Archiv des Themenkreises ›Kunstkunst‹


Genudelt voll mit Pontormo

Hamburg, 17. November 2009, 08:15 | von Dique

»Il Libro Mio« heißen die Aufzeichnungen Pontormos aus seinen letzten beiden Lebensjahren, 1554–1556. Inhaltlich geht es im Wesentlichen um seine Nahrungsaufnahme und das leibliche Wohl bzw. meist Unwohl, Darmstörungen, das Zipperlein allgemein und das schlechte Wetter.

Angaben über sein künstlerisches Schaffen werden eher uninspiriert erwähnt und sind ohne Kontext kaum nachvollziehbar. Er sagt maximal, dass er »Dienstag und Mittwoch den Alten gemacht (hat) mit seinem Arm und zwar so: (…)«. Dahinter sieht man dann eine kleine Miniskizze, nur aus ein paar Strichen bestehend.

Zu kompositorischen oder inhaltlichen Fragen des von ihm Erschaffenen äußert er sich gar nicht. Dafür erwähnt er immer und immer wieder die Essen mit seinem ehemaligen Schüler und Freund Bronzino:

»Sonntag, Mittagsmahl mit Bronzino
fühlte mich genudelt voll, also
nichts zum Abendessen.«

Ich las die deutsche Ausgabe des Buches. Für »satt sein« nimmt der Übersetzer meist »genudelt« oder »genudelt voll«. Das sagt doch aber eigentlich niemand. Vielleicht wurde das aus atmosphärischen Gründen benutzt, oder es ist tatsächlich die beste Entsprechung zum Original.

Folgt man der Beschreibung einer typischen Woche im Hause Pontormo, dann ist vor allem sonntags eine Nudelorgie fällig:

»Sonntag Mittagsmahl mit Bronzino, kleine Nudeln.
Montag den Helm.
Dienstag den Kopf (…)
Mittwoch den Rumpf; und kein Abendessen.
Donnerstag den Arm; und zum Abendessen Eierfisch.
Freitag den Leib, es war St. Lukas, zum Abendessen Eier und
14 Unzen Brot und Kohl.
Samstag den Arm und wo er sitzt; zum Abendessen Eier und
9 Unzen Brot und 2 Dörrfeigen.
Sonntag, Mittagsmahl mit Bronzino, kleine Nudeln,
Abendessen auch mit ihm.«

Zur Zeit der Aufzeichnungen arbeitete Pontormo in der Florentiner Kirche San Lorenzo an einem Jüngsten Gericht, vor dessen Fertigstellung ihn der Tod ereilte. Vasari erwähnt in der Vita des Pontormo den langen Zeitraum, der für dieses Werk draufging. Elf Jahre brachte er damit zu, in einer Kapelle »mit Mauern, Bretterwänden und Planen verhüllt und sich völlig der Einsamkeit hingegeben«.

Vasari wirft Pontormo, der stark von Dürers Druckgrafik inspirieren war, auch ständig vor, sich seinen eigenen Stil durch die Nachahmung des deutschen Stils ruiniert zu haben. Zwar lobt er die frühen Werke und lobt deren Maler als großen Meister, doch kann er mit seinem Spätwerk wenig anfangen. So auch mit dem Ergebnis des Freskos in San Lorenzo:

»Statt dessen malte er überall nackte Figuren in einer Ordnung, einem disegno, einer Bildfindung, Komposition und Farbgebung, die er nach seinem Sinn gestaltete und dazu in einer so tiefen Melancholie und für den Betrachter so wenig ansprechend, daß ich beschlossen habe, das Urteil darüber jenen zu überlassen, die es sich anschauen werden, da ich es noch nicht verstehe, obwohl ich selbst Maler bin. Ich befürchte nämlich, dabei verrückt und verwirrt zu werden, so wie er scheinbar in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit von elf Jahren sich selbst und jeden anderen zu verwirren suchte, der diese Malerei mit derartigen Figuren betrachtet.«

Dieses Urteil können wir uns nicht mehr bilden, denn das Werk wurde Mitte des 18. Jahrhunderts übertüncht und schlussendlich wurde gar die Mauer eingerissen, auf der es sich befunden hatte. Alles, was uns bleibt, sind einige seiner Skizzen und Studien und das etwas verwirrende »Libro Mio«.


Herkules Farnese

Neapel, 12. Oktober 2009, 16:01 | von Dique

»Ich lief eine Stunde in Pompeji herum und sah, was die anderen auch gesehen hatten, und lief in den aufgegrabenen Gassen und den zutage geförderten Häusern hin und her. Die Alten wohnten doch ziemlich enge.«

Das sind Johann Gottfried Seumes Bemerkungen zu Pompeji, und auch Goethe markiert die beengten Wohnverhältnisse »der Alten« in seiner italienischen Reise. Die besten Schätze aus Pompeji sieht man aber sowieso in Neapel selbst, nämlich im Museo Archeologico Nazionale. Also einfach in der Stadt bleiben, in der Bar Antille Seume lesen und dann ab ins Museum.

