S wie Salonkultur

Konstanz, 24. Januar 2011, 21:49 | von Marcuccio

Hilde Domin war mal so gefesselt von ihrer Tucholsky-Lektüre, dass sie sich unter der Trockenhaube fast den Kopf verbrannt hat. Das erzählt sie in dem Dokumentarfilm »Ich will dich« von Anna Ditges (2007), wo sie dann in einer wunderbaren Szene als nunmehr alte Dame in einem Salon sitzt, wieder unter der Trockenhaube, und das FAZ-Feuilleton studiert. Neben ihr ein Biene-Maja-Aufkleber auf dem Frisierwagen.

Davon unter anderem handelt also die nächste Folge des feuilletonis­tischen Abécédaires: »S wie Salonkultur«, drüben in der »Welt«.
 

Im Space-Shop am Bremer Flughafen

Hamburg, 21. Januar 2011, 08:28 | von Dique

Was bisher geschah: Ein Tag im August 2010, ich bin zusammen mit Richard Deiss auf einer seiner Buchladentouren. In der Buchhandlung Schaumburg in Stade sind wir schon gewesen, in der Buchhandlung Thye in Oldenburg ebenfalls.

Und eigentlich wollen wir nun ein sehr verspätetes Mittagessen einnehmen. Es ist inzwischen kurz nach vier, und Richard hat die Idee, doch noch schnell auf den Bremer Flughafen zu fahren, um den dortigen Space-Shop zu besuchen.

Zum Essen also wieder keine Gelegenheit, obwohl ich bereits sehr großen Hunger habe, weit über das Maß hinaus, das man noch mit einem kleinen Snack zumindest kurzfristig verringern könnte. Ich lasse mich trotzdem auf Bremen vertrösten, durch die unfassbare Rationalität der Feststellung, dass es dann sowieso auch genau die richtige Zeit zum Abendessen sei.

Eigentlich weiß Richard gar nicht, ob es sich bei diesem Space-Shop überhaupt um einen würdigen Buchladen handelt, er hat sich das aber irgendwie erschlossen, unter anderem auch durch die Lektüre der Flughafenwebsite:

»Der Space-Shop in der Bremenhalle bietet Artikel und Literatur über Luft- und Raumfahrt, sowie Flugzeugmodelle und Souvenirs an.«

Kein reiner Buchladen also. Vielleicht reicht es aber trotzdem, vielleicht gibt es ein paar qualitative verlegerische Höhepunkte da zu kaufen, damit der Laden in das berühmte, von Deiss bei BoD verlegte Werk »Kaufhaus der Worte – 222 Buchläden, die man kennen sollte« aufgenommen werden kann.

Der Besitzerin werden gute Beziehungen zur NASA nachgesagt. Eine Menge spaciger Utensilien und natürlich jede Menge Bücher zum Thema gehören zum Erwartbaren, alles eben sehr spezialisiert, und Spezialbuchhandlungen findet Richard Deiss extremst interessant. In der »Welt« hieß es einmal über den Bremer Space-Shop und seine Inhaberin Birgit Fitch:

»Birgit Fitch verkauft Raumfahrtbegeisterten Souvenirs aus dem Weltall. Meteoritenstücke, Astronautenessen und Münzen aus geflogenem Space-Shuttle-Material gibt es in ihrem Space Shop am Bremer Flughafen. Ihre Verkaufsschlager bezieht sie direkt von der Nasa sowie von einem Lieferanten der US-Weltraumbehörde.«

Pünktlich erreichen wir den Bremer Hauptbahnhof, es ist kurz nach fünf. Wir nehmen ein Taxi und rauschen zum Flughafen, viel Zeit bleibt nicht bis Ladenschluss. Den Space-Shop kennt der freundliche Taxifahrer nicht, setzt uns aber direkt »bei den Geschäften« ab, da wird der Shop schon sein.

Eine junge Frau von der Wechselstube weist uns den Weg in den ersten Stock, in dem sich dann der Space-Shop tatsächlich befindet. Es ist ein ultrakleiner Laden, eine kleine Box aus Glas, gefüllt mit Klimbim rund um die Raumfahrt, Meteoritengestein, irgendwelchen Gegenständen und Medaillen aus Space-Shuttle-Resten.

