»Spiegel« lesen in Detroit

Detroit, 29. Dezember 2015, 23:04 | von Dique

Vor vielen Jahren gab es den »Spiegel« erst am Montagmorgen zu kaufen. Irgendwann gab es ihn dann an Bahnhofskiosken schon am Sonntagabend, jedoch erst ab genau 20 Uhr. Deshalb konnte man manchmal sonntags um 19:45 Uhr Reisende und/oder Wahnsinnige (im Zweifelsfall sich selbst) dabei beobachten, wie sie um eine Ausgabe bettelten.

Denn meist lagen die Stapel schon hinter dem Verkaufspersonal bereit, die aber vor 20:00:00 Uhr noch kein Exemplar aushändigen durften. »Mein Zug fährt um 19:55 Uhr«, hieß es dann, »und ich würde auf der Fahrt so gern den neuen ›Spiegel‹ lesen!« Trotz dieser mittleren bis hohen Beweggründe waren diese Versuche zwar aussichtslos, aber zukunftsträchtig!

Denn in ausgesuchten Städten gab es den »Spiegel« dann bald schon am Sonntag um die Mittagszeit. Seit Wolfgang Büchners Intermezzo als Chefredakteur haben wir uns nun an den Samstags-»Spiegel« gewöhnt (also die, die ihn noch lesen, hehe). Jemand hat gerade errechnet, dass es bei dem aktuellen Tempo der Vorverlegung nur noch ca. 13,4 Jahre dauert, bis der »Spiegel«, nach Freitag, Donnerstag etc., wieder am Montag erscheint.

Ich erwähne den »Spiegel«, weil ich noch irgendwo vor der Abreise einen gekauft habe und seit ein paar Tagen mit mir herumtrage. Wir sind in einem Toyota Prius unterwegs. Der Prius macht beim Anlassen keinerlei Geräusch und ist das wahrscheinlich kleinste Auto hier in der Detroit Area. Bei »Hertz« am Flughafen habe ich sofort für den Prius votiert, weil Larry David in »Curb« immer einen fährt und damit immer so hochzufrieden ist. Später fragen uns tatsächlich noch Einheimische über unsere mögliche Verbindung nach L.A.

Nun, der »Spiegel« ist voller spannender Artikel und scheint mal wieder richtig gut zu sein, fristet aber ein einsames Dasein im Handschuhfach. Im Flieger las ich nur das Editorial an, sah dann einen Film und schlief ein. Ich hab ihn aber immer dabei, auch jetzt, wenn ich ins Detroit Institute of Arts gehe.

Das DIA hat eine Spitzensammlung, die wohl kaum jemand zu Gesicht bekommt. Um das majestätische, weiß strahlende Gebäude herum ist es dystopisch leer, man sieht niemanden auf der Straße an diesem Samstagnachmittag (dem Tag, an dem in Deutschland gerade der neue »Spiegel« erscheinen muss).

Jegliche Geschäftstätigkeit und überhaupt jedwede Bewegung liegt brach. Ab und an sieht man dann doch mal einen Penner mit Hoodiekapuze über dem Kopf und in einen dicken Parka gehüllt umherschlurfen, und mir friert beim Aussteigen aus dem Prius fast ein Ohr ab, so eisig pfeift der Wind. Eine verschlossene Chase Manhattan Bank mit pompösem Art-Déco-Portico schmort still vor sich hin, die Woodward Avenue, die von Detroit weit nach Michigan hineinstößt und am Museum vorbeiführt, ist aufgerissen und überall sind Absperrungen, durch die ich mich schlängeln muss, nur in der Ferne sieht man das berühmte Renaissance Center in den Himmel ragen, die einzige Stelle in Downtown, die noch atmet.