Vom Bahnhof kann man mit der U-Bahn direkt hinfahren. Die Linea 1 ist aber keine herkömmliche U-Bahn, hier verkehren ausrangierte Züge, die man für den überirdischen Verkehr einfach niemandem mehr anbieten kann. Für die nassfeuchten Untergrundschächte gehen sie aber gerade noch.

Tatsächlich geht es da unten tropisch zu. Es riecht ungeheuerlich vermodert, so wie in einer alten Waschküche, und die Atmosphäre hat was vom pestilenzartigen Modergeruch, den HPL in seinen Erzählungen gern mal verwendet. So mancher Tourist hält das für die Katakomben und fotografiert gleich gnadenlos durch die angelaufene Linse seiner Digicam. Frauen sehen nach weniger als zwei Stationen so aus wie Elaine in der »Seinfeld«-Episode »The Strike« (Folge 9.10) – in der sie in einem Bagel-Shop mit defektem Wasserrohr, aus dem Dampf strömt, auf einen Anruf wartet – also wie in Klamotten geduscht. Ich gehe also zu Fuß.

Es gibt viel Streit darum, welches Exponat denn der größte Hit des Museo Archeologico Nazionale sei, der Herkules Farnese oder der Farnese-Bulle, das Alexandermosaik oder die verschiedenen Wandzeichnungen aus Pompeji. Im Museum selbst spielt das aber eher eine untergeordnete Rolle. Hier sieht’s aus wie die berüchtigten Kraut und Rüben. Unzählige Räume sind abgesperrt, der Farnese-Bulle ist eingerüstet und auch nur aus der Ferne zu betrachten. Außerdem ist es staubig, wie in Pompeji, das ist vielleicht so geplant.

Trotz der vielen geschlossenen Räume kann man sich hier einen Tag lang rumdrücken. Und den Riesen, den Koloss, den Giganten, den Herkules Farnese kann man sich in seiner ganzen Pracht auch in Ruhe von allen Seiten anschauen. Er ist umringt von den drei anderen Besuchern, die sich heute in diese vielleicht weltweit beste Antikensammlung verirrt haben.

Der voluminöse Herkules ist eine aufgeblähte Kopie von Glykon nach einem Original von Lysippus, die man im 16. Jh. in Rom gefunden hat. Lange Zeit stand die Statue dort in der Villa Borghese zur Schau, bis sie dann nach Neapel gelangte. Als man den Herkules fand, fehlten die Beine ab unter dem Knie und wurden dann zeitgenössisch ersetzt. Das Ergebnis war okay so bis man die richtigen, die originalen Beine viele Jahre später ausfindig machte und dann selbstverständlich ersetzte. Goethe hatte den Herkules mit beiden Beinversionen gesehen und für ihn war die Qualität der Gliedmaßen ein Unterschied wie Tag und Nacht. Hinter dem Herkules an der Wand findet man dann auch entsprechendes Goethezitat, direkt neben den kopierten Beinen, die mir aber eigentlich ziemlich gut gefallen.

Ich wollte eigentlich nur kurz den Herkules sehen und mir dann noch den dritten und letzten Caravaggio Neapels ansehen, »The Martyrdom of St Ursula«, wohl sein letztes Bild, gemalt im Jahr seines Todes, 1610. Vorher stolpere ich aber noch an der Mosaikensammlung vorbei, wohl die besten und berühmtesten der Welt. Darauf wird aber in Understatement-Neapel nicht groß herumgepocht, denn es gibt mal wieder keine Wegweiser, also gelange ich eher zufällig dort hin, einem riesigen Schild folgend, das auf den Lift hinweist.

Im Hintergrund sehe ich dann aber plötzlich auf das Alexandermosaik, gefunden in Pompeji, wie die meisten Exponate. Alexander gegen Darius, in Pompeji liegt heute nur noch eine Kopie, hier, an der Wand, das Original. Die beiden Helden von Kämpfern umringt, Alexander angriffslustig zu Pferd und Darius, leicht verängstigt, auf einem Streitwagen.

