25 Jahre Coen-Kino (12):
No Country for Old Men (2007)

Hamburg, 14. Februar 2010, 08:12 | von San Andreas

No Country for Old Men (Icon)

Llewelyn Moss, tapferer Texaner, stolpert in der Wüste über einen schiefgegangenen Drogendeal und reißt sich einen Koffer Geld unter den Nagel, worauf sich ein psychopathi­scher Killer namens Anton Chigurh an seine Fersen heftet. Provinzsheriff Ed Tom Bell versucht sich einen Reim auf das Ganze zu machen, während Carson Wells, der Chigurh kennt, versucht, das Schlimmste zu verhindern …

Coen Country. West Texas, 1980. Zurück im hitzeflimmernden »Blood Simple.«-Territorium, aber viel abgelegener, im Grenzland zu Mexiko.

Coen Klüngel. Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Do you have any idea how crazy you are?« (Carson Wells‘ Beitrag zur Rubrik ›Berühmte Letzte Worte‹)

Coen Gold. Anton Chigurh verwickelt einen unbescholtenen Tankstelleninhaber in ein Gespräch. Sowie Chigurh eine freundliche Phrase an sich abperlen lässt, verliert der Wortwechsel den Boden sozialer Konvention. Eine Irritation macht sich breit, die in Verwirrung und Angst umschwenkt, als Chigurh ihn zu einem Münzspiel nötigt. Der gute Mann hat der Autorität Chigurhs rein gar nichts entgegenzu­setzen, und es ist sein Glück, dass er nicht weiß, dass er gerade um sein Leben spielt.

Classic Coen? Zu sagen, mit »No Country for Old Men« hätten die Coens zu alter Stärke zurückgefunden, wäre nicht besonders präzise. Zwar zeigten sie sich tatsächlich wieder stark, ja unglaublich stark, aber es waren neue Stärken. Denn mit dieser Produktion betraten die Gebrüder Coen in vielerlei Hinsicht Neuland.

»No Country …« ist die erste echte Literaturadaption der Coens (mit »True Grit« steht bald eine zweite ins Haus). Das Skript hält sich sehr eng an Cormac McCarthys hartgesottenen Roman und wurde, abweichend von der gewohnten Arbeitsweise der Coens, nicht im Hinblick auf bestimmte Darsteller verfasst. Der Film ist bei weitem der brutalste und gewalttätigste ihres Œuvres, es ist ihr wortkargster und auch, trotz einiger Spitzen schwarzen Humors, ihr düsterster. Es ist viel Bewegung und Dramatik in dem Film, nie waren die Coens näher an einem Actionthriller. Und nie war ihr Einsatz von Musik sparsamer; stattdessen herrscht eine Atmosphäre atemloser, drückender Spannung.

Auf der Besetzungsliste finden sich untypischerweise keine alten Weggefährten der Coens (mit Ausnahme von Stephen Root, der in »The Ladykillers« eine Chefpersönlichkeit spielte, wie hier auch). Unbedingte Authentizität war das Gebot der Stunde, und so griffen andere Prioritäten. Die Region, West Texas, ist Teil der Charaktere; gerade für die Figur des Sheriffs kam nur eine Handvoll Darsteller in Frage, die diese Verbundenheit glaubhaft darzustellen in der Lage sein würden; ein Talent für den Dialekt allein reichte da nicht.

Tommy Lee Jones wurde praktisch am Handlungsort geboren; sein Sheriff Ed Tom Bell ist eins mit dem Land, steht im Zentrum des Films. Er ist der Gute; seine kompetente, unerschütterliche, trockene Art erdet den Film, und in seiner Figur kristallisiert sich der melancholische Grundsentiment der Geschichte. Bells Eingangsmonolog und seine Gespräche mit Kollegen beklagen den Exodus alter Werte: Die Moderne fresse Texas auf, selbst das Verbrechen sei nicht mehr greifbar, es sei irrational geworden. Oder war es das schon immer?

Einmal erzählt Sheriff Bell seinem jungen Kompagnon von dem Paar, das in Kalifornien Zimmer an ältere Menschen vermietet hatte, nur um sie umzubringen, im Hof zu verscharren und ihre Rentenschecks zu kassieren. Sie hatten ihre Opfer zunächst gefoltert. Warum, wisse er nicht: »Maybe the television set was broke.«

Es ist jene unfassliche, dämonische Qualität des Verbrechens, die Sheriff Bell mehr und mehr resignieren lässt, und es ist auch präzise jene Qualität, die im Film Anton Chigurh verkörpert, dessen absonderlicher Name ihn bereits als Fremdkörper kennzeichnet. Javier Bardem ist kein Texaner; sein Chigurh spricht ohne Akzent und Emotion, seine Kleidung ist auffällig unauffällig, sein Auftreten ausdruckslos, sein Schritt ohne Schwung. Seine seltsame Frisur indes entwickelt fast eine eigene, furchteinflößende Persönlichkeit.

Chigurh ist eine Maschine. Seine zähe Determiniertheit, seine Wertelosigkeit unterscheidet ihn nicht von Spielbergs Weißem Hai, selbst seine Augen starren genauso leblos. Wenn er mit einem spricht, zeigt er keinen Sinn für Humor, Ironie oder Smalltalk, sein Lächeln strahlt keine Freundlichkeit aus, sondern Terror. Chigurhs Agenda ist dabei nicht unbedingt die des Sadisten; er findet keine Freude am Leid anderer. Das Verstörende an seinem Handeln ist, dass es bei allem Wahnsinn erschreckend rational organisiert ist.

Rhetorik lässt den Mann unbeeindruckt, es gibt keine Diskussion. Er steht unbeirrbar zu seinen Prinzipien, keine irdischen Werte würden ihn je umstimmen (»I won’t tell you you can save yourself, because you can’t.«). Böse ist das lediglich aus der Perspektive eines Moralisten, nüchtern betrachtet ist es nur konsequent, er handelt ohne Ansehen der Person. Kommt diese mit dem Leben davon, ist das nicht Gnade, sondern Zufall. Anton Chigurh ist das Schicksal persönlich.

Er ist das Übel, dem wir nicht entrinnen können. Er verkörpert die nackte Barbarei, die bleibt, sobald alle Moral wegbricht, er stellt die Regression des Menschen in ein Stadium ohne Empathievermögen dar, und mithin das Extrem der Entwicklung, der Bells Generation ohnmächtig gegenübersteht. Ihr Lamento reflektiert die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber seiner eigenen dunklen Seite.

Zwischen den Polen, die Bell und Chigurh darstellen, schwankt Llewelyn Moss (Josh Brolin), ein abgebrühter Vietnam-Veteran, der sich und seiner Frau ein besseres Leben wünscht. Wieso also nicht etwas Drogengeld beiseite schaffen? Moss bewegt sich gerissen wie ein Coyote, verschmilzt mit seiner Umgebung, sichert sich die Beute. Welch Ironie, dass es gerade ein Impuls der Empathie und des Mitleids ist, der ihn in Teufels Küche bringt.

Nichts ist frappierender an der Dramaturgie des Films als die Tatsache, dass die Konfrontation der drei Hauptfiguren, auf die der Plot zuzusteuern scheint, niemals stattfindet. Chigurh spürt Moss zwar auf, doch dessen Instinkte retten ihn jedes Mal um Haaresbreite. Als sich die beiden einander für Sekunden auf Sichtweite nähern, verletzten sie sich in einem haarsträubenden Schusswechsel so stark, dass sie für einige Zeit damit beschäftigt sind, ihre Wunden zu pflegen und schlicht und einfach zu überleben.

Währenddessen versucht Sheriff Bell, die Spur von Moss aufzunehmen, um ihn vor seinen Verfolgern (auch eine Bande von Mexikanern ist hinter Moss her) in Sicherheit zu bringen. Als er ihn endlich findet, sind es gerade ein oder zwei Minuten, die er – und wir – zu spät kommen. Llewelyn Moss ist tot.

Die Coens beweisen Hitchcock’sche Chuzpe, die Identifikationsfigur des Publikums lange vor Ende des Films dahinzuraffen, doch nicht etwa in der dramatischsten Szene des Films, sondern in überhaupt keiner Szene. Ihr Skript kennt keine Konvention. Unerbittlich schreitet es voran, erklärt nicht viel auf seinem Weg, springt unvermittelt von Ort zu Ort, wechselt in die Subjektive oder montiert parallel, wenn es ihm passt.

Über weite Strecken fällt kein einziges Wort, die Kamera beobachtet die Charaktere, wie sie Gerätschaften basteln, sich Medikamente oder Kleidung beschaffen, die Beute verstecken, auf etwas warten, sich verarzten, Spuren deuten und verfolgen. Allein dieses rein filmische Erzählen entwickelt eine immense Sogwirkung; wenn die Überlappung der Handlungsstränge dann dem Publikum Informationsvorteile verschafft, kennt die Spannung keine Grenzen.

Aber es ist keine Spannung von der Sorte, die Spaß machen soll. Sie ist unbarmherzig, sie ist rau, und sie ist Teil der Geschichte. Der Film macht den Plot nicht dramatischer als er ist, sein Puls bleibt konstant, keine Musik peitscht die Handlung auf Höhepunkte hin, keine Schnitt­folgen beschleunigen die Wahrnehmung. Es sind allein Bilder, die den Zuschauer seine Armlehnen zerdrücken lassen. Das ist nacktes, hartes Kino.

Diese ›no-nonsense‹-Herangehensweise verbindet den Film mit dem Coen-Erstling »Blood Simple.«, ganz abgesehen vom ähnlichen Schauplatz und dem launigen Eingangsmonolog. Und auch andere Dinge verraten letzten Endes die Coen’sche Urheberschaft. Die punktgenau ausgesuchten Nebencharaktere – die Motelbetreiber, die Farmer, die Hotelangestellten, die Grenzbeamten, die Tankstellen­inhaber – verleihen den brillant aus der Vorlage kondensierten Wortwechseln eine skurrile, eindeutig texanisch-provinzielle Note, die nur einen Deut an der Karikatur vorbeischrammt.

Und dann sind da die vielen Details, die nur den Coens auffallen: die schwarzen Schlieren auf dem Linoleum, die die Absätze des sich im Todeskampf windenden Deputys hinterlassen, die ›lebendige‹ Snackverpackung auf dem Tankstellentresen, die Reflexion von Chigurhs Silhouette in Moss‘ Fernsehgerät, der Abdruck des Schloss­zylinders an der Holztäfelung. Oder Chigurhs Besorgnis um die Unversehrtheit seiner Alligatorstiefel; mit ihrer Hilfe verkürzen Joel und Ethan elegant die Szene um Carla Jeans Schicksal. Der Killer tritt aus dem Haus, prüft seine Sohlen auf Blutspuren, und verschwindet. Das hat Stil und Größe: Die Coens prahlen nicht verschwenderisch mit expliziten Gräueln; der Schock einer Handvoll Einstellungen erhält das Entsetzen aufrecht.