Alles spärlich eingerichtet und befüllt. Mein Interesse an Raumfahrt ist zwar sowieso sehr gering, aber ich bin mir sicher, dass es zum Thema die schönste Literatur und die prächtigsten Bildbände geben muss. Und Bücher gibt es hier auch, etwa zwei Hände voll, und sie sehen aber so aus wie diese in bunten Kunststoff geschlagenen Bildbände, die man für 5 Euro im Eingangsbereich bei Hugendubel mitnehmen kann, im Stil der »WAS IST WAS«-Reihe, nur unspannender und irgendwie angestaubt. Lieblos liegen sie irgendwo im Seitenfenster herum.

Auch die übrigen Artikel wirken ungeheuer belanglos, aber das ist gar nicht das Schlimmste. Ich habe inzwischen einfach auf eine sehr ursprüngliche Art Hunger. Ich erinnere mich an MIR-Astronautennahrung, die es hier natürlich tatsächlich geben könnte, und träume von einer Scheibe Atombrot mit Anchovispaste. Unterdessen muss Richard Deiss irgendetwas kaufen, irgendetwas aus Weltraumschrott Hergestelltes, eine Vollzugshandlung, denn er ist ja nun mal extra hergekommen.

Mit der Straßenbahn zurück in die Stadt, der Space-Shop ist schnell vergessen, denn endlich gibt es etwas zu essen, direkt an der Schlachte. Der Wind kräuselt die Weser, der Oberkellner serviert eine Suppe.

Richard muss weiter, und als er sich verabschiedet hat, blättere ich unkonzentriert und ziellos ein paar Zeitungen durch und steige dann in den Zug nach Hamburg.

Ein paar Tage später schreibt mir Richard, dass er an diesem Wochenende insgesamt ein Dutzend Buchläden besucht hat, ein Dutzend, und ich bekomme plötzlich Hunger, riesengroßen Hunger, als ich das lese.
 

Z wie Zeitungsname

Konstanz, 20. Januar 2011, 11:03 | von Marcuccio

Zeitungsspitznamen (»Prantl-Prawda«) wären natürlich auch mal ein Thema gewesen, aber in Ballung wird das schnell zur Freakshow, siehe die Raterunde zur »Rentner-Bravo« damals bei SPON.

»Z wie Zeitungsname«, schon vor zwei Wochen drüben bei der »Welt« erschienen, handelt von den Tücken, Zeitungen beim ganz normalen Namen zu nennen oder eben abzukürzen. So wie das »Pastewka« versucht hat, gleich zu Beginn der Folge »Die Saunabürste« (2007):

(Im Zeitungsladen.)
Pastewka: Guten Morgen, ich hätt gern einen Stadtanzeiger, eine WAMS und eine FAS, bitte.
Verkäufer: D-die was?
Pastewka: Die FAS. Die ›Frankfurter Allgemeine Sonntags­zeitung‹. Und WAMS ist ›Welt am Sonntag‹, WAMMMS! Ist die Abkürzung.
Verkäufer: Ah. Wusst ich nicht. Kann man eijentlich auch gleich ›Welt am Sonntag‹ sagen. Mit der Erklärung, das dauert doch viel länger.
Pastewka: Jaaa, das hat aber jetzt nur so lange gedauert, weil Sie … (usw.)

 

Kaffeehaus des Monats (Teil 59)

sine loco, 17. Januar 2011, 13:09 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Das Phono in Bad Nauheim, ultrafurchtbares Foto, wie in dieser Reihe üblich :-)

Bad Nauheim
Die Café-Bar Phono in der Kurstraße 11.

(Backsteinambiente, die FAZ und zum Frühstück Rührei mit Sucuk, was will man mehr. Und anders als bei Qype alle fälschlicherweise behaupten: Der Kaffee hier ist sehr gut und unter keinem denkbaren Aspekt über­teuert. Wenn die FAZ gerade nicht frei ist, kann und sollte man als einzige Alternative die »Wetterauer Zeitung« durchblättern – die nächsten Folgen der Serie »Regionalzeitung« sind gesichert.)
 