Schade, dass ich den »Alexander«-Film mit Colin Farrell gesehen habe, denn leider habe ich jetzt diese Bilder im Kopf. Ich versuche sie mir mit Alexander- und Darius-Lektüre quasi wegzulesen, und das passiert manchmal rein zufällig, wie kürzlich in Arno Schmidts »Aus dem Leben eines Faun«:

Der Verwaltungsbeamte Düring unterhält sich mit einem Pastor, der nebenbei Alexander-Spezialist sei, »Aber Herr Pastor ! Da haben wir doch nur ganz späte und unzuverlässige Quellen ! Und auch die lediglich auf Berichten seiner eigenen Anhänger aufgebaut: Die Drittelswahrheit ! : das Andere muß aber auch dargestellt werden !« »Aber nein, Herr Pastor ! : denken Sie sich, wir hätten eine Geschichte unserer Zeit, nur auf Grund der Tagebücher von Goebbels und Göring : na ?!«

So sieht’s nämlich aus. Cave canem und dann muss ich aber los, die Via Toledo runter und zum Caravaggio, im zweiten Stock der Banca Commerciale Italiana.


Bartolomeo Bimbi, der Birnenmaler

Neapel, 4. Oktober 2009, 13:36 | von Dique

Ich bin auf dem Weg zum Museo di Capodimonte. Als ehemalige Sommerresidenz liegt es ein bisschen außerhalb auf einem Hügel. Ich fahre mit einem Bus des öffentlichen Nahverkehrs hinauf. Das Capodimonte hält eine ziemlich spektakuläre Bildersammlung, doch das scheint heute und vielleicht auch sonst überhaupt niemanden zu interessieren. Das menschenleere Haus steht in einem wunderschönen Park und ist durch kaum ein Hinweisschild erschlossen. Irgendwo ist mal ein kleiner Pfeil zu sehen, auf dem einfach nur Museo steht.

Hier befindet sich die Nummer 2 der in Neapel befindlichen Bilder von Caravaggio. Auch sonst wird man in der ganzen Stadt ständig von Caravaggio-Effekten angeblinkt. Wenn man nur eine Kirche betritt, hängen da überall die Bilder der Neapolitaner, die ihren Style in seinem Fahrwasser entwickelt haben. Einige der unzähligen Bilder sind sehr gut, andere beinah grotesk in der kopierten Übertreibung.

Im Capodimonte nun »The Flagellation«, auch hier in Neapel im Jahre 1607 entstanden und eventuell erst bei Caravaggios zweitem Kurzbesuch in der Stadt beendet. Die Hängung ist fabelhaft, denn man sieht das Bild schon aus weiter Ferne und kann einen langen Gang darauf zuschreiten, bis man dann in der exklusiven, abgedunkelten Nische steht. Die Dunkelheit des Raumes lässt die sadistische Figurengruppe um den Christus noch effektvoller aus der Dunkelheit heraus scheinen. Christ responds naturally, with involuntary physical reaction, His powerful physique emphasizing His helplessness and sense of degradation.

Dann geht es durch mehrere Räume mit Caravaggisti und dann irgendwann in die Stillleben-Abteilung: wunderschöne Bilder von Recco und Ruoppolo, aber auch zwei unglaubliche Gemälde, die riesige Stapel von Birnen zeigen, Birnen, Birnen, Birnen, und sie sind zu einer Pyramide gestapelt, auf einem silbernen Tablett. Der Hintergrund ist dunkel, man sieht also somewhat Caravaggesque die aus der Dunkelheit herausstrahlenden Birnen liegen. Unten am Rand des Tabletts oder der Tabletts, denn beide Bilder ähneln sich sehr, hängen dann noch drei vereinzelte Birnen.

Verglichen mit dem Apfel ist die Birne eine Frucht, die recht selten auf Gemälden auftaucht. Es gibt zwar ein paar gemalte Madonnen mit Birne, und da ist die Symbolik der Frucht dann auch klar. Nirgends sonst aber taucht sie so prominent und in solcher Menge auf wie hier. Der Maler des Bildes heißt Bimbi, Bartolomeo Bimbi, ein Florentiner, der sich auf Blumen- und Früchtebilder spezialisiert hat.

Die beiden Birnenbilder sind jedenfalls ziemlich grauenhaft, auch nicht sehr toll ausgeführt. Sie sind vielleicht auch not so much a still-life as a psychological portrait of fruit, sehen mit diesen Birnenpyramiden jedenfalls herrlich bizarr aus. Ich kannte Bartolomeo Bimbi nicht und hatte still gehofft, dass er sich in seinem Œuvre fast ausschließlich der Birne verschrieben hat. Dem ist leider nicht ganz so, aber in Neapel bekommt man eine Ahnung von den hochfliegenden Birnenträumen des Bartolomeo Bimbi.

Ein anderes eher selten gemaltes Gemäldegemüse ist die Gurke. Vor allem Carlo Crivelli nahm sich ihrer an: Mal brachte er sie ganz einsam auf dem Marmorboden weit vor einer Madonna mit Kind liegend, mal ein bisschen versteckt im Gemüsekranz im Hintergrund, aber immer hervorragend und mit Liebe zum Detail ausgeführt. Die Gurke hat natürlich phallische Bedeutung, Unkeuschheit usw., dennoch darf man sich über ihre Omnipräsenz im Werk von Carlo Crivelli ein bisschen wundern, so wie über die Birnen von Bartolomeo Bimbi. Aber vielleicht fand Bimbi die Birne auch einfach nur schön.