Chigurh wird den Film praktisch ungeschoren verlassen, seine Gegner entweder tot – oder pensioniert, wie Sheriff Bell. Dem gehören auch die letzten Worte; er erzählt seiner Frau von einem Traum, den er hatte; und selbst der vergönnt ihm keine Erleuchtung, keinen Trost, keine Rettung. Denn er wacht vorher auf, frustriert und hilflos wie zuvor: Er ist zu alt für dieses Land. Abspann.

Einige Zuschauer waren gleichermaßen frustriert. Der Film hatte die losen Enden nicht verknüpft, hatte die Thriller-Konventionen unter­laufen, hatte die falschen Leute sterben lassen, hatte an der falschen Stelle geendet. Was ist das für eine krude Moral? Und was war nun eigentlich mit dem Geld passiert?

Aber den Konventionen Genüge tun hieße, den Sinn der Geschichte zunichte zu machen. Es ist dies das erste Mal, dass sich die Coen-Brüder in den Dienst von so etwas wie einer Botschaft oder einer tieferen Einsicht stellen. Der Film, so packend, so authentisch und minutiös inszeniert er auch ist, dreht sich nicht nur um sich selbst. Er mag als ausgekochter, hakenschlagender Thriller funktionieren, doch weist er zwischen den Zeilen über sich hinaus, sinniert über das Entmenschlichte im Menschen.

Das ist in erster Linie seiner Vorlage geschuldet, doch ist die oft beschworene Kongenialität nicht trivial. Nur zu leicht ist der feine Grat zwischen resignierendem Weltschmerz und zynischem Fatalismus überschritten. Joel und Ethan treffen genau den Ton, scheinen McCarthys grimmig-realistischer Weltsicht tief verbunden. Die menschliche Natur ziert eine dunkle Facette, und man kann sie nur akzeptieren; verstehen oder gar tilgen lässt sie sich nicht. Happy End? Nicht im Leben … und im Kino auch nicht.

Coen Culture. Joel und Ethan Coen ziehen aus dem Stand mit Orson Welles und Warren Beatty gleich, was die Anzahl der Oscar-Nominierungen für ein und denselben Film angeht. Von den vier Nominierungen – Bester Film, Bester Regisseur, Beste Adaption und Bester Schnitt – gewinnen sie drei, während Welles (für »Citizen Kane«) und Beatty (für »Reds«) seinerzeit jeweils nur einen abgesahnt hatten.
 

25 Jahre Coen-Kino (11):
The Ladykillers (2004)

Hamburg, 13. Februar 2010, 08:16 | von San Andreas

The Ladykillers (Icon)

Professor Goldthwaite Higginson Dorr mietet sich bei Witwe Munson ein, um von ihrem Keller aus mithilfe einer Bande kleinkrimineller Handlanger ein Casino anzuzapfen. Die Dame riecht den Braten und muss aus dem Weg geschafft werden. Leichter gesagt als getan …

Coen Country. Saucier, Mississippi. Gefilmt wurde jedoch in Natchez, weil da günstigerweise der Mississippi durchfließt. Eine Rückkehr ins »O Brother«-Land.

Coen Klüngel. J.K. Simmons (Garth Pancake), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Madam, we must have waffles! We must all have waffles forthwith!« (Professor Dorr bestellt Waffeln für sich und seine Freunde)

Coen Gold. Die Müllbarkassen, die in einem fort eine riesige Halde mitten im Mississippi ansteuern und sich träge durch den Nebel schieben, sind ein netter Touch und nebenbei eine willkommene Möglichkeit, lästige Leichen loszuwerden.

Classic Coen? Wenn man von allen Coen-Filmen nur einen auslassen wollen würde: Es müsste dieser sein.

Die Frage lautet: Warum? Warum ein Remake, und warum die Coens? Das Original, eine quirlige, launige, dunkelhumorige Groteske von 1955 mit dem unsterblichen Sir Alec Guiness und dem noch unsterblicheren Peter Sellers gilt als Klassiker und hat nie nach einem Remake verlangt. Feinste englische Exzentrik hatte in der milde satirischen Krimifarce ihre Erfüllung gefunden, fertig.

Natürlich hatten Millionen Amerikaner keine Ahnung davon, und Barry Sonnenfeld, einst Kameramann bei den ersten drei Coen-Filmen und mittlerweile eine sichere Bank als Regisseur von Big-Budget-Komödien (»Addams Family«, »Men in Black«), plante eine Neuverfilmung. Die Coens erklärten sich bereit, das Skript dafür zu liefern, und als Sonnenfeld sich dann doch von dem Projekt zurückzog, sprangen die Coens kurzerhand auf den Regiestuhl. Bad move.

Möglicherweise hatte die Coens es gereizt, ins Südstaaten-Ambiente zurückzukehren, diesmal nicht den Bluegrass, sondern die Gospelmusik zu zelebrieren und ein Ensemble schräger Figuren in Szene zu setzen. Die Schauwerte stimmen auch, und Tom Hanks, gegen seinen Typ besetzt, sammelt eine Handvoll Charme-Punkte. Aber unter der Fassade ist der Film geistesabwesend, gefühllos und gemein.

Das Fingerspitzengefühl der Coens: nahezu wie weggeblasen. Abgesehen davon, dass es keinen erkennbaren Anlass gibt, diese Geschichte ins Mississippi-Delta zu transportieren, entwerfen sie Figuren ohne Esprit, casten wild durch den Kräutergarten. Schlimmer noch: Ihre ethnischen Charaktere – sonst eine Spezialität in jedem Coen-Film – wirken hier wie respektlose Abziehbilder. Sogar Mrs. Munson, die eine liebenswerte, tüdelige, gemütliche Mama hätte werden können, erscheint als einfältige Matrone.

Der Film schwankt nicht nur im Ton, er vergreift sich auch darin. Das unausgesetzte Fluchen des von Marlon Wayans gespielten (?) ›Hippety Hopp‹-Tölpels verträgt sich weder mit Professor Gorrs distinguiertem Duktus (»I scarcely contain my glee.«) noch mit Mrs. Munsons Bibelgebrabbel. Der Kontrast ist als komisch gedacht, wirkt aber angestrengt. Jedes ›fuck‹, und es hagelt 89 Stück davon, trägt eine vulgäre Unwucht in den Film, die ihn zumindest für Familien gänzlich unkuckbar macht.

Gut, Familientauglichkeit soll kein Kriterium für die Qualität eines Films sein, schon gar nicht eines Films der Coens, zumal sich hier gegen Ende die Leichen häufen. Aber wenn das Skript bereits zu Beginn ein Hündchen in einer WWI-Gasmaske jämmerlich ersticken lässt, just for the fun of it, muss man sich schon fragen, wo die Coens ihren Geschmack gelassen haben.

Zu allem Überfluss wird der Figur, die der sonst wunderbare J.K. Simmons spielen muss, ein lautstarkes Verdauungsproblem angedichtet; spätestens hier merkt man, wie händeringend der Film nach Pointen grabscht, und sich traurigerweise mit einigen billigen zufrieden gibt. Garth Pancake heißt der Mann überdies, ein nicht besonders gut ausgedachter Name, möchte man meinen. Dann erfährt man, dass der tumbe Kraftmensch in der Truppe – eine Figur, mit der der Film so gut wie nichts anzufangen weiß – den Namen Lump Hudson trägt. Lump? Das ist nicht mal ein Name.

Nun ja. Fotografiert ist der Film jedenfalls makellos, die Musik kann man sich antun, manche Gags funktionieren sogar (Pancake demonstriert die Hammer-Resistenz seines Sprengstoffs), und mit Professor Gorr haben wir tatsächlich eine Art Coen-Archetyp im Arsenal, einen blumigen Vielredner, der nicht wirklich etwas sagt und doch einiges auf dem Kerbholz hat. Allein, niemand im Film ist ihm ebenbürtig, was ein echter Jammer ist. Das Ensemble klickt nicht ineinander, und damit fällt der gesamte Film in sich zusammen. Er hätte vielleicht den Farelli Brothers zur Ehre gereicht, nicht aber den Coen Brothers.

Besiegelt schien ihr Schicksal. Eine der am konsistentesten Qualität liefernden Karrieren Hollywoods hatte sich verzettelt, verhoben, verrannt. Es musste schon ein sehr, sehr, sehr guter Film folgen, um diese Scharte auszuwetzen.

Was prompt geschah.

Coen Culture. Dies ist der erste Film im Coen-Œuvre, der in den Credits beide Namen, Joel und Ethan Coen, sowohl als Regisseure als auch als Produzenten verzeichnet. Diese Aufgaben teilen sich die Brüder seit jeher, aus gewerkschaftlichen und rechtlichen Gründen wurde aber immer Joel als Regisseur und Ethan als Produzent aufgeführt. Seit 2004 gelten die Coens offiziell als ›Established Duo‹, womit die Trennung in den Credits nicht mehr vonnöten ist.
 

25 Jahre Coen-Kino (10):
Intolerable Cruelty (2003)

Hamburg, 12. Februar 2010, 07:52 | von San Andreas

Intolerable Cruelty (Icon)

Miles Massey, ein so wohlhabender wie erfolgreicher Scheidungsanwalt, sucht eine neue Herausforderung und findet sie in Form von Marilyn Rexroth, der faszinierenden Frau eines Klienten. Er besiegt sie vor Gericht, doch man trifft sich immer zweimal im Leben. Oder dreimal, oder viermal …

Coen Country. L.A., die Sphäre der Reichen und Schönen. Schon einmal besucht in »The Big Lebowski«, doch diesmal ohne den Gegenpart des einfachen Volkes.

Coen Klüngel. George Clooney (Miles Massey), Billy Bob Thornton (Howard D. Doyle), Richard Jenkins (Freddy Bender), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera) n Tolliver), Michael Badalucco (Frank), Billy Bob Thornton (Ed Crane), Richard Jenkins (Walter Abundas), Tony Shalhoub (Freddy Riedenschneider), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »I guess something inside of me died when I realized that you’d hired a goon to kill me.« (Miles Massey gibt den Nachtragenden)

Coen Gold. Vor Gericht. In den Zeugenstand wird gerufen: Heinz, the Baron Krauss von Nespy. Alles geht gut, bis der Mann zu reden anfängt. Die Szene gehört zum laughing-out-loud-lustigsten, das die Coens je auf Film gebannt haben.

Classic Coen? Was war da los im Coen Camp? Die Brothers schickten sich an, zum ersten Mal eine Geschichte zu verfilmen, die nicht auf ihrem Mist gewachsen war. Auch das Drehbuch schrieben sie nicht allein, offenbar eine romantische Komödie wie Hollywood sie am Fließband produziert. »Intolerable Cruelty« machte den Anschein eines richtigen Rendezvous mit dem Mainstream. Ist der Film dennoch ein echter Coen geworden? Und wenn nicht, ist es wenigstens ein guter Film?

Die Gelehrten streiten sich. Kritikerpapst Ebert sieht den angeblichen Anspruch des Films, eine gute alte Screwball Comedy zu sein, nicht eingelöst und bejammert ein Zuviel an Ironie, ein Zuwenig an Gefühl. Damon Wise (Empire) wiederum geht das Herz auf angesichts dieses (seiner Ansicht nach) zünftigen Coen-Cocktails und gibt die Höchstwertung.

