Provinzen

Konstanz, 2. April 2010, 17:03 | von Marcuccio

Mit der Binse, dass es die ›Provinz‹, das super Thema von DUMMY Nr. 26, im Grunde gar nicht gibt, dass Provinz nur in den Köpfen usw., hält sich Oliver Gehrs zum Glück nicht lange auf. Bekommt man im Feuilleton ja jede Spielzeit serviert, wenn einer dieser Intendanten mal wieder wortreich erklärt, warum Oldenburg oder Saarbrücken jetzt doch besser ist als Hamburg oder Zürich.

Beste Story des ganzen DUMMY-Heftes ist die über eine frühere Politiker-Kneipe namens »Provinz« in Bonn: »In einem fernen Land« – allein die Bebilderung bezeugt Historisches: Schröders Hillu war die Rebecca Casati der 1980er Jahre!

Ein weiteres Highlight sind die Auszüge aus der 1916 veröffentlichten Grammatik zu einer Plansprache für die deutschen Afrika-Provinzen. Mit »Kolonial-Deutsch« wollte ein Münchner Beamter linguistisch »Fleisch von unserem Fleisch« schaffen.

Und natürlich dürfen auch die Zeitungsprovinzen nicht fehlen: Die Aufstellung der deutschen Regionalzeitungsmonopole (S. 71 sieht – trotz Art Directors aus Amsterdam – sehr nach Hamburg aus: um nicht zu sagen wie eine dieser von mir ja sehr gemochten Deutschland­karten des »Zeit«-Magazins).

Dann keine Provinz ohne Pendler! Auch wenn mein Held zu dem Thema wohl für immer Erwin Teufel im »Spiegel« bleibt: Gestalterisch 1:0 für DUMMY wegen der Idee, gerade bei dieser Geschichte (mit dem Titel: »Was auf der Strecke bleibt«) ganz viel Weißraum zu lassen.

Das Genom für Kraftfahrer druckt DUMMY auf der Doppelseite mit den Sprüchen zu den zwei- oder dreistelligen Autokennzeichen ab: SAD (Sau auf Durchreise) und dergl. Natürlich gibt’s das haufenweise im Netz (wahlweise auch von jedem tiefergelegten Beifahrer), doch das Arsenal der dumpfdoofen und doch faszinierenden Provinz-Stigmata einfach mal so zu zitieren, ist ein ganz gefälliger Coup. Und schließlich wären da noch:

Die beiden Oliver G.s aus Ostwestfalen

Was vielleicht nicht jeder weiß: Die DUMMY-Leute machen ja auch das ziemlich gelungene »Fluter«-Heft der Bundeszentrale für politische Bildung. Oliver Geyer schreibt in der aktuellen DUMMY über seine Heimatstadt Bielefeld (hier als PDF), und ich hätte schwören können, dass ich das schon mal genauso im »Fluter« gelesen hab. Es war aber Oliver Gehrs, der dort neurotisch-witzig über seine Heimatstadt Paderborn geschrieben hat. Bei der Ostwestfalen-Connection, die noch dazu redaktionelles Carsharing macht, kann man schon mal durcheinander kommen.

Und wo wir beim Thema Dummyfluter sind. Es gibt im »Fluter« diese Seite, wo über redaktionelle Ausschussware (verworfene Geschichten, alternative Themen etc.) Rechenschaft abgelegt wird. »Provinzen, die es nicht ins Heft geschafft haben« sind ja irgendwie auch die Bundes­länder bzw. ihre Ministerpräsidenten als moderne Provinzfürsten, von österreichischen Landeshauptmännern (»Pröllistan«!) ganz zu schweigen.

Da müssen wir wahrscheinlich auf eine Extra-DUMMY warten (vielleicht zum spannenden Thema »FÖDERALISMUS«, hehe). Bis dahin bleibt die aktuelle Ausgabe kein schlechter Aperitif oder auch Digestif für alle, die Ostern heimfahren – und Provinz ganz entspannt verdauen möchten.

Vossianische Antonomasie (Teil 10)

Leipzig, 2. April 2010, 09:37 | von Paco

 

  1. der Kippenberger des Techno
  2. der Harald Schmidt Portugals
  3. der niedersächsische Diderot
  4. der Che Guevara der Akademiker
  5. the Hans Landa of inter-sexual cognition *

* Coined by Wash Echte (via Christian M.).

 

Der größte Plebejer der zeitgenössischen Kunst

Hamburg, 30. März 2010, 20:44 | von Dique

»Grimmelshausen ist seit Ende des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr Mitglied des deutschen Schriftstellerverbandes.« So kom­mentierte Michael Naumann den angestrebten Generationswechsel, der bei der Eichborn’schen »Anderen Bibliothek« zu seiner Kündigung geführt hat.