Die sieben Werke der Barmherzigkeit

Neapel, 1. Oktober 2009, 10:22 | von Dique

Gerade in Neapel angekommen und trotz Sonnenscheins wirkt die Altstadt so dunkel wie die neapolitanische Malerei des 17. Jahrhun­derts. Caravaggio hielt sich nur ca. zehn Monate in der Stadt auf, nachdem er in Rom zum Mörder geworden war, hinterließ aber in dieser kurzen Zeit einen ungeheuren Eindruck auf die Malerschaft der Stadt. Am auffälligsten ist sein Einfluss bei Ribera, dem kleinen untersetzten Spanier, lo Spagnoletto.

Denkt man heute an Neapel, denkt man vielleicht nicht gleich an Caravaggio, Ribera und die Caravaggisti, sondern mit Medienbias an die so genannte Müllmafia. Zur Zeit der neapolitanischen Caravaggisti war das sicher ganz anders, allerdings gab es eine Art Malermafia, denn Jusepe de Ribera, Battistello Caracciolo und Belisario Corinzio formten eine tyrannische Verschwörung.

Barmherzigkeit, Ausschnitt

Zog ein auswärtiger Maler einen lukrativen Auftrag in Neapel an Land und war mutig genug, diesen anzunehmen, konnte er sicher sein, dass er von Ribera und seinen Schergen bedroht würde. Ein Assistent von Guido Reni verließ die Stadt schleunigst, nachdem er, wahrscheinlich von Corinzio persönlich, an der Schulter verletzt wurde. Als später Domenichino in die Stadt kam, um einen Freskoauftrag zu übernehmen, erhielt er sofort Drohbriefe von der Ribera-Gang.

Der arme Domenichino traute sich kaum auf die Straße, maximal um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Die Nahrungsaufnahme ward ihm zur Qual, weil er unter der ständigen Angst lebte, sein Essen könne vergiftet sein. Und nun werde auch ich gerade in Neapel fast vergiftet:

Ich habe in Berlin-Schönefeld dem Hunger widerstanden, weil ich mich schon auf das Essen in Neapel freute. Es ist dann 16 Uhr, als ich die Via Tribunali betrete, also keine klassische Essenszeit, und ich will mir nur einen kleinen Snack genehmigen. Ich gehe in die schlimmste Snackbar von ganz Neapel und der Welt überhaupt, La Taverna Di Totò.

Barmherzigkeit, Ausschnitt

Ich esse eine gefüllte Teigtasche und eine Krokette, beide sind so trocken, so alt, dass ich mir gut vorstellen könnte, dass sie noch von Ribera persönlich vergiftet wurden. Am nächsten Tag, zwischendurch habe ich dann tatsächlich schon mal gut zu Abend gegessen und gefrühstückt, würde ich noch mal bei dieser snack bar from hell vorbeikommen und nicht begreifen können, wieso ich heute dort hineingehen musste.

Jetzt ist es aber immer noch heute und ich habe noch diesen furchtbar trockenen Geschmack im Mund und laufe angeschlagen die Via Tribunali hinunter. Nach ein paar Metern drehe ich mich beinah zufällig nach rechts, einfach so, als sei nichts gewesen, und sehe in der Ferne ein monströses Altarbild.

Unter den baufälligen Arkaden tut sich ein Kircheneingangsportal auf. Obwohl ich in der Stadt noch keine Orientierung besitze, weiß ich, dass diese Kirche die Pio Monte della Misericordia ist, denn über dem Altar in der Ferne sind »Die sieben Werke der Barmherzigkeit« zu sehen, von Michelangelo Merisi genannt Caravaggio.

Barmherzigkeit, Ausschnitt

Was für ein Moment, ich habe diesen furchtbaren Geschmack im Mund und rieche nach schlechtem Weichspüler, weil ich kurz unter frisch aufgehängter Wäsche gestanden habe, die mich duschte, als ich den Rest der fürchterlichen Krokette entsorgte. Einen Laden weiter gibt es Schuhe für 3 Euro, gleich daneben frischen Fisch, und da hinten in der Kirche hängt dieses herrliche Bild.