Abgesehen davon, dass es keine Wahrheit gibt: Sie liegt in der Mitte. Der Film ist weder eine astreine Screwball Comedy noch ein waschechter Coen, sondern eine kuriose Mischung, die zunächst beide Erwartungen enttäuschen muss. So schnitt der Film bei Kritikern, vor allem aber bei Fans nicht sonderlich gut ab; viele nahmen den Coens die offensichtliche Anbiederung an den sogenannten Massengeschmack richtiggehend übel.

Weniger kategorische Zeitgenossen, so liest man in den Foren, haben inzwischen allerdings eingestanden, dass der Film so schlecht gar nicht wäre, und vor allem, dass es einer jener Filme zu sein scheint, die mit jedem wiederholten Ansehen gewinnen. Die knackigen Dialoge sind von zeitlosem Esprit, das Schauspiel schlicht makellos, und dazwischen schälen sich doch etliche subversive Elemente heraus, die »Intolerable Cruelty« angenehm vom seichten Rom-Com-Einerlei abheben.

Wie der Film die Unbilden des kalifornischen Scheidungsrechts anpackt, mit mythischen, unknackbaren Eheverträgen spielt und Heiratsschwindel zur Kunstform erhebt, das demonstriert durchaus satirische Treffsicherheit. Bisweilen lässt sich auch die düstere, herrlich überspitzte Ästhetik blicken, die seinerzeit »The Hudsucker Proxy« veredelt hatte: Die Darstellung des auf dem letzten Loch pfeifenden Kanzleichefs ist eine einzige, respektlose Karikatur.

Freilich windet sich manch gestandener Coen-Enthusiast, wenn Massey dann mit einem flammenden Plädoyer für die Liebe eine allzu schablonige Charakterwandlung durchmacht, freut sich aber gleich in der Szene darauf, dass der Star-Advokat unversehens wieder der Gelackmeierte ist und der Schlagabtausch der Geschlechter in die nächste Runde hastet.

Mit dem Auftritt eines tumben, derangierten Killers werden die üblichen Muster der ›Romantic Comedy‹ endgültig unterlaufen, und jener Mann findet auf so schockierend lustige Weise sein Ende, dass die Coen’sche Vaterschaft dieser Figur kaum mehr geleugnet werden kann.

Großes Kapital schlägt der Film aus George Clooneys köstlicher Vorstellung. Eine Miene wie seine, die auch ohne Mimik stark an Ausdruck ist, erreicht durch das kleinste Zwinkern, Rümpfen oder Zucken eine große Wirkung, und Clooney bedient seine Gesichtsmuskulatur mit punktgenauem komödiantischen Gespür.

Ähnlich wie sein Charakter in »O Brother, Where Art Thou?« obsessiv um seine Haarpracht besorgt war, achtet Miles Massey auf seine makellose Zahnlandschaft. Schnell noch die Beißerchen im Silberlöffel kontrollieren, bevor das Date aufkreuzt! Allein dieser kleine Tick haucht dem eigentlich abgebrühten Anwalt mühelos Leben ein, und es ist dies ein typischer Coen-Kniff (Clooneys Rolle in »Burn After Reading« wird sich sehr für Körperertüchtigung und Fußbodenbeläge interessieren).

Clooneys charmante Präsenz wird gerne mit der eines Cary Grant oder eines Clark Gable verglichen, und das ist nicht weit hergeholt. Auch die Chemie mit der bezaubernden Catherine Zeta-Jones lässt das Prickeln der Klassiker mit Hepburn & Co. wieder aufleben. Wie sagt man? Es knistert. Beim Knistern aber lassen es die Coens bewenden, der Film wagt sich nicht in die Gefilde herzerfüllten Liebestaumels.

Das rief jene Kritiker auf den Plan, die den Coens seit »The Hudsucker Proxy« vorhalten, eine gemütsarme (manche sagen: zynische) Distanz zu ihren Charakteren zu kultivieren, die es dem Publikum erschweren würde, sich für diese zu erwärmen. Tatsächlich bleiben die romantischen Wellenlängen in »Intolerable Cruelty« zugunsten ausgedehnten Umeinanderherumtänzelns relativ kurz. Die Wärme, die Screwball-Klassiker von Lubitsch, Hawks oder Wilder trotz aller Hektik erfüllt, weicht bei den Coens oft genug einer ironischen Grundstimmung.

Das mag der intellektuellen, penibel planhaften Herangehensweise der Coens geschuldet sein und eine serienmäßige Unzulänglichkeit darstellen, die sie sich teilweise tatsächlich vorwerfen lassen müssen. Allerdings steht die Coen’sche Kühle einem Film wie »The Man Who Wasn’t There« zum Beispiel gerade gut zu Gesicht, und auch im Fall von »Intolerable Cruelty« ist sie kein so großer Makel. Im Gegenteil, sie rettet den Film vor der Schublade der Rom-Com-Strohfeuer. Er ist so smart wie seine Charaktere, und er kommt sehr gut ohne klebrigen Herzschmerz aus.

Das ließ »Intolerable Cruelty« den Test der Zeit bestehen. Er gilt heute als inspirierter, blitzgescheiter Wildfang von Film, der nur deswegen dem Mainstream nahesteht, um damit Schabernack treiben zu können.

Versetzt man sich aber für einen Moment noch einmal in die heulende Fan-Meute von damals, für die allein das Happy End des Films, das sogar so etwas wie eine lebensbejahende Moral ausstrahlt (einem Konzept, das dem Coenversum bislang gänzlich fremd war), ein Zeichen für den Ausverkauf der Coen-Brothers war, ist ihre Enttäuschung durchaus nachzuvollziehen. Schlimmer konnte es gar nicht kommen.

Well, well. Wie man sich doch manchmal irren kann.

Coen Culture. Der Schauspieler, der den Schauspieler spielt, der neben Billy Bob Thornton in der Arztserie auftaucht, kommt einem nicht von ungefähr bekannt vor. Das ist Bruce Campbell, seit Raimis »Evil Dead«-Trilogie ewiger B-Movie-Star und Mittelpunkt kultiger Verehrung (seiner markanten Kinnpartie wegen bisweilen ehrfürchtig ›His Chin-Ness‹ genannt). Sein Auftritt ist kein Einzelfall; man erlebt ihn auch als Reporter in »The Hudsucker Proxy«, als Seifenopern-Darsteller in »Fargo« und als Tierschutzbeauftragten in »The Ladykillers«.
 

25 Jahre Coen-Kino (9):
The Man Who Wasn’t There (2001)

Hamburg, 11. Februar 2010, 08:02 | von San Andreas

The Man Who Wasn't There (Icon)

Ed Crane, seines Zeichens Friseur, erpresst den Liebhaber seiner Frau, um mit dem Geld ins Dry-Cleaning-Geschäft einzusteigen. Der Plan scheint aufzugehen – doch dann wieder nicht. Jemand kommt zu Tode, dann noch einer. Eds Frau wird verhaftet. Ein Staranwalt wird verpflichtet, ein Privatdetektiv schnüffelt herum, es gibt eine Verhandlung. Ed scheint davonzukommen – doch dann wieder nicht …

Coen Country. Santa Rosa, eine kalifornische Kleinstadt Ende der 40er Jahre. Die Coens erweisen sich abermals als penible Replikateure anheimelnden Kleinstadt-Kolorits.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Doris), John Polito (Creighton Tolliver), Michael Badalucco (Frank), Billy Bob Thornton (Ed Crane), Richard Jenkins (Walter Abundas), Tony Shalhoub (Freddy Riedenschneider), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Me, I don’t talk much. I just cut the hair.« (Ed Crane charakterisiert sich selbst)

Coen Gold. Das fliegende Auto. Selten nutzen die Coens die Zeitlupe, aber hier verleiht sie einem Verkehrsunfall eine surreale Note; eine der wenigen Einstellungen, die aus der visuellen Abgeklärtheit des Films ausbrechen.

Classic Coen? Nach »Lebowski« und »O Brother«, zwei turbulenten, gut gelaunten Stoffen, schalten die Coen Brothers zwei bis drei Gänge zurück. Ihr neuer Film erzählt wieder nur – stilvoll und bedächtig – eine Geschichte. Keine Spielereien (na ja, wenige), keine Songsequenzen, keine witzigen Dialoge. Sogar die Farbe ist raus.

In schwarz-weiß sieht Zigarettenqualm nun mal besser aus. Und geraucht wird viel; Rauchen scheint die Lieblingsbeschäftigung von Ed Crane zu sein, unserem Helden, einem lakonischen, harmlosen Jedermann, der ein Leben von der Stange lebt und in dessen unbewegliches Gesicht der Zuschauer so viel oder so wenig Emotionen hineindeuten mag wie er möchte. Selbst sein lapidarer Off-Kommentar verzieht keine Miene.

Billy Bob Thornton ist die perfekte Wahl für diesen Part; sein unaufdringliches Charisma mach Ed Crane nicht zum Sympathieträger per se, doch wohl zum magischen Fixpunkt unserer Aufmerksamkeit. Er selbst scheint an der Geschichte, die er erzählt, seltsam unbeteiligt. Er urteilt nicht, er ärgert sich nicht, er reagiert nicht. Nicht viel, zumindest. Die Dinge passieren einfach.

Und kommen anders, als er denkt. Ein ums andere Mal erfährt die Geschichte unerwartete Wendungen, aber so signifikant sie auch sein mögen für Ed Cranes merkwürdiges Schicksal, der Film macht an der Oberfläche nicht viel Aufhebens darum. Überraschungen werden nicht als solche inszeniert, keine Choreografie schält den Humor aus einer Szene, keine Bögen halten die Spannung. In knapp zwei Stunden überschreitet der Film nur punktweise seinen Ruhepuls.

Er erzählt über Bilder und Worte, über Worte und Bilder, und man hängt an seinen Lippen. Der stetige, unaufgeregte Fluss der Erzählung entwickelt eine einlullende Qualität. Beethovens Klaviersonaten umspielen makellose, plastische, atemberaubend schöne Aufnahmen, bis ins Detail liebevoll-nostalgisch ausstaffiert und von einer dezenten Melancholie erfüllt, der man sich nicht entziehen kann.

Deakins‘ Kamera beobachtet Thorntons unergründliche Miene ein paar Sekunden länger als nötig, nimmt sich Zeit, fallende Haarbüschel aufzufangen oder sich träge kringelnden Zigarettenqualm. So gerät der Film vielleicht eine halbe Stunde länger als ein durchschnittlicher Film benötigen würde, eine Geschichte wie diese zu erzählen. Das Wie erscheint tatsächlich wichtiger als das Was, und das Wie lässt sich Zeit. Es ist diese halbe Stunde, die rastlosere Zeitgenossen verzweifeln lässt, aber es ist auch diese halbe Stunde, die den Film über den Durchschnitt hebt.