Die Sammlung des DIA wurde 2013 mal auf 900 Millionen USD unterschätzt, denn man überlegte tatsächlich, die Sammlung zu verkaufen, nachdem Detroit in die Pleite geschlittert war. Das Museum hat z. B. einen der besten Bauern-Brueghels, den »Hochzeitstanz«, allein der Wert dieses Bildes liegt bei ca. 900 Millionen oder so. Außerdem hat es einen Caravaggio, den ich gerade bestaune und von dem ich mir gerade vorstelle, dass er echt ist.

Es ist eines der Gemälde, mit dem von Caravaggio oft porträtierten Modell, Fillide Melandroni. Fillide fand den Weg in Caravaggios Pinsel auch bei der unglaublichen »Judith mit dem Kopf des Holofernes«, die heute in Rom im Palazzo Barberini hängt. Vielleicht war es sogar sie, für die Caravaggio 1606 in Rom Ranuccio Tomassoni ermordete, aber wer weiß das schon so genau, Insinuationen im Stil eines Kunstkrimis von Dan Brown oder Helmut Krausser.

Aber das große Highlight im DIA ist der Diego Rivera Court, in dem man von den berüüühmten »Detroit Industry Murals« umringt wird. Oben, unten, monumental und überall, Rivera. Das ist wie mit der Suppe vom »Seinfeld«-Soup-Nazi, nach dem ersten Kosten muss man sich zunächst mal kurz hinsetzen. Wie soll man das beschreiben, ein Satz fällt mir ein, den Frau Prof. Dr. Daniela Hammer-Tugendhat sehr häufig verwendet: »Das muss man wirklich sehen, das kann man sich sonst nicht vorstellen«, oder so ähnlich, zum Beispiel auch irgendwo in der Vorlesung zur »französischen Kathedralkunst der Gotik«, aber auch in der Folge zu Caravaggio und Velázquez und eben auch sonst noch ein paarmal.

Ok, nach dem Museum bin ich noch mit meinem alten Freund Tropical-Heat-Barthel verabredet, den es vor ein paar Jahren überraschenderweise hierher verschlagen hat. Ich hole ihn zu Hause ab und er kann wie alle anderen auch nicht fassen, dass ich hier mit einem Prius rumfahre. Was machen wir nun, wir fahren in die nächstgelegene Mall und gehen zu Starbucks. Als wir wieder draußen auf dem Parkplatz sind, passiert etwas, fast eine Art Zäsur. Wir laufen nämlich zum Prius, der mittlerweile zwischen zwei monströsen Ford F-150 SuperCrew Cabs steht, bei denen er ganz locker auf die Ladefläche passen würde.

Und nun: Wir steigen ein, ich will Tropical-Heat-Barthel zurück zu seiner Familie fahren und dort vielleicht noch ein bisschen mit allen reden, eine Einladung zum Abendessen wurde bereits ausgesprochen. Wir sitzen, ich will gerade die Fahrertür ins Auto ziehen – da fällt mir ein, dass ich den »Spiegel« im Starbucks vergessen habe.

Und was jetzt so in meinem Kopf losgeht: 10 Jahre, 20 Jahre, 25 Jahre »Spiegel«-Lektüre, Augstein und Aust, nicht namentlich gekennzeichnete Riesenartikel, die Achterbahnfahrt des Kulturteils, diese komische Leserbriefauswahl immer, der ganz und gar behämmerte »Hohlspiegel« usw. usw., all das kam mir plötzlich so unfassbar vor. Ich muss natürlich zurück in die Mall und den »Spiegel« holen, das Papier, das Objekt, heute später am Abend oder morgen oder in zwei Wochen würde ich diese glänzenden Seiten in Händen halten und »Spiegel« lesen, unterwegs, in der Bahn, im Café, im großen Irgendwo. Aber man kann die Artikel ja auch im Netz lesen, irgendjemand schickt auch immer mal einen PDF-Auszug vorbei usw., und will ich jetzt der Typ sein, der in diese dann ja doch irgendwie schreckliche Mall zurück geht, um einen liegengelassenen Print-»Spiegel« zu holen?