Regionalzeitung (Teil 41)

Leipzig, 14. Januar 2011, 11:44 | von Paco

 
  201.   sintflutartige Regenfälle

  202.   warnen die Experten vor Hysterie

  203.   zeigt ihre hässliche Fratze

  204.   heute, im Zeitalter der

  205.   auf allen Kanälen
 

Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2010

Leipzig, 11. Januar 2011, 04:25 | von Paco

Und jährlich grüßt das Maulwurfstier. Heute zum *sechsten* Mal seit 2005, hier ist der Goldene Maulwurf 2010:

Der Goldene Maulwurf

Diesmal gab es noch bis kurz vor Schluss unüberbrückbare Differenzen. Unsere Top Ten ist ja nicht gerankt, sagen wir immer, trotzdem wird bis zum Schluss um die Platzierungen gefightet. Und hier war jetzt die Frage: Christopher Schmidt oder Mathieu von Rohr. Zwei vollkommen verschiedene Texte, und ein Kompromiss schien irgendwann nicht mehr möglich, zu sehr waren wir mit unseren jeweiligen Argumenten verschmolzen.

Es gab nur einen Ausweg: Die Entscheidung, die dann auch von allen akzeptiert wurde, fiel beim Tischfußball (ein Wegweiser auch für künftige Entscheidungen anderer Jurys!), selbstverständlich unter Ausschluss von Mittelreihenschüssen. Und das Christopher-Schmidt-Team siegte mit 10:7 gegen eine kämpferische Mathieu-von-Rohr-Seleção.

Schmidt hat den Goldpokal auch völlig zu Recht verdient, die Kaffee­hausfähigkeit seines von uns hier gefeierten Artikels ist wirklich be­achtlich. Noch Monate nach der Veröffentlichung haben wir Freunde, Bekannte und Fremde in shock and awe davon reden hören.

Und hier sind sie alle, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2010:

1. Christopher Schmidt (SZ)
2. Mathieu von Rohr (Spiegel)
3. Stefan Niggemeier (FAS)
4. Simone Meier (Tages-Anzeiger)
5. Jakob Augstein (WAMS)
6. Iris Radisch (Zeit)
7. Nils Minkmar (FAZ)
8. Michael Angele (Freitag)
9. Renate Meinhof (SZ)
10. Philipp Oehmke (Spiegel)

Auch der 2010er war wieder ein superster Jahrgang des deutschen Feuilletons. In den 10 Mini-Laudationes stehen nur einige Gründe dafür. Diese lassen sich wie die Jahrgänge 2005, 2006, 2007, 2008 und 2009 auch später noch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken.

Hä? Kein bester Text zur Sarrazin-Debatte? Den hätte es natürlich schon gegeben (evtl. Edo Reents‘ Buchmessenverfolgung?). Und kein Peter-Richter-Text diesmal? Auch das wäre möglich gewesen, big time sogar, wie immer (z. B. »Die Schlacht der großen Vier«, FAZ vom 22. 6. 2010, da hat ein Event genau den einen Autor gefunden, der es adäquat abbilden kann).

Auch nicht dabei ist ein absolutes Highlight aus der Abteilung ›Kunst­markt‹, David Granns wahnhafte Reportage über den Fingerprint-Kunstauthentikator Peter Paul Biro im »New Yorker«. Aber diese Story ist über 120.000 Zeichen lang und steht damit außer Konkurrenz, ist eher Sachbuch als Feuilletonartikel. Und auch die Berichterstattung der deutschen Zeitungen über den Fälscherskandal um die so genann­te »Sammlung Jägers« war ja nicht schlecht und las sich insgesamt wie eine hochspannende, abenteuerlich-moralische Fortsetzungsge­schichte, siehe die Nr. 9 unserer Hitliste.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 

Feuilletonismus 2010

Leipzig, 10. Januar 2011, 00:15 | von Paco

The Golden MoleIn wenigen Stunden, am Dienstagmorgen, 11. Januar 2011, kürt Der Umblätterer zum sechsten Mal seit 2005 die zehn besten Texte aus den Feuilletons des vergan­genen Jahres (a.k.a. Der Goldene Maulwurf 2010).

Die (interne) Longlist war diesmal 49 Artikel lang. Das entspricht also pro Woche knapp einem Artikel, der unseren sicher fragwürdigen Kriterien irgendwie entsprochen hat, hehe. Danke, German Feuilleton!