Es ist die Zeit, die man länger vor einem Gemälde verbringt als vor allen anderen. Wären die Coens Maler, dies wäre eines ihrer schönsten Bilder. Der Inhalt geht in seiner Form nicht nur vollends auf, die Form verleiht ihm erst Bedeutung. Eine Geschichte, die uns eigentlich nichts angeht, wird durch die Art ihrer Präsentation plötzlich interessant, nimmt uns mit bis zu ihrem Ende, welches uns in seiner bittersüßen Tragik dann doch mehr berührt als vermutet. Auf Ed Cranes letztem Gang streift sein Blick die Anwesenden; die Kamera fährt prüfend über ihre Haaransätze. Der Blick eines Friseurs.

Die Kunst der Coens ist es, bei allem Stilbewusstsein nicht manieristisch oder prätentiös zu wirken. »The Man Who Wasn’t There« ist konsequent das Werk zweier Stilisten, seine Anmutung erweckt genau die Ehrfurcht, die man vor den Schwarz-Weiß-Klassikern der 40er Jahre hat. Aber wir stehen nicht im Gebrauchtwarenladen; das Sortiment ist frisch, es ist Kino aus erster Hand. Die Coen Brothers machen nicht nur gutes Kino nach, sie machen gutes Kino. Und ihre Arbeit scheint angenehm unberührt von kommerziellen Erwägungen oder sonst welchen Zugeständnissen.

Die einzigen Konventionen, die sie nicht abschütteln können, sind die eigenen. Selbst in diesem zurückgenommenen Umfeld bekommt jeder Charakter ein paar schräge Attribute aufs Auge gedrückt, sei es ein seltsames Toupet (Tolliver), ein stechender Blick (Mrs. Brewster) oder ein hyperaktives Mundwerk (Frank). Und wenn im Verlauf der Geschichte Heisenbergs Unschärferelation (»The more you look, the less you really know.«), existentialistische Poesie (»I was a ghost. I didn’t see anyone. No one saw me. I was the barber.«) und gar fliegende Untertassen relevant werden, sind wir für Momente ganz und gar Gast auf dem Planeten Coen.

Coen Culture. »The Man Who Wasn’t There« kann man als Weiterführung einer Coen’schen Tradition sehen, nämlich der Reverenz an berühmte amerikanische Kriminalautoren. So wie »Miller’s Crossing« die Werke von Dashiell Hammett zum Vorbild hatte und »The Big Lebowski« jene von Raymond Chandler, zieht »The Man Who Wasn’t There« stilistisch wie inhaltlich Inspiration aus den Stoffen von James M. Cain (»Double Indemnity«, »The Postman Always Rings Twice«).
 

25 Jahre Coen-Kino (8):
O Brother, Where Art Thou? (2000)

Hamburg, 10. Februar 2010, 07:40 | von San Andreas

O Brother, Where Art Thou? (Icon)

Lebenskünstler Ulysses Everett McGill flüchtet mit zwei schlichteren Mitinsassen aus dem Knast, um einen Schatz zu bergen, welcher Gefahr läuft, überschwemmt zu werden. Ein Suchtrupp ist ihnen dicht auf den Fersen. Der Trip gerät zu einer Odyssee durch den Staat Mississippi, und was den Schatz angeht, war Everett auch nicht ganz ehrlich …

Coen Country. Mississippi zu Zeiten der Depression. Die charakter­vollen Südstaatler, die regionale Musik und die pittoresken, ländlichen Szenerien mussten die Coens reizen.

Coen Klüngel. George Clooney (Ulysses Everett McGill), John Goodman (Big Dan Teague), Holly Hunter (Penny), John Turturro (Pete), Michael Badalucco (George Nelson), Charles Durning (Pappy O’Daniel), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Damn, we’re in a tight spot.« (Everett kriegt das Flattern)

Coen Gold. Everett im Mom-and-Pop-Store; ein feines Beispiel des von den Coens kultivierten Subgenres des verkorksten Verkaufsgesprächs. Everett ärgert sich erst über die Auskunft des bräsigen Ladenhüters, sein Autoersatzteil wäre erst in zwei Wochen da, dann darüber, dass das vorrätige Haarpflegeprodukt nicht seine Marke ist (»I don’t want Fop, goddamn it. I’m a Dapper Dan man!«) und dass seine Lieblingspomade ebenso lange bräuchte wie das Ersatzteil (»Well, ain’t this place a geographical oddity. Two weeks from everywhere!«). Um sich dann, grummelnd zwar, mit einem Dutzend Haarnetzen zufrieden zu geben. Nur zu selten wird in einem Hollywood-Film die Sorge eines Mannes um sein Haupthaar thematisiert.

Classic Coen? Um »O Brother, Where Art Thou?« zu verstehen, muss man Homers Odyssee nicht gelesen haben; nach eigenem Bekunden haben das die Coens auch nicht getan. Wir treffen zwar Ulysses und Penelope, einen Zyklopen und die Sirenen, aber der Film trägt das große Vorbild nicht vor sich her, ähnlich wie »The Big Lebowski« die Anklänge an Raymond Chandler allenfalls erahnen ließ.

Homer stellt den Aufhänger, dann übernimmt der kontrollierte Wahnsinn der Gebrüder Coen: »O Brother …« gerät zu einer Art Roadmovie-Musical oder Musical-Roadmovie, das zugänglicher und kurzweiliger ist als die meisten anderen Coen-Filme. Das ist liebevolles, letztlich harmloses, aber eben feinstes Kino, das direkt ins Blut geht und vor allen Dingen Joel und Ethan Gelegenheit gibt, ihren angeschrägten Obsessionen zu fröhnen.

Ungebrochen beispielsweise ihre Faszination für Mundarten; der herrliche Südstaatenslang macht jede Synchronisation zum Verbrechen, zumal der Film einen Teil seines Witzes aus dem Gegensatz zwischen dem rural geprägten Dialekt der einfältigeren Charaktere (»We thought you was a toad!«) und dem sich distinguiert gebenden, kunstvollen Duktus der Städter zieht. »Thank you for the conversational hiatus. I generally refrain from speech during gustation«, parliert beispielsweise John Goodman in seiner Paraderolle als eloquenter Grobian, seit »Raising Arizona«, »Barton Fink« und freilich »The Big Lebowski« ein Coen-Standard. Hier als windiger, einäugiger Bibelverkäufer, der der erste ist, den wir später bei einem KKK-Aufmarsch identifizieren können: Seine Kapuze hat nur ein Guckloch.

Diese bizarre Veranstaltung weckt in ihrer ausbaldowerten Choreografie Erinnerungen an die »Lebowski«-Traumsequenzen, entwickelt aber eine zusätzliche, ominöse Qualität. Schließlich ist hier ein Lynchmob im Begriff, einen Farbigen aufzuknüpfen, und wenn der Hexenmeister den schauerlichen Grabesblues »O Death« anstimmt, während Clooney und Kollegen auf die Szene stolpern, halten sich Beklemmung und Belustigung auf wunderbare Weise die Waage.

Wiedererkennungswert hat ebenfalls die Figur des geheimnisvollen, dämonischen Widersachers, diesmal in Gestalt des auch nachts sonnenbebrillten Suchtrupp-Anführers Cooley. Seine Szenen haben immer mit Tod und Feuer zu tun, weswegen viele Coen-Kenner mutmaßen, er wäre der Teufel, dem der junge Musiker, den McGill und Co. aufgabeln, seine Seele verkauft haben soll. Nur einer von vielen Querverweisen im Film.

Gegen Ende erhascht der Zuschauer einen Blick auf eine Kuh auf einem schwimmenden Dach – ein Bild, dass man so oft nicht zu Gesicht bekommt. Ebenso wird niemand, der den Film gesehen hat, jemals ›Dapper Dan‹-Haarpomade vergessen, und den Unterwasser-Tanz Dutzender ›Dapper Dan‹-Döschen. Die Poesie der kleinen Dinge: wohl das liebste Steckenpferd von Joel und Ethan.

Einige Kritiker identifizierten stolz all diese Elemente als Coen-Manierismen und postulierten – nach acht Filmen wohl so etwas wie eine Masche witternd – dass »O Brother, Where Art Thou?« trotz der guten Zutaten nicht zu einem Ganzen fände. Dieser Eindruck mag von der episodischen Struktur des Films herrühren; die liegt in der Natur der Geschichte. Besser beraten ist man, sich vom Einfallsreichtum der Inszenierung beeindrucken zu lassen, der allein für zwei, drei Durchschnittsfilme gereicht hätte.

Auch verliert man sich leicht im romantischen Retro-Look des Films; tatsächlich war dies der erste Hollywoodfilm, der komplett digital umgefärbt wurde. So kommt das ausnahmslos stilecht in Szene gesetzte Südstaatenkolorit erst richtig zur Geltung: urwüchsige Sumpflandschaften, Chaingangs auf staubigen Straßen, mit spanischem Moos behangene Baumriesen, weite Baumwollfelder, feudale Villen mit Säulenverandas. Die Ära der Great Depression drückt dem Film ihren Stempel auf: Wir werden Zeuge baptistischer Taufrituale, erleben populistischen Provinzwahlkampf, erhalten Einblick in eine 25-Watt-Radiostation. In dem Moment, als Everett und Co. dort in eine Dose singen, feiert der heimliche Hauptdarsteller des Films seinen Auftritt: die Musik.

Sie allein ist das Eintrittsgeld wert. Wer nicht wenigstens mit der Fußspitze wippt, wenn die Soggy Bottom Boys den Folk-Gassenhauer »I Am a Man of Constant Sorrow« zum Besten schmettern, der ist im falschen Film. Als mehr oder weniger out-of-fashion galten im Jahr 2000 jene alten Lieder des Bluegrass, die Südstaaten-Spirituals, die Balladen der Appalachian Music, die archaischen Stücke des Delta Blues, die frühen Hillbilly-Songs – bis »O Brother, Where Art Thou?« kam und dieser uramerikanischen Musik zu neuer Popularität verhalf: Der von T-Bone Burnett produzierte Soundtrack verkaufte sich allein in den Staaten mehr als sieben Millionen Mal und gewann drei Grammys, unter anderem als ›Album of the Year‹.

Coen Culture. Inspiration zum Konzept von »O Brother, Where Art Thou?« lieferte die Geschichte »A Dozen Tough Jobs« von Howard Waldrop, die die Prüfungen des Herkules in den Süden der 20er Jahre verlegte. Seinen merkwürdigen Titel, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, borgt sich der Film aus Preston Sturges‘ Klassiker »Sullivan’s Travels«, in dem ein Regisseur einen sozialrealistischen Film diesen Titels zu drehen sich anschickt, aber niemals fertigstellt.
 

25 Jahre Coen-Kino (7):
The Big Lebowski (1998)

Hamburg, 9. Februar 2010, 07:36 | von San Andreas

The Big Lebowski (Icon)

Der Teppich von Jeffrey »The Dude« Lebowski nimmt Schaden, als er mit einem Millionär gleichen Namens verwechselt wird. Bei dem Versuch, sich das gute Stück wiederzubeschaffen, gerät er prompt in eine bizarre Kidnapping-Geschichte und benötigt die volle Unterstützung seiner Bowling-Kumpels.