Hin- und hergerissen, es ist wirklich auch kognitiv anstrengend, ich forme schon Sätze, »äh, ich muss leider noch mal kurz in den Starbucks«, was insgesamt locker viereinhalb Minuten dauern würde, und der Freund hier allein im Auto, eingequetscht zwischen zwei Ford-Supertankern, die ihm das Licht rauben, vielleicht insgesamt trotzdem kein Problem, keine große Sache, viereinhalb Minuten, aber so ein sinnloses Detachment kann ja auch einen ganzen Abend verderben. Print-»Spiegel«! Wohin ziehst du mich, / Fülle meines Herzens, / Print-»Spiegel«! / Welche Wälder, welche Klüfte / Durchstreif ich mit fremdem Mut! Eine Horaz-Nachdichtung von Novalis, so was fällt mir jetzt ein, und ich weiß nicht, was ich tun soll, ich muss dich holen gehen, ich muss, natürlich, und ich werde.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 116
César Aira: »Wie ich Nonne wurde« (1993)

Göttingen, 5. Dezember 2015, 18:08 | von Paco

Rosa beginnt das Buch und rosa wird es enden. Thematisch ist es ziemlich gelungen, denn es geht um den unbändigen Hass auf Erdbeereis und die Kurzzeit- sowie Langzeitfolgen dieses Hasses. Aira spielt in seiner Novelle mal wieder selber mit, diesmal als sechsjähriges Mädchen im Körper eines sechsjährigen Jungen. Das Wort ›Nonne‹ kommt außer im ersten Satz der Novelle überhaupt nicht mehr vor. Also muss man von der ›monja‹ = ›Nonne‹ aus dem Originaltitel wohl die Silben umkehren, wie das auch schon vorgeschlagen wurde, kuckt mal in Fußnote 17 in diesem PDF. Und auch ›jamón‹ = ›Schinken‹ ist ja rosa, rosa wie Erdbeereis, und das ist doch wirklich mal eine ziemlich unerwartete gedankliche Verschränkung zweier rosafarbener Lebensmittel! Zumal die Protagonistin Aira eben auch irgendwie als Schinken enden wird. Eine weitere mögliche Übersetzung des Titels wäre daher gewesen: »Wie ich Kenschin« wurde, aber wie klingt denn das, und der Aira-Übersetzer Klaus Laabs, hier wie immer in Hochform, hat es natürlich auch bei der »Nonne« belassen. Auf Laabs kann man übrigens mal richtig schön neidisch sein, denn er darf gerade für die »Bibliothek César Aira« von Matthes & Seitz Berlin einen ganzen Schwung Aira-Bücher übersetzen, das Nonne-Schinken-Buch ist gleich als Nr. 1 in dieser Reihe erschienen, eine gute Wahl.

Länge des Buches: ca. 143.000 Zeichen (span.). – Ausgaben:

César Aira: Wie ich Nonne wurde. Berlin: Matthes & Seitz 2015. S. 3–126 (= 124 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Aus einem Interview

München, 28. November 2015, 22:01 | von Josik

 
The European: Was soll man da überhaupt noch Neues von Ihnen bei der »Welt« erwarten?

Matthias Matussek: Ach, ich glaube, ich käme von jetzt an auch so über die Runden …

 
Quelle: »The European«, 3. Februar 2014 [sic]
 

Kaffeehaus des Monats (Teil 86)

sine loco, 23. November 2015, 16:59 | von Mynaral

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Le Napoleon, Paris, ein wie immer absichtsvoll schlechtes Foto, sry

Paris
»Le Napoléon« in der Rue du Faubourg-Saint-Denis.