Öfters hört man ja mal jemanden sagen: »DIE ZEIT ist wieder besser geworden.« Oder: »Die SZ ist wieder besser geworden.« Usw. usw. Solche Aussagen sind natürlich einer selektiven Wahrnehmung ge­schuldet (Probeabo?), denn die erwähnten Zeitungen waren ja nie schlecht, und noch immer gilt, was wir hier letztes Jahr behauptet haben (und was schönerweise auch das Grimme-Institut in die Begründung für unsere Nominierung übernommen hat): Wir haben es immer noch und immer wieder mit dem besten Feuilleton aller Zeiten zu tun.

Unser Kriterium ist ja, siehe hier, die Kaffeehausfähigkeit eines Zeitungsartikels. Es geht aber immer auch um den Zusammenhang Zeitung, um die etwaige Schönheit einer einzelnen formvollendeten Feuilletonseite. Es war ein großer Moment des Feuilletonjahres 2010, als Rainald Goetz am 8. April bei Harald Schmidt saß und eine Seite des FAZ-Feuilletons hochhielt, links ein Hettche-Artikel, rechts ein Bild, und dazu die Worte sprach: »Ich finde, das schaut einfach super aus irgendwie.« (YouTube, bei Min. 1:25)

Es gab im letzten Jahr überraschende Coups wie den Plagiatstext von, ähm, Durs Grünbein in der FAZ (nur echt mit den doppelten Anfüh­rungszeichen) und den Recap des Bachmann-Wettlesens von Airen in der FAS. Überhaupt gab es viel Meta-Polterei zum Literatur- und Rezensionsbetrieb (z. B. Jörg Sundermeier in der »Jungle World«, Sibylle Lewitscharoff in der »Welt«, Arno Widmann in der FR, Martin Hielscher und Helmut Böttiger in der SZ). Und es gab ein sagenhaftes Nicht-Interview, das Johanna Adorján mit Reich-Ranicki geführt und das offenbar immer noch so viele Fans hat, dass einige von ihnen uns Mails schickten und verlangten vorschlugen, es in die Top Ten aufzunehmen.

Das war jetzt ein kurzer Rückblick nur auf die Literaturberichterstat­tung des letzten Jahres. Das Feuilleton, dieser »nicht enden wollende Gegenwartsroman mit all seinen literarischen Glanzpunkten und inhalt­lichen Schrecklichkeiten«, war natürlich viel reicher. In ein paar Stunden dann, wie gesagt, mehr.

Hier noch schnell unsere Backlist, die Preisträger der vergangenen Feuilletonjahre:

2005
*   2006   *
*       2007       *
*   2008   *
2009

Bis Dienstag im Morgengrauen,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 

Das Consortium hat …

St. Moritz, 5. Januar 2011, 14:02 | von Paco

wieder da getagt, wo es schön ist. Noch die letzten Feuilletons des Jahres gelesen, dann hinaus auf den Hang.

Drei Bilder

Bei so viel Schönwetter stumpft ja eine Handykamera der ersten Ge­neration noch erkennbarer vor sich hin, der Meteoriteneinschlag auf Angie Merkels Loipe (Bild rechts) ist daher nur unzureichend zu erken­nen. Wobei ultraschlechte Handyfotos hier ja so was wie eine Tradition haben, siehe die Kaffeehäuser des Monats, hehe.

Die Ergebnisse unserer Après-Ski-Tagungen folgen dann hier wie geplant nächsten Dienstag, am 11. Januar: Der Goldene Maulwurf – Best of Feuilleton 2010.

Feuilletonistische Grüße,

i.A. Paco
–Consortium Feuilletonorum Insaniaeque–
 

Neue Erkenntnisse

Stanford, 3. Januar 2011, 11:30 | von Srifo

Endlich besteht die Möglichkeit, unsere Reduplikationssektion »Buchbuch« hintenrum etwas aufzubohren. Wenn es nämlich eine Sache gibt, die man von Jacques Derrida mitunter hätte lernen können, dann wohl die, dass übers Schreiben zu schreiben intellektuell ausgereizt und institutionell verkrustet ist.