Ich kann aber nicht in die Kirche, weil gerade irgendwelche Dreharbeiten stattfinden und mir der Eintritt verwehrt wird. Nach einer Weile gehe ich einfach weiter und erinnere mich an ein paar Worte von Robert Hughes zu diesem Bild. »Once again, Caravaggio’s eye, the gesture and expression working through the dark has made its rhetorical point. It’s almost, if not quite, the first masterpiece of social realism.«


Tarantino und das deutsche Dorf am Piz Palü

Konstanz, 26. August 2009, 09:58 | von Marcuccio

»Schneefall im Hochsommer«, das ist eigentlich schon das Höchste, was man von einer NZZ-Überschrift im August erwarten kann. Im zugehörigen Artikel ging es um eine Ausstellung, hinter der ich ja zuerst eine Jörg-Fauser-Werkschau vermutete:

»Schnee. Rohstoff der Kunst«

Im VLM Bregenz gab es dann einen großen Bergfilm-Tag, gezeigt wurden: »Die weiße Hölle vom Piz Palü« & »Der weiße Rausch« – dazu die Stills live kommentiert von Mathias Fanck, der über seinen Groß­vater Arnold Fanck aus dem Nähkästchen plauderte (»Warum er rauchte, verstehe ich bis heute nicht«).

Durch Fanck kamen übrigens auch Luis Trenker und Leni Riefenstahl zum Film. Was jetzt vielleicht ein pindarischer Sprung ist, aber auf jeden Fall Quentin Tarantino gefreut haben dürfte, der laut »Spiegel«-Interview von neulich zwar offiziell nur Riefenstahl die Regisseurin verehrt, aber, wer weiß, bestimmt auch Leni das Skihaserl aus den Fanck-Filmen ganz gut findet.

Wie er überhaupt von der deutschen Bergfilmhoheit ganz fasziniert scheint. Hätte er sonst extra »ein deutsches Dorf« an den Fuß des Piz Palü geschmuggelt? Es ist die Szene in den »Inglourious Basterds«, die Claudius Seidl als Engadin-Urlauber filetiert hat, um richtig­zustellen, »dass am Fuß des Piz Palü vielleicht Pontresina liegt, aber bestimmt kein deutsches Dorf«. Deutsches Dorf vielleicht nicht, aber ein Ur-Ort deutschen Bergfilmschaffens eben irgendwie doch. Also wohl ein typischer Tarantino-Gruß an die Kino­geschichte.


Tarzan und das deutsche Feuilleton

Paris, 24. August 2009, 10:56 | von Paco

Tarzan of the Apes (Cover)Nachdem ich mehrfach dazu aufgefordert wurde, war ich nun endlich einmal im Musée du Quai Branly, um mir die »Tarzan!«-Ausstellung anzusehen. Ich mäanderte den verschlungenen Eingangspfad nach oben und ging immer dem Gejodel nach: Iaaaiaiaaaiaiaaa!

Alles begann 1912 mit E. R. Burroughs‘ Roman »Tarzan of the Apes«. Es folgten 25 weitere Bände mit immer absurderen Plots. In »Tarzan and the Lost Empire« (1929) etwa findet der Lendenschurzträger mitten im afrikanischen Urwald einen alten Außenposten des Römischen Reichs, der dort die Jahrtausende überdauert hat, und wird sofort in die Arena geschubst, wo er allerlei wildes Getier bewältigen muss.

Die künstlerische Verarbeitung der Figur übernahmen die Filmstudios und Comic-Zeichner, mit deren Produkten die Pariser Ausstellung dann auch vor allem bestückt ist. Überall flimmern Filmausschnitte und prangen flächenweise Originalzeichnungen. Soweit die Sachlage, die auch vom tarzanbegeisterten deutschen Feuilleton aufs Genauste geschildert wurde, denn es gab (mindestens) fünf hauptamtliche Rezensionen:

Sascha Lehnartz: »Tarzan hangelt sich von der Liane in die Vitrine«, WELT, 26. Juni 2009

Werner Spies: »Ich Tarzan, du Leser«, FAZ, 6. Juli 2009

Johannes Willms: »Sexprotz im Dschungel«, SZ, 11. Juli 2009

Martina Meister: »Der Schrei des Menschenaffen«, FR, 14. Juli 2009

Samuel Herzog: »Jungfer im Grünen«, NZZ, 25. Juli 2009

Der persönlichste und sprachgewaltigste Artikel ist der in der NZZ. Unter all den eindrucksvollen Jugenderinnerungen, schönen Metaphern und Wortfindungen (»tarzanös«) kommt sogar ein Kalauer ziemlich gut, nämlich wenn der Autor rhetorisch fragt, ob an den Affenmensch-Storys nicht womöglich der »Tarzahn der Zeit« genagt habe.