(Das »Napoléon« hat eigentlich nur zwei entscheidende Vorzüge: Erstens natürlich den mutigen Namen und zweitens – ebenfalls natürlich – die wunderbare Feldherrenhügellage der Terrasse. Von da aus hat man nämlich mit der Rue du Château-d’Eau und ihren dicht an dicht gelegenen afrikanischen Friseursalons und der Rue du Faubourg-Saint-Denis die beiden wichtigsten Achsen des zehnten Arrondissements idealstens im Blick. Und weil mir immer über die französische Unfreundlichkeit geklagt wird: Vor ein paar Tagen bat ein Mann vor dem Café um etwas Kleingeld und wurde von einem der Gäste gleich noch auf einen Espresso am Comptoir eingeladen. Wir sinnierten inzwischen über die hellseherischen Fähigkeiten des Ersten Konsuls, denn immerhin hatte er ja nach der Lektüre der Géographie von Lacroix in eins seiner Jugendhefte die Worte »Sainte-Hélène, petite île« vermerkt. Ob Tageszeitungen im »Napoléon« ausliegen, weiß ich jetzt gar nicht, denn den Innenraum des Cafés habe ich noch nie betreten.)
 

Die beste Fernsehsendung des Jahres

München, 16. November 2015, 09:51 | von Josik

 
Liebe Freunde der Eisenbahn,

in der Nacht von heute (Montag, 16.11.) auf morgen (Dienstag, 17.11.) kommt von 0.30 Uhr bis 0.55 Uhr auf RTL die beste Fernsehsendung des Jahres: Alexander Kluge befragt Sören Urbansky zur Geschichte der Ostchinesischen Eisenbahn. In der Ankündigung zu dieser Sendung heißt es:

»Was heute von Silicon Valley erwartet wird, wurde damals von dem Gelände rechts und links dieser Eisenbahnstrecke erwartet. Auf ihr zuckelten von Dampflokomotiven gezogene traditionelle russische Waggons, während auf den Gleisen gegenüber der legendäre japanische Asia-Fernexpress dahinjagte. Im verglasten Salonwagen dieses futuristischen Zugs (mit Blick vom Heck) hatte man eine Aussicht wie aus einem Raumschiff.«

Niemand, der das schaut, wird es bereuen, wage ich zu behaupten. Und auch wenn Lessing jetzt vorlaut schreien würde: »Ich bin dieser Niemand«, können es ja alle anderen trotzdem schauen.
 

Die neuen Feuilletons

Berlin, 7. November 2015, 09:55 | von Paco

Wir kamen natürlich grad aus dem Fitnessstudio und sprangen endlich wieder auf allen Satellitenbildern als pulsierende Punkte durch Neukölln. Gleich im nächstbesten Laden tranken wir ein salziges Lassi und da fiel uns ein, dass wir ja in die »Merkur«-Redaktion eingeladen waren. Das hatte spontan der Untote Ostgote vermittelt, also rein in die Ringbahn und ab nach Charlottenburg.

Man schrieb Mittwoch, es war der Tag, an dem in der »Süddeutschen« eine Rezension zu Alban Nikolai Herbsts »Traumschiff«-Roman erschienen war. Wie gebannt hatte ich nicht die Rezension selber gelesen, sondern alles, was ANH dazu zu kommentieren hatte. Sein praktisch tägliches Arbeitsjournal ist mit das Beste, was zur Zeit an deutscher Literatur entsteht, aber das weiß jetzt logischerweise noch niemand.

Auch ich hatte das Journal die letzten paar Jahre etwas aus den Augen verloren, bis ich neulich die schöne Dissertation von Innokentij Kreknin komplett durchlas, »Poetiken des Selbst«, wo es neben Rainald Goetz und Joachim Lottmann auch um ANH und sein Weblog »Die Dschungel« geht.

Der schönste Satz zum zweiten der genannten Autoren steht übrigens auf Seite 5 der Dissertation und lautet: »Zu Joachim Lottmann existiert außer einem Aufsatz von Heinz Drügh überhaupt keine nennenswerte Forschungsliteratur.« (siehe Google Books) Na gut, die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten zu Lottmann hat sich durch Kreknin nun auf zwei erhöht, Tendenz steigend.

