Tag in Tula

Moskau, 21. März 2018, 22:54 | von Paco

Samstagmorgen, der Tag vor der Präsidentschaftswahl, und wir fuhren mit der Lastotschka nach Tula. Das dauert von Moskau aus nur zwei Stunden und schon ist man im gefährlichen Tula, denn es ist Eiszapfensaison und, anders als in Moskau, waren noch nicht alle Eiszapfen kontrolliert abgeschmolzen oder abgedroschen worden. An die Häuser waren A4-Zettel mit Warnungen geklebt: Achtung vor dem Eiszapfen! Zehn-Kilo-Eispickel hingen tropfend von maroden Dachrinnen und es war nur eine Frage der Zeit, bis.

Im Beloussow-Park fuhren wir eine Weile Ski, vielleicht die letzte ordentliche Skifahrt diesen Winter, und in der parkeigenen Brasserie »Pjotr Petrowitsch«, benannt nach dem Parkgründer, gab es dann lauter gute Sachen zur Erfrischung.

Um etwas Zeit zu überbrücken, gingen wir ins »Eremitage« geheißene Theater. Dort gab es einen Tschechow-Abend, und gerade, als wir verspätet hineinschneiten, begann die Aufführung der Zwei-Seiten-Erzählung »Datschniki«, die von ungebetenen Gästen handelt, und die von der Truppe irgendwie auf 20 Minuten gestreckt wurde.

Es war aber noch mehr los im Haus. In der Etage drüber gab es ein Jazzkonzert, und die Band stand vor einer frühneuzeitlichen Weltkarte, und zwar der doppelhemisphärischen von Claes Janszoon Visscher, Mitte 17. Jahrhundert, die durch den Jazz hindurch zu mir herüberschimmerte. Nach dem Konzert trat ich näher heran, die Weltkarte stellte sich als riesiges Puzzlespiel heraus, das irgendjemand erfolgreich zusammengesteckt und dann aufgeklebt, eingerahmt und mit Glasscheibe versehen hatte.

Dann wurde es Zeit, schließlich war Salsa Night in der »Stetschkin«-Bar, die benannt ist nach dem berühmten, in Tula ansässig gewesenen Waffenkonstrukteur Igor Jakowlewitsch Stetschkin. Wir trafen einige Leute, die uns unter anderem kopfschüttelnd erzählen hörten, dass wir »in diesem bescheuerten Theater« gewesen seien, aber uns hatte es dort ja gefallen.

Die Salsa Night selber kann man jetzt schlecht beschreiben, jedenfalls waren wir wie geplant um 3 Uhr morgens wieder am Bahnhof und nahmen den Zug zurück nach Moskau, und unterwegs las ich hot-off-the-presses die krasse Berghain-Story im aktuellen »Spiegel«: »Tod in Berlin«, unheimlich aufgeschrieben von Alexander Osang, bleibt erst mal im Hirn wie ein Fincher-Film.

In Moskau angekommen war alles beim Alten und wir schliefen in den späten Nachmittag hinein, um uns von dem Ausflug nach Tula zu erholen.
 

Mitterrand

Moskau, 25. Februar 2018, 12:58 | von Paco

Ich war gestern Abend im Café Puschkin am Twerskoj Boulevard, eingeladen von einem französischen Freund. Ich wusste nicht so richtig, was mich erwartet, und dachte eigentlich, das wär so ein one-on-one und wir updaten uns einfach ein bisschen gegenseitig, weil lange nicht gesehen.

Als ich aber ankam, waren um den Tisch in der Bibliothek insgesamt drei Franzosen und zwei frankophile Russen versammelt, und es wurde also ein schöner französischer Abend, wozu das Café Puschkin ja ursprünglich auch mal gegründet worden war.

Mitten aus einer Diskussion heraus fragte plötzlich jemand, wer eigentlich unsere Lieblingsgestalt in der Geschichte sei, also ein bisschen wie im Questionnaire de Proust, und jedenfalls diskutierten wir dann lange über Robespierre, Napoléon, sogar über Lamartine, davon ausgehend auch über alternative Geschichtsverläufe, und es war eine relativ sinnlose High-Level-Diskussion, aber wir tranken und aßen ja nebenbei auch gute Sachen, und es war ein schönes gesellschaftliches Spiel irgendwie.

Plötzlich ergriff Igor, der die ganze Zeit nichts zu dieser Diskussion beigetragen hatte, das Wort und sagte in die Runde hinein: »Also ich fand Mitterrand ganz gut.«

Und das war so ein unfassbarer Bruch des Kontexts, ein sofort von allen empfundener regelwidriger Sprung durchs Geschichtsbuch, dass das Gespräch indigniert verstummte und eine Minute pausierte, und dann fingen wir langsam an, über etwas anderes zu reden, und kamen nie wieder auf das Thema zurück.
 