In der FAZ gibt es einen veritablen Essay zum Thema, der sich gut wegliest. Werner Spies zieht erwartungsgemäß auch ein paar überraschende kunsthistorische Vergleiche. Zur »Haken schlagenden Strichführung« der Comics schreibt er: »Die Lianen, grafische Lassos, lassen an die ›écriture automatique‹ der Surrealisten denken.«

Martina Meister in der FR findet die Schau zu kuschelig. Die tarzanischen Abenteuer seien beispielsweise an keiner Stelle mit Burroughs‘ Eugenik-Interesse abgeglichen worden. Am Mythos habe man eben nicht kratzen wollen, ganz im Gegenteil: Am Ende des Parcours wird Tarzan als Öko-Held aktualisiert, der auf den Urwald aufpasst und ihn vor äußeren Gefahren schützt.

Sascha Lehnartz in der WELT hat einen sehr, sehr schönen Satz gefunden, um seine Gelangweiltheit auszudrücken: »Das Ganze wirkt wie ein mit Requisiten ausstaffierter Schulaufsatz.«

Johannes Willms sieht das genauso. Die SZ hat wie so oft die beste Überschrift (»Sexprotz im Dschungel« – superst!), dabei aber den schlechtesten Artikel. Denn Willms doziert vor sich hin und kommt erst im vorletzten Absatz auf die Ausstellung selbst zu sprechen, die er für »harmlos« und »reichlich unspektakulär« hält. Was letztlich auch stimmt.

Noch bis 27. September.
Bild: Wikimedia Commons.


Filippo und Filippino Lippi
im Musée du Luxembourg

Paris, 20. August 2009, 08:20 | von Paco

Die Ausstellung »La Renaissance à Prato« im Musée du Luxembourg wurde schon vor über zwei Wochen abgebaut, dieser Text hier kann also nicht mehr als kulturtouristische Serviceleistung durchgehen. Jedenfalls wird das Museo Civico in Prato gerade restauriert, und deswegen hat man ein paar Werke nach Paris entliehen, »die noch nie in Frankreich zu sehen waren und die teilweise auch Italien noch nie verlassen haben«.

Exposition Lippi au Musée du Luxembourg

Als Zugpferde wurden ganz groß Vater und Sohn LIPPI auf die Plakate geschrieben. Sicher auch wegen des leicht vermittelbaren biografi­schen Clous: der Beziehung des Karmeliterbruders Filippo zu einer Prateser Nonne, die dann zur Geburt Filippinos führte (Details wie immer nachzulesen bei Vasari).

Seit Ende März kursierte in Paris nun aber das Gerücht, dass es nur eine Handvoll bzw. nur eins oder zwei bzw. tendenziell eher gar keine Gemälde der Lippis zu sehen gebe. Ich ging also ewig nicht hin, bis dann neulich am letzten Wochenende vor dem Ausstellungsende.

Wenn ich richtig gezählt habe, waren es neun Bilder vom Vater und drei vom Sohn, wobei auf der Hälfte dieser Bilder Fra Diamante mitgemalt hat. Es kann auch sein, dass ich beim Zählen und Merken arg durcheinander gekommen bin, denn: In dem klitzekleinen Luxembourg-Museum ist es immer so überfüllt (auch diesmal, trotz der gestreuten Fehlinformation von den fehlenden Lippis), dass man die Werke niemals eines nach dem anderen abgehen kann. Sobald man mit einem fertig ist, muss man sich mit Radarblick auf ein wenig bedrängtes Gemälde orientieren und so weiter bis man ungefähr durch ist.

Ein Highlight ist sicher – auch wenn ein Kritiker diesbezüglich schrieb: »Im Louvre hängt besseres Zeug!« – Filippinos »Retable de la salle de l’Audience«, eine Maria mit Kind und den Heiligen Stephanus und Johannes dem Täufer. Ersterer Märtyrer hat ganz surrealistisch sein Attribut am Kopf, einen Stein wie ein Comic-Denkblase, an der man sich nicht sattsehen kann.

Immer noch der wichtigste Tourismusgrund für Prato ist der Mariengürtel, die Sacra Cintola, auf die ursprünglich der Apostel Thomas aufpassen sollte. Sie kam im 12. Jahrhundert in die Stadt und löste ähnliche Euphoriestürme aus wie ein Jahrhundert später der Ankauf der Pariser Passionsreliquien durch Louis IX.

Der Gürtel gab dann ein schönes Sujet für die Maler der Gegend ab. Filippo etwa malte, assistiert von Fra Diamante, eine »Vierge de la Ceinture entre saint Thomas et la commanditaire Bartolommea de‘ Bovacchiesi et les saints Grégoire, Augustin, Tobie, Marguerite et l’archange Raphaël«. Dürfte einer der längsten Bildunterschriften der Kunstgeschichte sein und ein geeigneter Spreu-und-Weizen-Test für Museumsführer.

Ansonsten gab es noch ungefähr fünf Dutzend Werke anderer Künstler aus der Gegend, zum Beispiel ein Tabernakel von Donatello und auch irgendwas von Uccello und Botticelli (vergessen).