Coen Country. Das L.A. der frühen 90er Jahre. Nicht wirklich eine typische Coen-Location, möchte man meinen, aber die Tempel der kleinbürgerlichen Bowling-Subkultur und die Gefilde der Haute-Volée erinnern an »Barton Finks« mal schmuddelig-beengten, mal weitläufig-hellen Schauplätze. Und das war auch L.A.

Coen Klüngel. John Goodman (Walter Sobchak), Steve Buscemi (Donny), John Turturro (Jesus Quintana), Peter Stormare (Uli Kunkel alias Karl Hungus), John Polito (Da Fino), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »You’re entering a world of pain.« (Walter lässt beim Bowlen nicht mit sich spaßen)

Coen Gold. Die Traumsequenzen. Die eine scheint direkt einer Choreografie von Tanzveteran Busby Berkeley entsprungen, die andere lässt über L.A. Teppiche fliegen, und eine weitere beinhaltet die wohl einzige Kamerafahrt der Filmgeschichte aus dem Innern einer Bowlingkugel. Womöglich waren es diese Sequenzen, die den Film bei Psychedelia-Enthusiasten so beliebt machten.

Classic Coen? Wer denkt bei »Lebowski« schon an Raymond Chandler? Niemand tut das, und doch liegt diesem durchgeknallten Film eine Story in seinem Geiste zugrunde. Und tatsächlich, durch die Marihuana-Wolken hindurch erkennen wir einen Kriminalfall in aristokratischen Kreisen, wir haben auch perfide Gangster und jede Menge Verwicklungen. Und – wir haben einen Detektiv.

Natürlich wären die Coens nicht die Coens, wenn sie sich für diesen Job nicht den unpassendsten, den am allerwenigsten dafür prädestinierten Zeitgenossen ausgesucht hätten: Jeff Lebowski, einen schlabberigen, schnodderigen Taugenichts in Bademantel und Flip-Flops, längst eine Ikone der Populärkultur. Seinen Einstand gibt er im Supermarkt, an der Milchpackung nippend, mit einem Scheck über 69 Cent bezahlend. Alles klar.

Kurz darauf fängt der Film an, absonderliche Haken zu schlagen, und der Dude, so nennt ihn alle Welt, wurschtelt sich durch einen wunderbar überfrachteten Plot, der am Ende keinen interessiert, der im Grunde auch nicht wichtig ist (Wer hat bitteschön die Zusammenhänge in »The Big Sleep« verstanden? Nicht mal Chandler hat das, nach eigener Aussage …). Der Plot dient nur als Substrat, auf dem aberwitzige Situationen gedeihen, in denen sich unsere Helden bewähren müssen.

Die Coens lassen diesbezüglich sämtliche Bremsklötze sausen, nichts gebietet ihren Passionen Einhalt, das Skurril-O-Meter erreicht den Anschlag. Doch die Exzentrik artet nicht in Beliebigkeit aus. Sie vermittelt bei allem Geigel immer noch kohärente Klasse, sie hält Kontakt zur den Charakteren und ihren Motiven. So kann man als Zuschauer eine Verbindung mit dem Film knüpfen. Und einen Film, dem die Leute sich tief verbunden fühlen, und der dabei einzigartig andersartig ist, nennt man Kult. »The Big Lebowski« ist ein Kultfilm geworden, aber ein richtiger, und niemand war überraschter darüber als Joel und Ethan Coen. Bis heute finden in den Staaten jährliche Lebowski-Festivals statt, selbst im weit entfernten Dresden gibt es eine Lebowski-Bar mit dem Film in Dauerscheife und White Russian satt.

Wie kann ein Film, in dem es um nichts geht, so vielen Menschen so viel bedeuten? Nun, Seinfeld war bekanntermaßen auch eine »show about nothing«; bei »Lebowski« treffen wir auf dasselbe Phänomen: eine grundsympathische Sinnfreiheit. Wobei, nihilistisch ist der Film nicht, auch nicht fatalistisch. Seine Figuren haben immer noch Werte und Eigenschaften, die das Publikum wiedererkennt. Die Weltsicht des Films bringt gewisse, universale Saiten zum Schwingen.

Der Dude ist in seiner gut abgehangenen Art einfach unfasslich cool; im Lexikon müsste unter ›easy-going‹ ein Bild von ihm sein. Niemanden stört es, dass diese Coolness nicht von einer intellektuellen oder psychologischen Überlegenheit herrührt, sondern von grenzenloser Ignoranz und Verantwortungslosigkeit. Sein Verhältnis zu Walter, einem hitzköpfigen Kriegsveteran, gleicht dem eines streitbaren Ehepaares, und irgendwo ist es sehr berührend. Die Dinge werden bis an die Schmerzgrenze zerredet, Phrasen werden gedroschen, dass es eine Freude ist, und das Temperament Walters führt das sonst so gleichgültige Wesen des Dudes ein ums andere Mal an den Siedepunkt. Aber irgendwie verstehen sich die beiden.

Die Diskussionen in der Bowlinghalle sind kolossal banal; hier wird in großem Stil aneinander vorbeigeredet. Dann wieder erwecken Walters Kriegshintergrund und die Referenzen auf den gerade stattfindenden Golfkrieg den Eindruck, hier versteckten sich politische Doppelböden. Mitnichten. Aber die Sprüche kommen uns bekannt vor. Sie klingen echt, die Leute reden so, vielleicht reden wir selbst sogar so. Und das ist so erschreckend wie amüsant.

Wie derlei freidrehende Dialoge, solche farbigen Charaktere und das undurchdringliche Story-Konvolut entstanden sind, mag man sich gar nicht vorstellen; offenkundig wurden Joel und Ethan oft gefragt, was genau sie während der Drehbuchsessions geraucht oder getrunken hätten. Doch wie es Art der Coens ist, wurde auch »The Big Lebowski« am Reißbrett entworfen; die Parts von Steve Buscemi (Donny, dem es kaum vergönnt ist, einen Satz zu vollenden), John Goodman (Walter »Shut the fuck up Donny.« Sobchak) und John Turturro (Jesus Quintana, schmieriger Paradiesvogel) wurden beispielsweise extra für diese Schauspieler geschrieben.

Das Skript aber entwickelt ein Eigenleben. Der Aberwitz der Situationen überlagert schnell ihren Zusammenhang; Logik und Stringenz treten konsequent zurück hinter das Zelebrieren der flüchtigen, merkwürdigen Momente. Niemand wird je wissen, wie das Match von Dude & Co. gegen die Mannschaft von Jesus Quintano ausgegangen ist. Ebenso wenig erfährt der Film ›closure‹, indem der Dude am Ende mit seinem alten Teppich wiedervereint wird (ein Vorschlag des Produzenten, dem die Coens jedoch nicht folgten). Und der altgedienten Raspelstimme Sam Elliot (›The Stranger‹) konnten Joel und Ethan keine wirklich befriedigende Auskunft erteilen, als der fragte, was er in dem Film eigentlich soll.

Seine erdige Erzählerinstanz hat die Story ebenso wenig im Griff wie wir, vermag aber zusammenzufassen, was wir fühlen: »It’s good knowin‘ he’s out there. The Dude. Takin‘ ’er easy for all us sinners.« Das Ende eines Films, dessen bunte und dunkle Elemente sich zu einem einnehmenden Ganzen zusammengefügt haben, wie durch ein Wunder sämtliche Klischees umschiffend, alles getaucht in wunderbare Bowling-Romantik, meisterhaft fotografiert von Roger Deakins (bereits sein vierter Film mit den Coens) und stilecht untermalt mit Feelgood-Stücken von Kenny Rogers, CCR und den Gipsy Kings.

»The Big Lebowski« mag ein Film sein, in dem es um nicht viel geht, aber was wäre das Kino der Neunziger ohne ihn? Er füllt seine eigene Nische, etabliert seine eigene Ästhetik, er hat keine Vorgänger, er hat keine Nachfolger. Heerscharen von Fans ist seine schräge Attitüde profund genug, sie hat etwas Anarchisches, gleichzeitig etwas Sorgloses. Aber wahrscheinlich möchten sie einfach nur sein wie der Dude – und wer möchte das nicht. Jemand, dessen einziges Problem sein kleiner Teppich ist. Denn der hat das Zimmer erst richtig gemütlich gemacht.

Coen Culture. Steve Buscemi feiert hier seinen fünften (und vorerst letzten) Auftritt in einem Coen-Film, und wie Joel und Ethan im Making-of auffällt, haben sie ihn in jeder seiner Rollen sterben lassen (außer in den kleineren Parts in »Barton Fink« und »The Hudsucker Proxy«). Und nicht nur das: Seine Überreste würden kurioserweise mit jedem Film kleiner. In »Miller’s Crossing« endet er als verunstaltete Leiche im Wald, in »Fargo« haben wir ein halbes Bein, in »Lebowski« nur noch Asche.
 

25 Jahre Coen-Kino (6):
Fargo (1996)

Hamburg, 8. Februar 2010, 07:30 | von San Andreas

Fargo (Icon)

Jerry Lundegaard, verzweifelter Autoverkäufer, lässt seine Frau von zwei zwielichtigen Ganoven kidnappen, um vom Lösegeld seines Schwiegervaters einen Großteil abzu­zwacken. Als die Sache gründlich schief geht und es zu Kollateralschäden kommt, tritt Frau Sheriff Gunderson auf den Plan …

Coen Country. Das eisige, unwirtliche Heartland des Mittleren Westens. Fargo liegt im Südosten von North Dakota, der Film spielt aber auch in Minneapolis, Minnesota – der Heimatstadt der Coens.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Marge Gunderson), Steve Buscemi (Carl Showalter), Bruce Campbell (Soap Opera Actor), Peter Stormare (Gaear Grimsrud), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »This was supposed to be a no rough stuff type deal!«
(Jerry Lundegaard erfährt, dass die Dinge etwas aus dem Ruder laufen)

Coen Gold. Das Kidnapping. Wie Showalter mit Skimaske und Brechstange die Verandatreppe heraufkommt und durchs Wohnzim­merfenster späht und Jean Lundegaard ihn beobachtet, dermaßen perplex, dass sie keinen Muskel rühren kann, ist schauerlich komisch. Wenn die arme Frau die Kidnapper dann noch unterstützt, indem sie sich selbst ausknockt oder später mit verbundenen Augen gegen die Bäume rennt, mag man sich nicht so recht mit den feixenden Gangstern freuen. Humor der ganz fiesen Sorte.

Classic Coen? Nachdem »The Hudsucker Proxy« von vielen als mittlere Enttäuschung abgeheftet worden war, kam mit »Fargo« eine Coen-Breitseite, die Kritik und Publikum schlichtweg dahinraffte. Ein genialisches Glanzstück, das stilistisch und inhaltlich an die Welt von »Blood Simple.« erinnerte. Doch während der noch die Attribute eines Neo Noir aufwies, war »Fargo« ein waschechtes Original.