Leo

Frankfurt/M., 13. Februar 2018, 19:05 | von Charlemagne

Neulich saß ich bei Jens Becker in der gleichnamigen Apfelweinhandlung zum samstäglichen Frühschoppen. In Frankfurt kann man an vielen Orten Apfelwein trinken, doch nirgends sitzt man so schön und schmeckt es so gut wie bei JB.

Apfelwein trinkt man, so lernt man das als zugezogener Wahlfrankfurter recht schnell, am besten aus einem 0,3 gerippten Schoppenglas, es liegt gut in der Hand und bricht die bei Sonnenschein darauf einfallenden Sonnenstrahlen auf ideale, das heißt jedes Gespräch beim Apfelwein völlig überflüssig machende, Art und Weise etc. Es gibt Schriftsteller, die beschreiben das alles noch viel besser, aber die sind dann auch nicht zugezogen.

Nachdem es samstags in der Apfelweinhandlung nicht nur Apfelwein, den es hier ohnehin täglich und in beeindruckender Vielfalt, sondern auch »Weck und Worscht« gibt, hatte ich, neben meinem Apfelwein, auch eine Rindswurst von Gref-Völsings und ein Wasserweck vom Bäcker HansS auf dem Pappestreifen, der als ideale Erfindung für den Wurstverzehr außer Haus anerkannt werden muss, vor mir.

Ab und zu verknoten sich meine Gedanken etwas beim Apfelwein und gerade wieder. Wurstverzehr, meine Güte. Es musste am leeren Glas liegen, so ließ sich die restliche Wurst nicht verzehren. Das war ja fast schon wie in »Jetzt«, Bohrer-Bernhard-Rindswurst usw. usf.

Da Jens Becker der großzügigste Gastgeber ist, den ich kenne, steht samstags in der Apfelweinhandlung immer ein offener Bembel zum Nachschenken. Der Bembel, das hatte ich bisher noch gar nicht erwähnt, ist der ideale Aufbewahrungsort für den Apfelwein auf seiner Strecke vom Fass ins Gerippte. Aufgrund der bereits erwähnten Großzügigkeit und der Tatsache, dass beim Apfelwein häufig nachgeschenkt wird, hat der Bembel immer eine anständige Größe. Es empfiehlt sich also durchaus, zum Einschenken kurz aufzustehen und dabei vorsichtig nachzuschauen, ob der Apfelweinpoet, wie ich Andreas Maier seit Jahren aufgrund seiner Texte zum Thema anerkennend und ehrfurchtsvoll nenne, zufällig im Laden ist, häufig ist er’s nämlich tatsächlich.

Natürlich kam er auch an diesem Samstag genau in diesem Moment zur Tür herein, ich hatte ihn soeben wieder heraufbeschworen. Seit Jahren gibt es in Frankfurter Apfelweinwirtschaften und an Apfelweinständen auf Frankfurter Wochenmärkten diesen einen magischen Moment, an dem sofort klar ist, dass die einzige logische Möglichkeit des weiteren Verlaufs das plötzliche Erscheinen von Andreas Maier ist.

Da stand ich also, mit dem Bembel in der Hand und dem Rücken zum Apfelweinpoeten, und überlegte kurz, wie ich diese Situation jetzt bloß bestmöglich auflösen sollte. Ich beschloss also, zunächst einzuschenken, den Bembel daraufhin abzustellen und mich schließlich vorsichtig wieder hinzusetzen. Doch irgendwie hatte er es geschafft, in genau diesem Moment hinter mir zu stehen und, um mich nicht zu erschrecken, mit der kurzen Ansage »Leo« auf seine aktuelle Position im Raum aufmerksam zu machen.

»Leo«. Ich war zunächst gar nicht sicher, ob es am Apfelwein lag oder ob er das tatsächlich gesagt hatte. Seit Ewigkeiten hatte ich den Begriff nicht mehr gehört, zuletzt hatte das Philipp Lahm im EM-Halbfinale 2008 gerufen und schon das war anachronistisch gewesen. Musste erst mal den Bembel abstellen und mich langsam wieder hinsetzen. Geistesabwesend-glücklich dachte ich an unzählige lang zurückliegende Nachmittage auf dem Bolzplatz und aß den Rest meiner Rindswurst.
 