Wir waren jetzt doch zu früh dran, spazierten ultralangsam um den Lietzensee herum, und genauso ultralangsam verging die Zeit, weswegen wir noch kurz ins Café Manstein hineingingen. Da gibt es auch Zeitungen, ich las dann in der SZ doch noch die Originalkritik zu ANHs »Traumschiff«, geschrieben hat sie Insa Wilke, aha, nicht schlecht, wirklich nicht schlecht.

Nun war es aber Zeit, ein 15-minütiger Spaziergang lag noch vor uns, und wir passierten dabei auch die Suarezstraße. Ohne es schon zu wissen (»little did we know«), gab der Straßenname dann gleich ein Thema unseres Treffens vor. Nach einer kleinen Privatführung durch die urschöne »Merkur«-Redaktion gingen wir zusammen mit Christian Demand und Ekkehard Knörer rüber ins Haus der hundert Biere und um uns herum saßen an jedem anderen Tisch die sprichwörtlichen Drei Damen vom Grill, so ist das hier und so ist es exakt gut. Und irgendwann kamen wir nämlich auf Suárez zu sprechen, und zwar auf Luis, und zwar auf den 2. Juli 2010 und die letzte Spielsekunde im WM-Viertelfinale, diese weltgeschichtliche Szene voller Drastik und Spannung, dieses Brennglas ethischer Kernfragen des menschlichen Daseins.

Dann ging es noch um das neue Feuilleton der NZZ, das neue Feuilleton der FAZ und überhaupt die neuen Feuilletons aller anderen Zeitungen, und es war einfach ein sehr herrliches Treffen, und besonders mit @knoerer verbindet uns ja ein gegenseitiges Gutfinden, das auf immer komplett gegenteiligen Meinungen beruht, außer eben, wenn es um die Suáreztat geht, denn da herrschte schon stets triste Einmütigkeit.

Später waren wir wieder allein unterwegs nach Kreuzberg und trafen noch Marcuccio im internationalen Restaurant Kuchenkaiser. Die besten Anekdoten der Frankfurter Buchmesse machten noch mal die Runde, Essen und Trinken wurde gereicht, wir bestätigten uns noch mal, wie gut wir alle die erste Sendung des neuen »Literarischen Quartetts« fanden usw. usw., und dann war es Zeit zu gehen und wir verabredeten uns für den nächsten Tag wieder im Fitnessstudio, denn dort ist es doch immer so absolut super.
 

Dr. Fellinger antwortet

München, 15. Oktober 2015, 14:49 | von Josik

Es war damals am 18. März 2013 um Peter Handke gegangen. Sein »Versuch über den Stillen Ort« (2012) war in der Reihe zu 100-Seiten-Büchern hier im Umblätterer besprochen worden. Als Erklärung zu den auffälligen Diskrepanzen zwischen Handkehandschrift und Handkedrucktext hatten wir uns erhofft:

»Vielleicht wird Herr Dr. Fellinger oder wer auch immer einmal dazu Stellung nehmen müssen, wie es zu solchen Inkohärenzen kommen konnte.«

Dann verging das Jahr 2013, das Jahr 2014 kam und verging ebenfalls, und dann war es 2015, erst Januar, dann Februar, und noch weitere Monate kamen, aber dann plötzlich, um mit Christian Kracht zu sprechen: »Es war September. Ein Falter hatte sich auf mein Augenlid gesetzt. Er hatte sich in die Bewegung der Wimpern verliebt. Zeitgleich mit dem Öffnen und Schließen des Auges schlug er seine Flügel.«

Und ebenfalls im September, also quasi zeitgleich mit dem Flügelschlag des Kracht’schen Schmetterlings und nur zweieinhalb Jahre nach unserer verunsicherten Handkelektüre, reagierte eben jener Herr Dr. Fellinger auf diese nach wie vor aktuelle Verunsicherung. Es stand im Suhrkamp-Blog »Logbuch. Deutschsprachige Literatur heute« und ging so:

»Es gibt Passagen in den faksimilierten Seiten, die, mit leichten Änderungen, in die Buchfassung übernommen werden – […] Erst durch Umstellungen, Weglassen und Hinzufügen des im Notizbuch Festgehaltenen entstehen die einzelnen Sätze und deren Aufeinanderfolge im gedruckten Text […] Dabei vollzog sich die Transposition […] – allerdings, das macht die entscheidende Differenz der Druckfassung aus, unter Rückgriff auf Erinnerungen/Erfahrungen/Eindrücke, die sich einstellten im ›Abenteuer, im Tun/Schreiben‹ (so [Handke]), also während der Niederschrift, sowie unter Rückgriff auf die mit dem Buchprojekt teilweise viele Jahre vorher verbundenen Buch-Phantasien.«

Als stetig Antwortsuchende, als Handke-Adepten, als Fellinger-Fans könnten wir nicht dankbarer sein. Das »Logbuch« sollte man eh immer lesen, Handke sowieso, und wo bleibt eigentlich der nächste Teil des »Blauen Montags«, der zurzeit wohl besten Youtube-Sendung überhaupt?
 

Über Geheimnisse

München, 10. September 2015, 12:40 | von Josik

In absehbarer Zeit dürfen nichtrussische Unternehmen ja nur noch maximal 20% an territorialrussischen Medien besitzen. Und ebenjene 20% an den in Russland erscheinenden Titeln von Axel Springer wird dann wohl, wie ich grade gelesen habe, Regina von Flemming übernehmen.

Von ebenjener Regina von Flemming hat das russische Literaturmagazin »Russkij Pioner« im April einen Text über Geheimnisse veröffentlicht, der in der Print-Ausgabe lustigerweise nur auf Deutsch zu lesen war (hier ein bisschen nach unten scrollen).

Und in diesem sensationellen Flemming-Text geht es um Barack Obama, George Bush sen., Georg Simmel, Friedrich Nietzsche, Gail Saltz, Teddybären, Batman, Martin Luther, Athanasius Kircher, Benjamin Franklin, Heinrich Himmler, Alois Hahn, Bill Clinton, Monica Lewinsky, Oscar Wilde, Sigmund Freud, Samuel Provance, Giuseppe Manzini usw. usw.
 

Moskau

Moskau, 26. Juli 2015, 21:52 | von Paco

Folge ich also dem Ruf der drei Tschechow-Schwestern, nach Moskau, nach Moskau. Die Uni hat einen Driver nach Domodedovo geschickt, irgendwie muss ich ihn als erstes fragen, aus großem Interesse heraus, wie so das Leben in Moskau ist. Er atmet schwer, aber auch ein bisschen lustig auf, na ja, schwierig, mühsam, kompliziert und so. Er erzählt lieber von seinem Herkunftsland Armenien, dem ersten Land, in dem das Christentum Staatsreligion wurde, noch vor Rom. Bitte? Wie? NOCH VOR ROM! Ach so, okay. Das muss also im Jahr 301 gewesen sein und das nehme ich sozusagen als Fun Fact mit ins Hotel.

Dann gleich wieder hinunter auf die Straße und rein ins Moskau unserer Zeit, ich durchquere ein paar Fußgängertunnel, alles schön, spaziere eine Weile einfach so umher und kaufe auf dem Rückweg noch eine Flasche Kwas ein und an einem Kiosk den aktuellen »Russkij Pioner« und das aktuelle »Snob«, die vielleicht (!) beiden besten Magazine unserer derzeitigen Welt.

Nächster Tag, nach meinem Vortrag an der Uni komme ich mit einem Postdoc ins Gespräch, der gerade Morettis »Distant Reading« nach Russisch übersetzt. Wir gehen dann noch mit ein paar anderen Leuten zum Essen, Stolovaya-Style, und so geht der Abend dahin und am nächsten Tag habe ich ein bisschen Zeit. Ich will da eigentlich nur die Boulevards entlang spazieren und habe dabei Pupkulies & Rebecca als Soundbett im Ohr.