In einem der Bände der (guten alten?) Enzensbergerzeit, in Philipp Bloms »Sammelwunder, Sammelwahn«, steht neben vielen anderen supersten Anekdoten zum Thema Sammelei auch eine über den General Franco, er soll den Arm der Heiligen Teresa von Ávila mit sich herumgetragen haben, aber nicht, um damit zu unterschreiben, sich damit zu kratzen oder sonst irgendetwas Nützliches zu tun, sondern wegen der mythischen Kraft dieser Reliquie.

Aus ähnlichen Gründen wollte Rudolf II. unbedingt einen bestimmten Narwalzahn (galt damals noch als Horn des Einhorns bzw. Ainkhürns) und die berühmte Achatschale besitzen, in der durch schattige Einschlüsse der Name Christi zu lesen gewesen sei.

In Bloms Buch gibt es auch ein paar spannende Überlegungen zur Demokratisierung des Sammelns. War das uferlose Zusammentragen wertvoller oder wundersamer Dinge ehedem Privileg, ist die heutige Sammelei in alle Schichten der Bevölkerung vorgedrungen (Bierdeckel, Milchflaschen, Überraschungseiinhalte).

Zum Glück bleibt wenigstens die Kunst schön undemokratisch, siehe Helmut Krausser: »Kunst ist ein aristokratisches Phänomen, kein demokratisches, und erst recht kein plebejisches.« Dieses Zitat ist in der eben erschienenen »Substanz« des 12-bändigen Krausser’schen Tagebuchprojekts zu lesen, immer noch einem der unfassbar hervor­ragendsten Literaturgroßprojekte aller Zeiten.

Vorhin war ich noch in der PopLife-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. Die einzige Entschädigung für die schiere Langeweile, die bunte Warholsiebdrucke nun einmal verbreiten, war das in Formalde­hyd eingelegte Goldene Kalb von Hirst, dem vielleicht größten Plebejer der zeitgenössischen Kunst.

Usw.

Die fünf besten Studenten der Weltliteratur

Hamburg, 30. März 2010, 03:54 | von Dique

 
1. Stanislaus Demba in Leo Perutz: »Zwischen neun und neun«

2. Charousek in Gustav Meyrink: »Der Golem«

3. Anselmus in E. T. A. Hoffmann: »Der goldne Topf«

4. Øien in Knut Hamsun: »Mysterien«

Ein fünfter fällt mir gerade nicht ein, hehe.
 

Lost: 6. Staffel, 9. Folge

Berlin, 28. März 2010, 18:11 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »Ab Aeterno«
Episode Number: 6.09 (#111)
First Aired: March 23, 2010 (Tuesday)
Deutscher Titel: »Seit Anbeginn der Zeit« (EA 12. 5. 2010)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Die lange erwartete Richard-Folge! Richard Alpert – Seine Vorge­schichte, sein Teufelspakt und seine Dämlichkeit (»I want to live forever!«). Insgesamt ziemlich viel Höllentalk, und die allegorischen Mächte Gut und Böse rüsten sich weiter zum Endkampf. (Einen L.A.-Plot gibt es diesmal nicht.)

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Kaffeehaus des Monats (Teil 51)

sine loco, 26. März 2010, 10:49 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Saint-Jean-de-Luz, McDonald's, Avenue de Layatz, verschwommen wie immer (keine Zeit)

Saint-Jean-de-Luz
McDonald’s in der Avenue de Layatz.

(Mehrwöchiger Aufenthalt in Saint-Jean-de-Luz, im Zeichen der
Ernst-von-Salomon-Forschung. Dort spielt ja eine EvS-Geschichte,
die in der Erstausgabe den her-vor-ra-gen-den Titel trug: »Boche
in Frankreich«
. Zur Erholung las ich dann alte Reclam-Hefte bei
tatsächlich McDonald’s, dem einzigen normalen Ort in der Stadt, hehe.
Und in diesem Zusammenhang noch schnell die Idee des Jahres, ich
zitiere: »Wenn ich einmal Geld brauche, verfasse ich das Drehbuch
zu einem Biopic über Ernst von Salomon.« – Michael Angele)
 

Die Juso-Vorsitzende und das Feuilleton

Konstanz, 23. März 2010, 07:57 | von Marcuccio

Es scheint noch mehr Stuckrad-Barre-Stammtische in deutschen Zügen zu geben, nicht nur den im ICE Interlaken–Berlin. Im »ICE 5111 nach München, über Leipzig und Nürnberg«, sitzt Stuckrad-Barre himself mit Franziska Drohsel, und weil es dabei zu einer schönen Zeitungsszene kommt, müssen wir aus der »Zugfahrt mit der Juso-Vorsitzenden« hier natürlich noch unbedingt zitieren:

»Sie zieht die ›FAZ‹ aus ihrem Rucksack und sagt, dass sie sich voll blöd vorkomme, aber sie abonniere die ›FAZ‹ nun mal, obwohl die ja nun nicht gerade links sei; das sei irgendwie durch das Jura-Studium gekommen, das ›FAZ‹-Lesen, zu juristischen Themen biete diese Zeitung einfach die ausführlichste Berichterstattung. Den Politikteil lese sie, so’n bisschen die Wirtschaft – und, wenn sie viel Zeit habe, auch das Feuilleton.«

(BvSB: »Auch Deutsche unter den Opfern«, S. 97)

Regionalzeitung (Teil 23)

Leipzig, 22. März 2010, 07:10 | von Paco

 
  111.   sind ein absolutes Muss für Kunstinteressierte

  112.   waren sie schon mittendrin im Geschehen

  113.   seine Errungenschaften wirken fort

  114.   das Publikum in Atem zu halten

  115.   mit gemischten Gefühlen entgegen
 

Zweite Leipziger Erklärung

Leipzig, 21. März 2010, 13:30 | von Paco

(Zum Werk von Alban Nikolai Herbst)

Sehr verehrte Damen und auch Herren,

wenn ein Autor unangekündigt und auf bewusst undurchsichtige Weise Authentizität und Fiktion, Realität und Phantastik miteinander vermengt, wenn dies vom Leser und von der Forschung einfach so hingenommen werden muss, demonstriert dies eine gefährliche Anomalie im etablierten Literaturbetrieb.

Die Rede ist von Alban Nikolai Herbst. Er hat sich auf der noch bis heute Abend andauernden Leipziger Buchmesse aufgehalten und berichtet in seinem Weblog »Die Dschungel. Anderswelt.« für den 19. März 2010 das Folgende:

»Ach so, ja […], nachmittag traf ich dann bei Beck >>>> Benjamin Stein, >>>> Umblätterers Paco kam dazu, plötzlich wurde das ein Treffen von Netzbürgern, in die die schöne Ophelia Abeler ihre neue >>>> Traffic hineinreichte; dann kam sogar der BILD-Blog hinzu, wir alle sahen uns zum ersten Mal in all den rund sieben Jahren, in denen wir immer nur kommunizierten, ohne uns persönlich zu sehen.«

Um der Forschung zum Autor zu- und um falschen Vermutungen entgegenzuarbeiten, bestätige ich hiermit:

Das von Alban Nikolai Herbst geschilderte Treffen hat im Hyper­raum der diesjährigen Leipziger Buchmesse, am Stand von C. H. Beck, tatsächlich stattgefunden.

Nur so, durch den Nachweis realer Realitäten, kann der Wert der ANH’schen Wortkunst richtig eingeschätzt und in den Kontext der künstlerischen Freiheiten aller Autorinnen und Autoren gestellt werden.

Leipzig, 21. März 2010
Umblätterers Paco
–Consortium Feuilletonorum Insaniaeque–

Stuckrad-Barre-Stammtisch im ICE

Berlin, 21. März 2010, 09:29 | von Marcuccio

Im ICE Interlaken–Berlin, irgendwo hinter Frankfurt. Mein Stuckrad-Barre liegt schon seit mindestens Mannheim auf dem Tisch, du packst deinen dazu. Hast du überhaupt nur hier Platz genommen, um jetzt auf mein Buch zu weisen und zu sagen: »Nee, oder?«

Ich begeistert. Du:

–Ja, eigentlich … war ich ja nicht mehr so auf der Stuckrad-Barre-Schiene.
–Aber der hier ist doch gut!
–Absolut! Und er sieht auch wieder aus wie dieses, das ich auch schon so mochte …
–»Deutsches Theater«.
–Genau. Spätestens nach dem Verriss in der »Stuttgarter Zeitung« wusste ich, dass ich den hier haben muss.

Nach der Fahrkartenkontrolle:

–Cem Özdemir schon durch?
–Den Kulturwahlkampf für die Grünen? Yeah! Stuckrad-Barre als Anzugträger vor einem Asia Imbiss in Kreuzberg: »Wäre ich ein Porsche, ich würde vermutlich schon brennen.«

Nach dem Toilettengang:

–Überhaupt das ganze Genre Politikerbeobachtung. Guido Westerwelle im Wahlkampf, die SPD am Wahlabend …
–Michael Naumann beim Versuch, Hamburger Bürgermeister zu werden … Stuckrad-Barre at his very best.

Übereinstimmendes Weiterlesen bis Berlin, ab und zu hörbare Zustimmung, ohne dass wir uns jetzt erzählen, an welcher Stelle und warum. Eine Idee für Platzkarten der Zukunft: Statt der Option Abteil oder Großraum, Fenster oder Gang gerne wieder die Frage: Mit welchem Buch sollen Ihre Sitznachbarn reisen?