Leider haben aber nur wenige die Fährten gewittert, die der Repräsentationsphilosoph sorgfältig dorthin gelegt hatte. Zum Beispiel ließ er sich für den Film »Ghost Dance« (in dem zwei wundersame Fräulein auf postmodernste Weise die Welt erkundschaften) klammheimlich nur vor einer verspiegelten Sitzecke im regnerischen New-Wave-Paris von 1983 aufnehmen. (Vielleicht liegt das aber auch daran, dass sich Derrida damals außer im Spiegelcafé höchstens noch in seinem gräulichen Büro im Pavillon Pasteur der ENS sehen lassen konnte. Das ist der zweite Schauplatz des Films, mit Pfeife und Telefonunterbrechung – »voilà, le téléphone, c’est le fantôme«. Bei YouTube in der schönen alten ZDF-Version.)

Wer da nur den ins Geistermedium Film gewölkten philosoph-spielenden Philosophen sah, lag prompt daneben. Hätte man im Café auf den Spiegel im Hintergrund geachtet – Rodolphe Gasché brauchte hier in den Staaten immerhin 3 weitere Jahre um vom »Tain of the Mirror« zu berichten – wäre fix klar gewesen, dass dieser nicht philosophiert. Glas mit aufgedampftem Silber denkt nicht.

Umso treffender ist es daher, dass Jürg Altwegg heuer mit kalter Schulter Benoît Peeters neue Derrida-Biografie rezensiert. Treffender, weil Altwegg sich im Gegensatz zu Peeters nicht darum bemüht, mit bewegenden Endnotizen das Buch oder die Materie zu umspielen, sondern schlicht schließt:

»… Nochmals gewinnt Peeters neue Erkenntnisse. Derridas Essgewohnheiten seien keineswegs so konservativ gewesen, wie er, Peeters, sich das gedacht hatte: ›Er war ein Feinschmecker und offen für kulinarische Abenteuer.‹ Derrida habe der Köchin seine Bücher geschenkt, ›die sie nicht immer zu verstehen vermochte‹. An der Biographie ihres Stammgasts wird sie sich freuen und ergötzen wie viele Leser, die – wie selbst sein wohlwollender Biograph – mit Derridas Werken ihre liebe Mühe haben.«

So ein einsichtenerstickender Ton findet sich ansonsten nur, wenn der »Hausmeister des deutschen Geistes« Rüdiger Safranski – »immer ein Lob wert« – rezensiert wird. Dem ist Unordentlichkeit das Schlimmste und sie muss ihm daher selbst umgemünzt in »gutes Barmixer­tum« (das Dieter Thomä 1994 ganz offiziell anerkannt hat) noch alle philosophische Aufgeräumtheit mit »überzuckerter Spätlese« à la heideggerienne verderben. Womit wir wieder am Ecktischchen im Paris der 80er wären.

Altwegg hat also in den Spiegel geschaut und bemerkt, dass Peeters wohl über Derridas Fährten drübergetrampelt ist, denn: Zusätzlich zu den 740 Seiten »Derrida« sind noch 247 Seiten unter dem Titel »Trois ans avec Derrida. Les carnets d’un biographe« erschienen, womit wir auch das Buchbuch hätten. Insgeheim ist Peeters also wohl Erz­derridist, der durchführt, was er verstanden hat: Über das eigene Beschreiben des Schreibesschreibers ein Schreiben zu schreiben.

Für den einen wie für den anderen metaphysischen Lichtanknipser liest sich da ebenso schön, womit Thomä schließlich seinen Besuch bei Hausmeister Safranski beendete, davongekommen mit einem blauen Auge der 80er:

»Der existentialitische Stiefbruder Heideggers, Jean-Paul Sartre, hat sich einmal schaudernd gefragt, ob ›die Menschen überhaupt nie ein anderes Leben haben als das, welches sie verdienen‹. Für Heideggers Leben gilt dies sicherlich; den Biographen aber, den er verdiente, hat er noch nicht gefunden.«

 

Auf dem Oktoberfest der Klassik

Leipzig, 2. Januar 2011, 13:45 | von Austin

Öfters schon ging es hier um das Gewandhausorchester, heute wieder, Anlass: das »GROSSE CONCERT zum Jahreswechsel« mit der deutschlandweit für diesen Termin üblichen 9. Sinfonie Beethovens. Eigentlich war mir dieses Ritual immer suspekt, ich hab mich da nie hingetraut, in diesem Jahr aber doch: mal sehen, wie das ist.