Der Film ist nicht retro, ist nicht Pop, ist nicht Avantgarde, nicht mal Zeitgeist. Es ist ein Pulpthriller ohne Pulp, ein Schmuddelroman ohne Schmuddel. Er spielt in einem zeitlosen Provinzkosmos, dreht sich ausschließlich um sich selbst. Er beginnt, ist perfekt, und er endet. Keine Verweise, keine Doppelböden, keine Botschaft (Joel Coen: »There is nothing to understand.«). »Fargo« ist Kino, Kino ist »Fargo«.

Der Film lässt das hässliche Antlitz des Verbrechens in Small Town America auftauchen, doch treffen wir weder auf Kleinstadtklischees noch Krimischablonen. Das Personal des Films erscheint so erschre­ckend normal, so dilettantisch und profan, bisweilen ausgesprochen idiotisch, dass wir die Behauptung, der Film beruhe auf Tatsachen, ohne Weiteres zu glauben bereit sind.

Eine Finte, wie der Disclaimer im Abspann verrät (den einige nicht gelesen haben: auf den Feldern Minnesotas sollen Bürger beobachtet worden sein, die eifrig nach der Tasche mit dem Geld suchten …). Tatsächlich gab es in der Gegend ähnliche Fälle um verpfuschte Entführungen, wie man nachlesen kann, und es gibt sie wahrscheinlich überall. In der eiskalten Ödnis North Dakotas und Minnesotas allerdings gewinnen die Auswüchse des unorganisierten Verbrechens eine eigentümlich faszinierende Note. Blut im Schnee, ein Bild von großer Kraft.

So versammeln sich in »Fargo« eine Anzahl frappierender Gegensätze: Unter seiner verharschten Oberfläche ruht ein warmer Kern, seine Ästhetik scheint einerseits stilisiert, andererseits bitter realistisch, er steckt voller Humor – und grässlicher Gewalt. Wie passt das zusam­men? Kann man dem Film vorwerfen, er wäre unentschlossen im Ton, würde Gewalt selbstzweckhaft und Humor lediglich als ›comic relief‹ einsetzen?

Schwerlich; die Dramaturgie hegt keine Hintergedanken. Wenn in »Fargo« Gewalt aufblitzt, dann tut sie das hart und trocken, ohne Soundtrack, ohne Stilisierung – wenn man einen Vergleich bemühen möchte, wie bei Scorsese, nicht wie bei Tarantino. Der Humor des Films schwingt mit, drängt sich nicht auf, ist lapidar, teils tiefschwarz. Die Coens gewinnen ihre komischen Momente aus der präzisen Beobachtung der menschlichen Natur, nicht, wie noch bei »Raising Arizona« und »Hudsucker«, aus Szenen, die auf Lacher hin inszeniert sind.

So ist die liebenswürdige Unbedarftheit von Chief Marge Gunderson ihr (und unser) einziger Schutz vor der brutalen Realität der Morde und Leichen in ihrem Bezirk. Wie sie hochschwanger über den verschneiten Tatort stapft und in herrlichem Midwest-Singsang ihre Ermittlungen kommentiert, ist gleichermaßen glaubwürdig wie amüsant.

Frances McDormands Charakter ist so weit entfernt von einem Klischee-Cop wie nur irgend möglich; sie erinnert in ihrer drolligen, scheinbar arglosen Art und ihrer nichtsdestoweniger unfehlbaren kriminellen Intuition eher an Columbo oder Miss Marple und bringt das in den Film, was vielen anderen Coens abgeht: ein warmes Herz. In Marge und ihrem gemütlichen Mann, der Enten malt und extra in aller Frühe aufsteht, um seiner Frau Eier zu machen, findet »Fargo« sein Zentrum. Und das lange, nachdem der Plot um ein Kidnapping und einen Doppelbetrug in Gang gesetzt wurde.

Jerry Lundegaard (selten besser: William H. Macy) liegt die Neben­tätigkeit als Krimineller nicht besonders, doch er sieht darin die einzige Möglichkeit, seinem zermürbendem Fußvolk-Dasein zu entkommen. Wenn er sich dann um Kopf und Kragen redet, als sein Plan grandios misslingt, wenn er um Fassung ringt, sein Lächeln eine Grimasse, dann erfasst den Zuschauer ein kurioser Mix aus Mitleid und Schadenfreude.

Seltsamerweise nimmt man auch Anteil am Schicksal von Carl Showalter (kinda funny-lookin‘: Steve Buscemi), dem fahrigen, wehleidigen Freak, der die Drecksarbeit erledigen soll, aber kaum mit seinem Kompagnon Gaear Grimsrud (unheimlich: Peter Stormare) klar kommt, einem stoischen Grobian mit Hang zu eruptiver Gewalt. Die Kooperation der beiden endet dann auch abrupt und tragisch; ihre letzte gemeinsame Szene bei der Schreddermaschine ist auf so schockierende Weise komisch, dass sie wohl als die am besten in Erinnerung gebliebene aller Coen-Filme bis 1996 gelten kann.

Das Jahr markiert einen (ersten) Höhepunkt im Schaffen der Coen Brothers. Nie zuvor war ihnen eine derartige Welle ungeteilten Lobes entgegengeschlagen. Sämtliche Kritiker schienen sich abgesprochen zu haben, den Film ihren Jahresbestlisten voranzustellen. »Fargo« eignet sich auch gar nicht zum Ausleben kapriziöser Kritikerlaunen, er bietet kaum einen Halt für Nörgelei. Er ist einfach gut und rund, und er macht den Eindruck, als wisse er das selbst nicht.

Er fühlt sich an wie ein unaufdringlicher Independent-Streifen, den die Experimente der Avantgarde genauso unbeeindruckt gelassen haben, wie sein Stil nicht überformt wurde von den kommerziellen Unbilden populärer Kinokultur. Seine Wirkung scheint direkt von den Charak­teren auszugehen, in deren Haut der Film, und mit ihm der Zuschauer, behende schlüpft, einer nach dem anderen. Die Geschichte wird weniger gezeigt, sie wird erfahren.

Das ist großes Kino, und es scheint so mühelos. Man darf aber nicht vergessen: Wir befinden uns in einem Coen-Film, und jedes Detail ist wohlkalkuliert. Macys Gehaspel und Gestotter stand genau so im Skript, McDormands Manierismen und Phrasen (»Ya, you betcha.«) wurden echten Landsleuten von Dialect Coaches abgeschaut. Es existierte ein detailliertes Storyboard, wie bei jedem Coen-Film. Die Produktion musste auch noch dem Winterwetter hinterher reisen, denn die Coens und ihr Hauskameramann Deakins hatten präzise Vorstel­lungen von den Bildern, die sie aufnehmen wollten.

Und selbige prägen den Film. Diese frostigen Flächen, der fahle Himmel über der Ahnung eines Horizonts, die verschneiten Parkplätze, die eisverkrusteten Böschungen der endlosen Landstraßen. Und mitten darin, ein Gemetzel. Während der Promotion zum Film wurde ruchbar, dass das Opfer, das mit dem Gesicht nach unten im Schnee liegt, von einer Berühmtheit verkörpert würde; die Rede war von Prince, der aus Minneapolis stammt. Dies stellte sich genauso wie die Authentizitäts-Halbwahrheit als von den Coens gestreutes Gerücht heraus.

Der Schluss-Sentiment des Films ist Marge Gundersons simpler Moral gewidmet, die in ihrer Banalität doch so einleuchtend und entwaffnend ist, dass man letztlich doch so etwas wie eine lebensweise Botschaft aus »Fargo« mitnehmen kann: »There’s more to life than a little money, you know. And here ya are. And it’s a beautiful day.«

Coen Culture. Dem Film wurde 2006 die Ehre zuteil, in die National Film Registry aufgenommen zu werden, eine Institution der Library of Congress, die sich der Aufgabe verschrieben hat, Filme zu bewahren, die »culturally, historically, or aesthetically significant« sind. Dazu muss ein Film mindestens zehn Jahre alt sein, und »Fargo« ist einer von nur fünf Filmen, die mit ihrem zehnten Geburtstag postwendend aufge­nommen wurden. Er ist von allen 525 Werken im Archiv bis heute der jüngste Beitrag.
 

25 Jahre Coen-Kino (5):
The Hudsucker Proxy (1994)

Hamburg, 7. Februar 2010, 08:48 | von San Andreas

The Hudsucker Proxy (Icon)

Als Waring Hudsucker, Präsident der erfolgreichen Firma Hudsucker Industries, das Zeitliche segnet, schmiedet der Vorstand den Plan, den Börsenwert des Unternehmens zu senken, um die Anteile des Chefs billig aufkaufen zu kön­nen. Dazu soll ein ausgemachter Idiot als neuer Präsident installiert werden, und wer wäre da besser geeignet als Landei Norville Barnes, der gerade im Mailroom angefangen hat? Norville aber hat eine Sache in petto (»Y’know, for kids!«), die dummerweise riesigen Erfolg hat …

Coen Country. New York City, 1958/59. Heimlicher Nebenschauplatz jedoch ist Muncie, Indiana, das Heimatnest von Norville Barnes, dessen liebenswürdige Einfalt zeigt, wo das Herz der Coens schlägt.

Coen Klüngel. Charles Durning (Waring Hudsucker), John Polito (Mr. Bumstead), Steve Buscemi (Barkeeper), Sam Raimi (Brainstormer), Bruce Campbell (Smitty), John Goodman (Newsreel-Ansager), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Does it come with batteries?« »How can you tell when you’re finished?« »Is there a larger model for the obese?« »What if you tire before it’s done?« »What the hell is it?« (der Hudsucker-Vorstand hinterfragt den frisch erfundenen Hula-Hoop-Reifen)

Coen Gold. Norville Barnes in Mussbergers Büro. Als Norville seinem Boss (Paul Newman) die Idee seines Hula-Hoop-Reifens erklärt (er zeigt ihm einen Kreis auf einem Blatt Papier), unterbricht der Norvilles Wortschwall mit solch ehrfurchtgebietendem Nachdruck (»WAIT A MINUTE!«), dass selbst das Tischspielzeug zu pendeln aufhört. In Großaufnahme natürlich, klack!

Classic Coen? »Barton Fink« hatte die Leute verunsichert, der Film war genremäßig nicht zu fassen. Als man von dem neuen Projekt der Coens erfuhr, gewann man den Eindruck, als wollten sie diesmal auf Nummer Sicher gehen: Eine Komödie, eine nostalgische Geschichte im Stile Capras. Eine sichere Bank.

Dachte sich auch Joel Silver, der es wissen wollte und den von Kritikerlob überhäuften Brüdern Coen vierzig Millionen zusteckte. Kein Aufwand war zu groß, die Welt von Hudsucker Industries zum Leben zu erwecken, jedes einzelne Detail nach Coen-Gusto zu realisieren. Nun, dieser Teil des Planes ging vorzüglich auf: Sämtliche Szenen sind aufs Liebevollste ausgefeilt, jedes Setting in kolossalem Stil hergerichtet, jede Einstellung auf maximalen Effekt getrimmt.

