das letzte Mal!« Unten ging ich dann mit dem Passier­schein am Milizionär vorbei, der anerkennend nickte wegen des Stempels, den ich gegen alle Wahrscheinlichkeiten erlangt hatte.

Erschöpft stand ich draußen auf dem Ostrowski-Platz und ging nach kurzer Besinnungspause Richtung Fontanka und überquerte sie in östlicher Richtung. Im Gehen las ich in der FAZ den Artikel von Wolfgang Burgdorf über eine mögliche Lösung zu Griechenlands Finanzproblemen (S. 37). Burgdorf ist ja der Wiederentdecker des großen Johann Nikolaus Becker (siehe Der Umblätterer vom 18. Novem­ber 2010), und auch in Sachen Griechenland geht sein Blick zurück ins Alte Reich, zu den kaiserlichen Debitkommissionen, die in überschul­dete Territorien entsendet wurden.

Während ich so las, rammte ich mitten auf der Rasjesschaja einen bärtigen Mann, der das T-Shirt eines Klezmer-Festivals trug. Genau, es war Psoi Korolenko (Foto hier). Er hatte ebenfalls im Gehen gelesen, nämlich seinen Blackberry. Ich gratulierte ihm, denn heute war nach orthodoxem Kalender Peter-und-Paul-Tag, und Pavel ist ja sein eigentlicher Vorname.

–Und, Konzert nachher?
–Ja eben, genau.
–Bis dann.
–Bis dann.

Erst mal ging ich aber zu einer Feier in den Дюны, wir saßen dort am aufgeschütteten Sandstrand, es gab sehr viel Kuchen usw., und der Herausgeber der führenden Petersburger Literaturzeitschrift erklärte mir sehr ausführlich, wie er alle Straßen in der Umgebung umbenennen würde. Ich hatte nämlich gewagt, die »Uliza Marata«, also die Jean-Paul-Marat-Straße, zum schönsten Straßennamen der Welt zu erklären, und dem widersprach er nun heftig. Dann erzählte noch jemand, dass da in der oberen Etage des Cafés angeblich der gesamte Übersetzungsverkehr zwischen Gazprom und dem Westen erledigt werde, aber eventuell habe ich ein paar Verben falsch verstanden, denn die Aufzählung der Straßennamen und Umbenennungsvorschläge hielt weiter an.

Mit ein paar Бочкарёв machten wir uns dann auf den Weg zum Ligowski-Prospekt, wo in einer WG das Konzert von Psoi Korolenko stattfinden würde. Ich saß zusammen mit 50 Leuten in einem vielleicht 30-qm-Zimmer, und Psoi slammte in sein Casio-Keyboard und sang und herrschte. Zwischendurch las er von seinem Blackberry die nächsten Titel ab und reagierte gekonnt auf Provokateure aus dem Publikum. Gegen Ende hin gab es natürlich auch seinen Smashhit über den Newski-Prospekt (»Все люди б…и, а мир большой бардак«, hehe).

Nach dem Konzert gab es Nudeln und eingelegten Fisch für alle. Ich unterhielt mich unter anderem mit einer Anthropologin von der Columbia, die heute auch versucht hatte, Bücher mit in die National­bibliothek hineinzunehmen. Etwas später traf ich eine weitere Anthropologin (es würde für diesen Tag die letzte bleiben), und wir sprachen eine Weile auf Deutsch über ihre weitläufigen Forschungs­projekte. Ich achtete wie immer in Russland darauf, das Wort »nachher« nicht zu verwenden, denn es klingt ja für Russen wie »на х…й!«, und ich möchte nicht, dass jemand das falsch versteht.

Plötzlich kündigte jemand an, dass die anwesenden Lyriker (es waren ca. fünf bis zehn) gleich ihre neuesten Gedichte vortragen würden. Es war bereits weit nach Mitternacht, die meisten der Gäste verabschiede­ten sich daraufhin. Ich wollte auch schnell weg, aber es stellte sich bald heraus, dass es gar keine Gedichtvorträge geben würde, ich musste die Ankündigung also für ein taktisches Manöver halten.

In den Morgenstunden gingen wir noch ein bisschen zur Fontanka und sprachen über irgendwelche Dinge und Sachen, und ich überlegte, wo ich jetzt am schnellsten die Mittwochs-FAZ herbekommen würde.