Der Vermeer-Fälscher

Hamburg, 18. August 2009, 14:34 | von Dique

Ganz anders als der kürzlich hier besprochene Shaun Greenhalgh war Han van Meegeren ein Dandy und Lebemann. Wie Greenhalgh fälschte er Kunst, führte aber, ganz anders als der mit seiner Familie trotz großartigen Fälschungserfolgen in einer Sozialwohnung weiterlebende Brite, ein flamboyantes Dandyleben.

Han van Meegeren (1889–1947) fälschte niederländische Altmeister­gemälde, bevorzugt Vermeer. Er besorgte alte Pigmente, benutzte Dachshaarpinsel, malte auf zeitgenössische Gemälde von zum Beispiel Govaert Flinck oder mimte die Risse des sogenannten Krakelee durch eigens entwickelte Hitzebehandlungen der Malschicht.

Nachdem er dann der Meinung war, dass die Qualität seiner Vermeers gut genug sei, begann er sie auf dem Kunstmarkt anzubieten und machte schnell einen großen Deal mit dem holländischen Reeder und Sammler van Beuningen. Der kaufte ihm für über eine Million Gulden ein »Abendmahl« ab, vermeintlich von Vermeer.

Noch spektakulärer war einige Zeit später der Verkauf eines weiteren Vermeers, »Christus und die Ehebrecherin«. Dieser ging an den Lebemann unter den Nazigranden, an Hermann Göring, der über mehrere Kunstagenten europaweit Gemälde aufsaugte und ebenso diesen Vermeer ankaufen ließ.

Das Bild hing dann stolz in den Ausstellungsräumen von Carinhall, dem aufgedonnerten Jagdschloss in der Schorfheide, und Göring erfreute sich an diesem vermeintlich echten Vermeer vielleicht bis zu seinem jähen Ende. Es sei denn, er hörte im Nürnberger Gefängnis noch von Han van Meegerens Verhaftung. Man hatte nämlich bei einem Kunsthändler Unterlagen gefunden, die den Verkauf des angeblichen Vermeer-Bildes nach Deutschland bezeugten, und deshalb wurde er als Kollaborateur und Ausverkäufer nationalen Kulturgutes angeklagt.

Nun ging Han van Meegeren gewaltig der Frack. Er legte ein Geständnis ab, »ätsch, ich habe den fetten Göring verarscht, das war gar kein echter Vermeer, den habe ich doch selbst gemalt«. Ungläubigkeit machte sich breit, doch zum Beleg seiner Aussage malte er einen weiteren Vermeer, unter Beobachtung, im Gefängnis.

Die Qualität dieses Vermeers soll aber weit hinter der Qualität der im Umlauf befindlichen Vermeerfälschungen zurückstehen, und deshalb gibt es bis heute Zweifler, die davon überzeugt sind, dass mindestens einige dieser van-Meegeren-Vermeers echt sein sollen, obwohl die gegenteiligen Beweise recht offensichtlich sind.

Der frühe van-Meegeren-Käufer van Beuningen glaubte jedenfalls bis zu seinem Tod im Jahr 1955 daran, dass sein Vermeer-»Abendmahl« echt und van Meegeren ein Scharlatan sei. Und auch Göring muss seinen Selbstmord in der Überzeugung begangen haben, mal Besitzer eines der ganz wenigen Vermeers gewesen zu sein.

(Ich las über den Vermeer-Fälscher in Pierre Cabannes »Geschichte großer Sammler«, sehr schönes Buch übrigens. Ich habe mir jetzt noch für ein paar Cent ein Buch über van Meegeren bestellt, »Ich war Vermeer«, weiß aber nicht, ob ich das jetzt wirklich noch lesen soll und will.

Usw.)


Antony Gormley und die turnenden Senioren

Bregenz, 30. Juli 2009, 01:15 | von Marcuccio

Kunsthaus Bregenz. Anders als bei Jan Fabre sind die Pissoirs im Untergeschoss diesmal kein Teil der Ausstellung. Dass wir zur Antony-Gormley-Werkschau trotzdem in den Keller gerufen werden, hat den Grund, der gerade auf Krücken hereinhumpelt.

Der Kurator legt sein eingeschaltes Bein auch gleich auf einen Stuhl und mit der Power-Point-Führung los: »Mir ist da leider ein Missge­schick passiert …« Derweil auf dem Beamer, hehe: »Body« und »Fruit«, Gormleys 6- bzw. 1,25-Tonner bei ihrer Anlieferung ins Erdgeschoss des KUB. Das war jetzt sozusagen der Humortest und natürlich gleich das perfekte Stichwort zum Thema.