Hinter all der Fingerfertigkeit aber verschwindet der lieb gewonnene, verwegene Coen-Charme fast vollständig. Was gar nicht so schlimm wäre, wenn an seiner Stelle der Charme eines Frank Capra oder eines Howard Hawks den Film erfüllen würde. Als Hommage funktioniert der Film nur auf dem Papier; die Screwball-Anleihen und die Slapstick-Schablonen sind sehr wohl vorhanden und stilecht umgesetzt, auch der Wilder’sche Stakkato-Wortwitz weiß zu überzeugen – doch vermag der Film die Ahnung, dass er am Reißbrett konstruiert wurde, nie ganz abzuschütteln.

Um als Komödie durchzugehen, fehlt es dem Film einfach an echter Fröhlichkeit; und tatsächlich funktioniert er viel besser als Fabel über den amerikanischen Kapitalismus. Die Tretmühlen der schuftenden Arbeiter, die Batterien von Buchhaltern, die bräsigen Chefetagen, die nach Sensationen geifernden Medien – hier entwickelt »Hudsucker« durchaus satirische Schlagkraft.

So rückt der Film eher in die Nähe der Werke Fritz Langs oder Terry Gilliams; sein großes Kapital ist nicht die Figur des Simpels und seiner Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte, sondern die Darstellung seiner seelenlosen Umgebung. Die kapitalistische Maschinerie, ihre Hierarchien, ihre Bürokratie, ihre autistische Betriebsamkeit, ihr Profitwahnsinn und ihre nackte Gier: Hudsucker ist eine gut geölte Industrie, die nur um ihrer selbst Willen existiert. Nichts illustriert das besser als die Tatsache, dass an keiner Stelle klar wird, was die Firma bis zur Einführung des Hula Hoop eigentlich produziert hat.

Gut geölt wie Hudsucker stampft der Film vorwärts, in unerbittlichem Timing, rechts, links, keine noch so kleine Pointe auslassend; sämtliche Dialoge, sämtliche Design-Elemente klicken mechanisch ineinander, womöglich sich zwischen die Bilder stehlende Gefühlsregungen im Keim erstickend. Am Ende kriegt der Film die Kurve und legt ein astreines Capra-Finale hin, komplett mit einem Engel à la »It’s a Wonderful Life«. Auf dem Weg dahin hat »Hudsucker« allerdings das Herz des Zuschauers kalt gelassen. Und das brach dem Film an der Kasse das Genick.

Die Kritiker redeten den Film schlecht, sahen statt des Künstlerischen nur das Künstliche. Ein Stück synthetisches Kino wäre das, gemacht wie fürs Museum oder für Filmstudenten, nicht für ›die Menschen da draußen‹. Die Zuschauer blieben weg, der Film machte kaum drei Millionen. Joel Silver war bestimmt kurz davor, den Waring Hudsucker zu geben und sein Büro durch das geschlossene Fenster zu verlassen.

Dabei ist diese Szene allein das Eintrittsgeld wert. Ein cineastisches Kleinod, wie im Blick des Mannes seine letzte Entscheidung heranreift, wie er langsam die Taschenuhr ablegt und die Zigarre, wie seine Fullbrogue-Schuhe das Polster seines Chefsessels eindrücken, als er den auf Hochglanz polierten Tisch erklimmt. Und wenn der Mann dann aus dem 44. Stock fliegt (das Zwischengeschoß nicht mitgezählt), mit einem trockenen »Splat!« auf dem Bürgersteig landet und die über­gewichtige Passantin schrill zu schreien beginnt, dann ist er doch da: der Coen-Touch.

Ja, er zeigt sich hier und da. Zum Beispiel in der merkwürdigen Aus­druckstanz-Traumszene. Oder in dem Heiligenschein des Hudsucker-Engels, der schlingert wie ein Hula-Hoop-Reifen (»We’re all wearing them upstairs. It’s a fad.«). Oder in den durchweg köstlichen Montagesequenzen. Eine davon rafft die Produktion, die Vermarktung und den Erfolg des Hula Hoops in schier unerschöpflichem Ideen­reichtum. Die Langwierigkeit der Namensfindung zu visualisieren, indem im Vordergrund des Brainstorming-Büros eine Sekretärin »Krieg und Frieden« liest, und ein paar Einstellungen später »Anna Karenina«, ist schlicht genial.

Mit dem finster dreinblickenden Hausmeister haben wir auch die Stelle des dämonischen Fieslings besetzt, der zum Personal vieler Coen-Filme gehört. Ihm entgegengesetzt ist diesmal eine das Gute symbolisie­rende Person, nämlich in Gestalt des Technikers, der die riesige Uhr des Gebäudes wartet. Ihm wird am Ende eine alles entscheidende Rolle zukommen, ebenso dem Gebiss des Hausmeisters.

Die Szene, in der der wunderbar benamste Dr. Hugo Bronfenbrenner, ein akzentsprechender Freud-Verschnitt, Norville Barnes vor dem versammelten Vorstand vermittels eines eigens angefertigten Films für verrückt erklärt, ist typisch für die cartoonmäßige Überzeichnung des Films. Doch beschränkt sich die Geschichte eben nicht auf derlei originelle Elemente, sondern erzählt auch von einer Beziehung zwischen zwei Menschen – aber die bleibt eine bloße Behauptung.

Jennifer Jason Leighs Figur ist nicht schwer als »His Girl Friday«-Hommage zu identifizieren, aber ihrer rasenden Reporterin fehlt es leider an Liebreiz und Ausstrahlung, so dass die Chemie mit Tim Robbins‘ Charakter auch nie so richtig zustande kommt. Vielleicht hätte das den Film für mehr Leute befriedigender gemacht und die Coens davor bewahrt, ein Opfer ihrer ironischen Grundhaltung zu werden. »The Hudsucker Proxy« mag ein Film fürs Museum sein, aber in seiner Vitrine ist er ein echtes Juwel; es lohnt sich, genau hinzuschauen.

Coen Culture. Die Coens hatten beim Verfassen des Drehbuchs (es entstand bereits 1985) die Unterstützung eines gewissen Sam Raimi. Jener entpuppt sich als langjähriger Weggefährte der Coens: Joel war Schnittassistent bei »The Evil Dead«, mit Ethan zusammen half er Raimi beim Drehbuch zu dessen zweiten Film. Raimi wiederum ist in winzigen Rollen bei den Coens zu sehen: in »Miller’s Crossing« (der kichernde Scharfschütze) und in »The Hudsucker Proxy« (einer der Hula-Hoop-Brainstormer).
 

25 Jahre Coen-Kino (4):
Barton Fink (1991)

Hamburg, 6. Februar 2010, 08:10 | von San Andreas

Barton Fink (Icon)

Barton Fink, ein aufstrebender New Yorker Theaterautor, erliegt den Verlockungen Hollywoods und macht sich daran, ein Drehbuch zu schreiben. Der Job entwickelt sich zum Alptraum: Das Hotel ist zum Fürchten, seine Idole enttäu­schen ihn, zudem ereilt ihn eine schwere Schreibblockade. Allein der nette Nachbar Charlie Meadows scheint ihm wohlgesonnen …

Coen Country. Die Geschichte spielt 1941 in Hollywood. Die Schau­plätze verbreiten typisch amerikanische Schmuddel-Tristesse auf der einen, elitäre Dekadenz auf der anderen Seite: eine Ausstattungs­spielwiese für die Coens.

Coen Klüngel. John Goodman (Charlie Meadows), John Polito (Lou Breeze), Steve Buscemi (Chet!), John Turturro (Barton), Tony Shalhoub (Ben Geisler), John Mahoney (W.P. Mayhew), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »I’ll show you the life of the mind!« (Charlies Frust ent­lädt sich in einer wahren Apokalypse)

Coen Gold. Die Rezeptionsglocke. Barton kommt in L.A. an, betritt die riesige Lobby des Earle Hotels. Niemand ist an der Rezeption, er be­tätigt die Glocke, »Rinnnng!«, und schaut sich um. Bald hört man ein Rumpeln, hinter der Theke öffnet sich eine Bodenklappe, und der Hotelangestellte erscheint. Das erste, was er macht: Er führt seinen ausgestreckten Zeigefinger an die Glocke und lässt den Ton verstum­men, dessen man sich – nach exakt achtunddreißig Sekunden – schon gar nicht mehr bewusst war.

Classic Coen? Die Tatsache, dass Joel und Ethan das Skript zu »Barton Fink« während einer Art Schreibblockade bei den »Miller’s Crossing«-Sessions verfassten, wirft ein interessantes Licht auf den Film. Es erklärt zum einen, dass die Story sich um einen schreibblockierten Filmautor dreht, und zum anderen, dass der Film – ganz im Gegensatz zu »Miller’s Crossing« – keinen Genre-Regeln gehorcht, sondern völlig losgelöst in einer freien, kreativen, und vor allem: coenesken Form aufgeht.

Es ist der erste Film, der einen unverstellten Blick auf die Essenz des Coen-Kinos erlaubt. Weder stützt er sich auf klassische Stoffe der Literatur (Dashiell Hammett im Falle von »Miller’s Crossing«) noch baut er auf Genre-Prototypen auf (»Blood Simple.« als Neo Noir). Er verfolgt auch nicht die Slapstick-Marschrichtung, die »Raising Arizona« einge­schlagen hatte. Das Talent der Coens schlägt sich nicht in Lachern nieder. Ihr Metier ist die Irritation. »Barton Fink« ist ein irritierender Film, ein Unikum, ein absonderliches, faszinierendes Stück Kino.

Seine Wirkung entfaltet sich unterschwellig. Subtile Abweichungen von der Norm verleihen Szenen und Einstellungen einen Ausdruck, von dem man nicht genau weiß, ob er komisch sein soll oder unheimlich. Der Page nennt seinen Namen eben nicht ein- sondern zweimal, schiebt sogar noch ein Kärtchen über die Theke (»CHET!«), auf dem das Ausrufungszeichen allein äußerst befremdlich ist. Der Fahrstuhlwärter wartet zwei beunruhigende Sekunden, bevor seine halbtote Stimme knarrt: »Next Stop. Six.« Und oben wieder: »This Stop. Six.«

Barton betritt das Zimmer, legt seinen Koffer auf das Bett. Für diese vermeintliche Lappalie reservieren die Coens eine eigene Einstellung, die nur den Koffer zeigt. Er sinkt tief in die Auflagen ein – entweder ist das Bett sehr, sehr weich oder der Koffer sehr, sehr schwer. Worauf es ankommt, ist, dass die Regie uns dieses Detail bewusst wahrnehmen lässt. Und es ist diese Sorgfalt im Detail, die den Charme eines Coen-Films ausmacht. Bei Joel und Ethan zählt jede Einstellung.