Die Menschen sind freundlich und lachen, mittendrin steht ein bunter Donbassrekrutierungswagen und ich merke, dass irgendwie jede ältere Frau, an der ich vorüberlaufe, wie Irina Antonowna ausschaut. Auch deshalb gehe ich wie automatisch zu ihrem Puschkin-Museum, stehe dann davor und finde die Säulen da schön und gehe dann auch rein, 300 Rubel. Ich sehe mir praktisch nur das berühmte Geschmeide an, das Schliemanns Frau sich mal aufgesetzt hat, ist doch nicht schlecht, diese Trophäenkunst.

Eine knappe halbe Stunde später stehe ich wieder draußen und freue mich ziemlich über den gelungenen Nachmittag und da fällt mir wieder ein, dass ich ja für Ruth ein Selfie auf dem Roten Platz schießen soll, und das tue ich dann eben und gehe dann noch ins Kaufhaus Gum rein, alter Sehnsuchtsort, und schaue da ein bisschen gedankenverloren herum.

Dann wieder mit Pupkulies & Rebecca die Boulevards lang, ich will so mittelfristig, jedenfalls nicht zu schnell, zu den Deti Rayka, und da ich die beiden Magazine von gestern nicht mit mir mithabe, kaufe ich sie einfach beide noch mal und gehe dann ins Kaffeehaus des Monats und dort gibt es zu essen und zu trinken und dann lese ich und lese.
 

Besuch im Serienland #10:
Die 15 besten US-Serien der Saison 2014/15

Göttingen, 15. Juni 2015, 13:48 | von Paco

Na gut, also doch noch eine US-Serien-Top-15. Die »Trailer Park Boys« (zu denen ich vor Jahren mal einen längeren Artikel geschrieben habe) sind natürlich nicht US, sondern kanadisch to the bones, aber egal. Ansonsten hat sich der Qualitätsserienkosmos in den letzten Jahren ja international ziemlich ausgeweitet, meine Top-3 waren da das brasilianische »O Negócio«, das italienische »1992« und das dänische »1864«. Vielleicht bald mal Zeit für eine internationale Liste.

Die Seriencharts der letzten Jahre sind hier: 2005/06, 2006/07, 2007/08, 2008/09, 2009/10, 2010/11, 2011/12, 2012/13, 2013/14.

Die Charts kommen heute zum zehnten Mal, insgesamt sind wir jetzt bei 135 gelisteten Staffeln, und angefangen übrigens hatte damals alles bei satt.org und serienjunkies.de. Diesmal gibt es aber nicht mal mehr Liner Notes zum Ranking, und wo die Stelle ist, ab der nicht mehr gute, sondern eher ziemlich schlechte Staffeln gelistet werden, bleibt wie immer unverraten:

1. Mad Men   (7. Staffel/zweite Hälfte, amc)
2. Game of Thrones   (5. Staffel, HBO)
3. Trailer Park Boys   (9. Staffel, Netflix)
4. Boardwalk Empire   (5. Staffel, HBO)
5. Better Call Saul   (1. Staffel, amc)
6. Louie   (5. Staffel, FX)
7. House of Cards   (3. Staffel, Netflix)
8. Lilyhammer   (3. Staffel, Netflix)
9. Veep   (4. Staffel, HBO)
10. The Comeback   (2. Staffel, HBO)
11. Silicon Valley   (2. Staffel, HBO)
12. Episodes   (4. Staffel, Showtime)
13. Girls   (4. Staffel, HBO)
14. Marco Polo   (1. Staffel, Netflix)
15. Homeland   (4. Staffel, Showtime)

Ach so, einen der besten Artikel zum Serienhype und vor allem zu der hilflosen Behauptung, die US-Serien der letzten Jahre hätten den Roman abgelöst, hat Jan Küveler in der »Welt« geschrieben, bitte lest den alle.