Über 100 Tonnen Ausstellungsmaterial wollen nämlich erst mal unfallfrei installiert sein. Neben den beiden Planeten im Erdgeschoss sind dies im 1. OG:

»Allotment« – Es geht um die kleinstmögliche Architektur für einen Menschen. Dafür hat Gormley 300 Einwohner von Malmö vermessen, um ihnen mit einem Betonmantel genau den Raum zu schaffen, der ihnen vom Körpervolumen her zusteht. Auf diese Weise sind 300 passgenau personenbezogene Bunker entstanden, individuelle Beton-Löcher inklusive. Denn Gormley hat jedem Malmöer auch die Löcher vermessen – also Ohren, Mund, Genitalöffnung und Anus – und wieder hat der Kurator die Lacher auf seiner Seite, als er das »very british« nennt. Optisch schaut das Ganze wie eine Mischung aus Stelenfeld und Plattenbausiedlung aus.

Im 2. OG: »Clearing« – Ein wirres, 12 Kilometer langes Stahlbandknäuel durchzieht die ganze Etage – eine Art dreidimensionale Raumzeichnung, die man begehen kann – und sogar muss, um zur Treppe ins 3. OG gelangen:

»Critical Mass«. Hängend, hockend, liegend: 60 schwarze Gormleys in verschiedenen Körperpositionen. Auf Fotos sahen sie immer aus wie Knet- oder Lakritzfiguren, in Echtgröße haben die je 650 kg Volleisen schon noch mal eine andere Präsenz im Raum, zumal da, wo sie sich so massengrabmäßig anhäufen. Ein wenig erinnert die Szenerie auch an die gespenstischen Gipsabgüsse von Pompeji.

Und: Manche der Gormleys lösen bei manchen Besuchern gymnastische Mimikry aus. Als sich zwei rotbäckige Mittfünfzigerinnen neben uns plötzlich auf den Boden legen und zur Kerze ansetzen, sieht das zwar ein bisschen nach Seniorenturnen ohne Matte aus. Aber, keine Frage, auch das eine raumgreifende kritische Masse.


Pierre Boulez spricht

Paris, 25. Juni 2009, 11:40 | von Austin

Sonntag. 20.20 Uhr. Warten im Cour Napoléon. Fête de la musique. Um 21.15 Uhr ist Einlass für das Konzert sous la pyramide du Louvre: Pierre Boulez und das Orchestre de Paris. Vor uns eine lange Schlange. Hinter uns eine immer länger werdende Schlange.

Vor uns zwei Pariserinnen, Amt für Statistik & Marketing bei L’Oréal, wollen unbedingt zu Buläh. Hinter uns zwei Kolumbianerinnen, wollen unbedingt zu Buläs.

sous la pyramide

22.00 Uhr. Angeblich sitzen jetzt 2.000 Menschen auf dem Marmorbo­den des Auditorium du Louvre. Über uns der Richelieu-Flügel. Über uns die Pyramide. An ihren Scheiben die, die nicht reingekommen sind. Würden sie durchbrechen, würden sie auf den Schlagwerker des Orchesters fallen.

Und tatsächlich erscheint vor uns der große alte Mann der europäi­schen Musik und dirigiert: Strawinskis »Feuervogel«. Irre präzis, fabelhaft trocken, ohne jeden billigen Effekt.

Nach dem Konzert Jubel. Pierre Boulez scheint dem Publikum etwas sagen zu wollen. Er spricht. Was er sagt, geht unter in der Begeis­terung.

Am Nachmittag schon in einer anderen Schlange gewesen: im Musée Jacquemart-André, das im Baedeker einen ganzen Stern abbekom­men hat. Vermutlich vergeben für einen großartigen Rembrandt und eine schöne Orangen-Tarte im Museumscafé.

Ansonsten beantwortet dieses Museum vor allem die Frage, wie Tadzio, sollte er die venezianische Seuche überstanden haben, seinen Lebensabend gestaltet haben könnte. In diesem Haus hätte Tinto Brass Pornos drehen sollen, selbst der Staub scheint hier historisch zu sein, und hinter jeder Ecke erwartet man Siegfried und Roy.

Nichtsdestotrotz kommen wir rechtzeitig zum letzten Tag der Ausstel­lung italienischer Maler des Trecento, ausgeliehen aus einem Museum in »Altenbourg«, einer laut Informationstext »kleinen Stadt bei Dresden«.

Und die Leute drängen sich in den kleinen Räumen, um das Lebens­werk des Herren Lindenau zu sehen. Und wahrscheinlich sind es in diesem Moment, in dieser Stunde mehr Menschen, als in Altenburg in einem ganzen Jahr.

Passend zum Pariser Mittsommernachtstreffen des Umblätterers gibt es eine Frankreich-FAS, darin ganzseitige Artikel zu Julie Delpy (Interview) und Michel Foucault (kein Interview). Die Lektüre am Erscheinungstag wird aber durch oben genannte Ereignisse mehrfach vereitelt.

Usw.