Durch den Filter einer Coen-Inszenierung erreicht uns das, was Barton Fink dämonisch und alptraumhaft vorkommen muss, als skurril und eigenwillig, sicher auch als ein wenig beklemmend, aber unbedingt als originell, weil wir es mit anderen Filmerfahrungen abgleichen. Wir spüren das Augenzwinkern, den spielerischen Wink der Macher in Richtung Publikum, nehmen den Film aber gleichzeitig als integre Story wahr, als durchaus grüblerische Auseinandersetzung mit gleich einer Reihe von Themen. Es geht um soziale Kluften, es geht um Geltungs­bedürfnis und fehlgeschlagene Kommunikation, es geht um das Geheimnis des kreativen Prozesses, um falschen Idealismus, um Entzauberung und Reinwerdung. Die dargestellten Absurditäten im Hollywoodbetrieb, zum Beispiel dessen herrliche Obsession mit ›Wrestling Pictures‹, sind satirisches Zubrot.

So existentialistisch manche dieser Themen auch anmuten: Sie zielen nach innen. »Barton Fink« ist kein Moralstück, kein Lehrwerk mit Zeigefinger; seine Substanz überlagert die Handlung nicht in Metaebenen und Symbolen, sondern ist tief darin verflochten, liegt in der Natur der Sache; der Zuschauer mag sie herausziselieren oder nicht. So kommt es, dass »Barton Fink« wie viele andere Coen-Filme eine angenehme Zurückgenommenheit ausstrahlt und weder schreit »Ich bin Film!« noch »Ich bin Kunst!«

Dass er dennoch beides ist, ist zweifellos ein Glücksfall fürs Kino. Der Nimbus des Films ist nicht der eines Meisterwerks, aber was sonst ist ein Film, in dem alles stimmt? Sämtliche Elemente greifen reibungslos ineinander: die superben Dialoge, die morbide Ästhetik der Bilder (Roger Deakins, wer sonst), die spukhaften Akzente des Sounddesigns (der Luftzug beim Schließen von Bartons Tür), die melancholischen Musikfetzen, das gemessene Timing der Montage, die authentische Ausstattung (der Film spielt fünfzig Jahre in der Vergangenheit), nicht zuletzt das göttliche Schauspiel von Goodman und Turturro.

Trotzdem ist der Film nicht jedermanns Sache. Joel sagte selbst: »People might be put off by it if they think they’re going to see a straight comedy.« Der Film startete in den USA auf nur elf Leinwänden, spielte seine Kosten niemals ein. Amerika war nicht reif für einen echten Coen. Anders sah es in Europa aus: Der Film holte 1991 postwendend die Goldene Palme. Ohne Gegenstimme. Ebenso die Preise für den besten Schauspieler und die beste Regie.

Jury-Vorsitzender war Roman Polanski, mit dessen klaustrophobischen Werken »The Tenant« und »Repulsion« der Film der Coens interessan­terweise das Person-in-einem-Raum-Thema gemein hat. In Interviews gaben sich die Coens gewohnt zurückhaltend und unpräzise. Ihr Film hätte keinen tieferen Sinn, die zweideutigen Dinge aufzuklären würde keine Punkte bringen, hehre Botschaften und gesellschaftliche Relevanz, das wären ihre Interessen nicht.

Welch köstliche Ironie, dass es genau diese Motive sind, die ihren Charakter Barton Fink antreiben. Er zieht aus, um kreativ für die Gemeinschaft tätig zu sein, begibt sich aus freien Stücken in die Hölle, erweist sich aber als vollkommen unfähig, sich in die Welt des kleinen Mannes einzufühlen. Der kleine Mann, er kommt in Gestalt eines ziemlich großen Mannes daher (John Goodman in einer maßgeschnei­derten Rolle), und der ist es auch, der Barton am Ende die Quittung für seine Heuchelei ausstellt.

Da wird der Film zum Malstrom ungeheuerlicher Ereignisse, der Zuschauer schwimmt wie in Trance mit. Wir erleben Barton Finks privaten kleinen Weltuntergang, und als das Inferno abebbt, bleibt er am Strand zurück, irgendwie geheilt und geläutert. Die Welt ist kaputt, der Mensch ist schwach, doch was weiß er schon; es ist einfach ein zu weites Feld. Aber ist es nicht schön, hier am Strand?

Coen Culture. In Preston Sturges‘ Film »Sullivan’s Travels« (1941) verfolgt Starregisseur Sullivan ähnlich idealistische Pläne wie Barton Fink: Einen erdverbundenen, sozialkritischen Film will er drehen, angesiedelt in den Niederungen des Fußvolks. Anders als Barton erkennt der prätentiöse Regisseur aber, dass er keinen Draht zu den Problemen des Mannes auf der Straße hat und besser doch die Auftragswerke seiner Bosse akzeptiert, die dem Volk offenbar so viel bedeuten. Der Titel seines ungedrehten Films: »O Brother, Where Art Thou?«
 

25 Jahre Coen-Kino (3):
Miller’s Crossing (1990)

Hamburg, 5. Februar 2010, 07:56 | von San Andreas

Miller's Crossing (Icon)

Die 30er Jahre, Prohibition. Zwei rivalisierende Gangs beherrschen die Unterwelt und den Alkoholhandel. Tom Reagan, engster Vertrauter von Gangsterboss Leo, will den Ball flach halten, gerät aber in ein Geflecht von Hinterhal­ten, wechselnden Allianzen und tödlichen Intrigen. Eine Frau bringt eine Unwucht in das Verhältnis zu Leo, und eine moralische Kluft tut sich auf, als er ihren Bruder töten soll. Hat Tom Reagan ein Herz?

Coen Country. Für die namenlose Stadt irgendwo im Osten der Staa­ten hat New Orleans als Drehort hergehalten. Aber untypischerweise spielt der Charakter der Umgebung kaum eine Rolle, im Gegensatz zu der Zeit, in der die Geschichte spielt.

Coen Klüngel. John Polito (Johnny Caspar), Steve Buscemi (Mink), John Turturro (Bernie), Sam Raimi (kichernder Scharfschütze), Michael Badalucco (Sal), Frances McDormand (Sekretärin des Bürgermeisters), Carter Burwell (Musik), Barry Sonnenfeld (Kamera)

Coen Quote. »Nobody knows anybody. Not that well.« (Tom Reagan, schön das Lug-und-Trug-Thema des Films zusammenfassend)

Coen Gold. Die »Danny Boy«-Tommy-Gun-Sequenz. Leo hört ent­spannt Grammophon (den irischen Schlager »Danny Boy«), als er vom Untergeschoss her Qualm riecht und die Gefahr wittert, die in Gestalt zweier Schießprügel gerade die Treppe erklimmt. Es bleibt Zeit, die Samtpuschen anzuziehen und die Zigarre zu löschen, da fliegt die Tür auf. Was folgt, ist eine Sinfonie für Revolver und Maschinenpistole: rau, laut und schön.

Classic Coen? In gewissen Kreisen gilt der Film als der beste Coen überhaupt, und man fragt sich, warum. »Miller’s Crossing« ist fraglos ein hervorragender Gangsterfilm, doch verrät er seine Macher nur hier und da. Der Film redet viel; man muss ihm zuhören, genau zuhören, um ihn zu verstehen. Er steht deshalb vielleicht dem Theater näher als dem übrigen Coen-Œuvre, das doch deutlich filmischer daherkommt.

Seine Ausstattung bezieht er aus dem Reservoir der Mafia-Epen der 80er Jahre (»Once upon a Time in America«, »The Untouchables«), seine Geschichte aus Dashiell Hammetts Werken (»Red Harvest«, »The Glass Key«), seine trockenhumorigen Dialoge aus den Noir-Krimis mit Cagney, Bogart und Kollegen. Er bildet so etwas wie eine Quintessenz des Gangsterfilms, hat Stil, Substanz und Klasse, wenn auch eine gewisse Kälte.

Unser Held (Gabriel Byrne) ist nicht der freundlichste, sympathischste Zeitgenosse, den man sich vorstellen kann, aber er hat es auch nicht leicht. In jeder zweiten Szene wird er geknufft, getreten, die Treppe hinuntergeworfen, vor allem aber ohne Unterlass und mit weit aus­holenden Hieben ins Gesicht geschlagen. Wunderbarerweise trägt er allenfalls einen Haarriss in der Unterlippe davon und verbringt den Rest des Films damit, in fein komponierten Einstellungen gut auszu­sehen und zu reden.

Gut aussehen, das tut der Film, keine Frage. Kameramann Barry Sonnenfeld arbeitet (anders als bei »Blood Simple.« und »Raising Arizona«) mit Tele-Optik und Tiefenschärfe, nutzt gedeckte Farben und stilvollen Halbschatten. Und so ist es auch eher der Look als der dicht gestrickte Plot des Films, der in Erinnerung bleibt, sowie die eigen­willigen Details, die sich die Coens auch im selbstverschriebenen Genre-Korsett nicht verkneifen konnten.

Da haben wir die leitmotivischen Fedora-Hüte der Prohibitions-Ära, wir haben leicht angeschrägte, karikaturhafte Charaktere (besonders den aufbrausenden Italo-Gangster Caspar), wir haben wiederkehrende Phrasen (»What’s the rumpus?«, »Drop dead.«), wir haben über­gewichtige Herrschaften, die brüllen wie von Sinnen, und wir haben lyrische Kamerafahrten (die Baumkronen im namensgebenden Wald Miller’s Crossing).

Der Film ist der erste der Coens, den man als Genre-Fingerübung einordnen könnte – auch im Vergleich zu allen weiteren bleibt er zweifellos ein Glanzstück. Er erfüllt eher die Noir-Gangster-Konven­tionen als dass er sie ins Coenversum entführt. Sein komplexer Plot macht ein zweites Ansehen praktisch obligatorisch, und selbst dann ist die Entschleierung der vielschichtigen Beziehungen nicht garantiert.

Glücklich ist der, der durch die Dialogschwaden hindurch zur Persön­lichkeit Tom Reagans vordringen kann; in seiner Beziehung zu Verna, aber vor allem zu seinem Mentor Leo (in letzter Sekunde besetzt, zum Glück: Albert Finney) liegt der Schlüssel zum eigentlich recht warmen Kern der Geschichte. Dass es einem der Film nicht leicht macht, ist sicher einer seiner Vorzüge, konstatieren kann man dennoch, dass »Miller’s Crossing« zwar den Anspruch und die cineastische Klasse, aber nicht unbedingt die Originalität und den Humor anderer Coens teilt.

Coen Culture. Trotzdem der Film relativ straight daherkommt, enthält er doch ein paar vergnügliche Insidergags. Leicht zu verpassen ist Hauptdarsteller Albert Finney im Damenbadezimmer, im Hintergrund als alte Matrone verkleidet. Und das Haus, in dem Reagan wohnt, heißt »The Barton Arms«, als Fingerzeig darauf, dass Joel und Ethan wäh­rend der harten Drehbuchsessions zu »Miller’s Crossing« eine Auszeit nahmen, um das Skript für ihren nächsten Film »Barton Fink« zu schreiben. Nur drei Wochen benötigten sie dazu – vielleicht ein Zeichen dafür, dass ihnen dieser Stoff viel eher lag.