Im Foyer treffe ich auf eine ungewohnte Mischung aus hochgestimmten und (mitunter sehr) weit angereisten Gästen, kontrastiert mit rouinierten Leipzigern, die offensichtlich seit Jahrzehnten dieses Konzert besuchen und das Privileg der örtlichen Nähe auch ausstrahlen.

Und das setzt sich fort, je weiter ich ins Gewandhaus gelange. Die entscheidenden Besuchergruppen, grob nach Typ und Vorkommen geordnet: der erfahrene Klassik-Event-Besucher (»Also neulich in München, der Jonas Kaufmann …«), der freudige Genießer (blickt mit einem Glas Sekt auf die Skyline der Stadt und hat tatsächlich Gesprächsstoff mit seiner Ehefrau), der Klassik-Nerd (hat keine Ehefrau, aber eine Mutter oder ein Accessoire in Form eines Notenschlüssels), der unerfahrene Klassik-Event-Besucher (tendenziell überfordert von allem) und der Gewandhaus-Rentner (heute is ohne Pause). Wirklich entspannt ist nur der freudige Genießer.

Überraschenderweise liegt der Ereignischarakter fast wie eine Zwangsjacke über dem Haus, eine Atmosphäre, die auch mit Beginn des Konzertes nicht nachlässt. Pierre Bourdieu hätte seine helle Freude gehabt. Und grade als ich noch in den ersten Takten des 1. Satzes plötzlich denke, ob vielleicht die Frau in der Reihe vor mir Gefahr läuft zu kollabieren, verlässt auf der gegenüberliegenden Seite der erste Besucher den Saal. Später noch einer. Und dann noch einer. Offenbar hat sich ein Senioren-Flashmob dazu verabredet, Lubitschs legendären »Sein oder Nichtsein«-Film ins Konzert zu transponieren.

Flächendeckendes Husten im Saal nach dem 1. und 2. Satz – wieder eine Etappe geschafft. Die übliche Geräuschdramaturgie in den Satzpausen, Handtasche aufziehen, Bonbon raus, Bonbon auswickeln, Handtasche zuziehen, Handtasche fällt runter, vielfach verstärkt. Jetzt geht auch die Frau in der Reihe vor mir.

Faszinierend der Weg von Chailly und dem Orchester, eine mehr als allbekannte Partitur zu erarbeiten als sei sie eine Ausgrabung. Ein fabelhaftes Solo-Horn, eine großartige Solo-Querflöte, die Pauke als Herzzentrum, die wiederum sensationell präzise Spielkultur – und doch wirkt das seltsam unbemerkt, wie verdunkelt vom gigantischen Chor-Satz, auf den alles wartet.

Die Anspannung, sie steigert sich, bis endlich im 4. Satz das »Freude!«-Motiv erstmals durchs Orchester zieht. Da!, da war es doch – und dann, dann gibt es kein Halten mehr. Mit Händen zu greifende Erleichterung, wenn der Chor einsetzt.

Es gibt ja im Genre ›Alterswerk bedeutender Künstler‹ die vielfältigsten Ergebnisse, von seltsam versponnen (Goethe, Faust II) über seltsam fragwürdig (Kubrick, Eyes Wide Shut) bis genial erschütternd (Strauss, Vier letzte Lieder). Und dieser Chor-Satz, er pendelt zwischen all dem.

Zeilen wie »Wollust ward dem Wurm gegeben, / Und der Cherub steht vor Gott« als Grundlage eines sinfonischen Chores zu nehmen, ist ein wirklich schillernder Einfall des späten Beethoven mit einem erheblich erhöhten Zausel-Faktor, der letztlich Ratlosigkeit hinterlässt – die nur aufgefangen wird durch die krud-geniale musikalische Verarbeitung und die überraschende, verstörende, tendenziell immer wieder das Martialische streifende Interpretation im Konzert.

Mit dem letzten Ton Standing Ovations derer, die noch da waren.