Einzelheiten

München, 13. Februar 2018, 15:33 | von Josik

Ok, also ich lese ja gerade diesen wunderbaren orangefarbenen Suhrkamp-Band aus dem Jahr 1980, »Leo Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel«, und Helmut Dubiel stellt da die ganze Zeit interessante Fragen, und Leo Löwenthal gibt sehr interessante Antworten, aber dann, auf Seite 66, gibt es eine Stelle, von der ich und alle anderen sagen, dass wir da vor lauter Euphorie und Begeisterung geradezu Purzelbäume schlagen, denn der Interviewte, also Leo Löwenthal, erzählt zuerst noch ganz gemächlich

»von Horkheimers Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphiloso­phie, die als Buch 1930 erschienen. Da habe ich auf seinen Wunsch eifrig mitgeholfen. Überhaupt ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Geschichte mit dem Institut meine editorischen Aktivitäten. Ein großer Teil der Arbeit im Institut war 1929 – wie soll man sagen – strategischer Planung gewidmet. Wir waren erfolgreich, Horkheimer wurde Professor und Direktor des Instituts. Soll ich Einzelheiten erzählen?«,

und hierauf antwortet der Interviewer, also Helmut Dubiel, unfassbarerweise:

»Nein.«

 

Listen-Archäologie (Teil 14):
Market Wizards

Hamburg, 11. Februar 2018, 23:17 | von Dique

Jack D. Schwager hatte irgendwann die hervorragende Idee, die besten Trader der USA zu interviewen. Erschienen sind die Gespräche dann in dem Band »Market Wizards«. Er enthält 17 Interviews mit heute weitbekannten Tradinghelden wie Paul Tudor Jones, Bruce Kovner und Michael Steinhardt. Es gibt jeweils einen kurzen Pro- und Epilog.

Der Tradingstil der Interviewten, grob zusammengefasst, besteht aus Disziplin und striktem Risikomanagement. Schwager fragt die Market Wizards auch gern mal nach prägenden Lektüren, und es zeigen sich Muster: Neben den Büchern von und über Jesse Livermore (»How to Trade in Stocks« von ihm selbst und »Reminiscences of a Stock Operator« von Edwin Lefevre) – einer der oder vielleicht sogar der erste Day-Trader a.k.a. The Boy Plunger – wird häufig ein alter Ziegelstein aus dem 19. Jahrhun­dert genannt, der den wunderschönen Titel »Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds« trägt. Dieses Buch, geschrieben von dem schottischen Journalisten Charles Mackay, ist 1841 erschienen, und es ist alles dabei: Alchemie und Kreuzzüge, Tulpenmanie und Südseeblase. Die Crypto-Currency-Manie kannte Mackay natürlich noch nicht, gewundert hätte er sich nicht.

Die »Market Wizards« wurden für Schwager zum großen Erfolg. Im Abstand von jeweils ein paar Jahren brachte er dann immer neue Bücher mit aktuellen Top-Tradern als Interviewpartnern heraus: »New Market Wizards«, »Stock Market Wizards« und »Hedge Fund Market Wizards«. Alle sind gleichermaßen großer Fun. In unserer Serie »Listen-Archäologie« folgt nun eine chronologische Übersicht mit den insgesamt 64 Interviewpart­nern, eine note to self, da ich oft verwechsle, welcher Trader für welches Buch interviewt wurde.

Die Trader in den späteren Büchern kannten natürlich die vorherigen Titel. Für einige war es neben einer großen Ehre sogar das Ziel, einmal für eines der Bücher von Schwager interviewt zu werden. Mark Minervini, der Trendfolgegott aus dem Band »Stock Market Wizards«, gibt das explizit in seinem Interview bekannt.

Mit Ausnahme von Linda Bradford Raschke und Dana Galante fehlen unter den Top-Tradern übrigens bedrohlich die Frauen, die Quote bei 64 Inter­views liegt bei gerade mal 3%.

But here we go, meet the Market Wizards, as interviewed by Jack D. Schwager!

Market Wizards:
Interviews with Top Traders (1989)

  • Michael Marcus: Blighting Never Strikes Twice
  • Bruce Kovner: The World Trader
  • Richard Dennis: A Legend Retires
  • Paul Tudor Jones: The Art of Aggressive Trading
  • Gary Bielfeldt: Yes, They Do Trade T-Bonds in Peoria
  • Ed Seykota: Everybody Gets What They Want
  • Larry Hite: Respecting Risk
  • Michael Steinhardt: The Concept of Variant Perception
  • William O’Neil: The Art of Stock Selection
  • David Ryan: Stock Investment as a Treasure Hunt
  • Marty Schwartz: Champion Trader
  • James B. Rogers, Jr.: Buying Value and Selling Hysteria
  • Mark Weinstein: High-Percentage Trader
  • Brian Gelber: Broker Turned Trader
  • Tom Baldwin: The Fearless Pit Trader
  • Tony Saliba: »One-Lot« Triumphs
  • Dr. Van K. Tharp: The Psychology of Trading (kein Trader, sondern ein Psychologe, der viele Trader betreut)

The New Market Wizards:
Conversations with America’s Top Traders (1992)

  • Bill Lipschutz: The Sultan of Currencies
  • Randy McKay: Veteran Trader
  • William Eckhardt: The Mathematician
  • Monroe Trout: The Best Return That Low Risk Can Buy
  • Al Weiss: The Human Chart Encyclopaedia
  • Stanley Druckenmiller: The Art of Top-Down Investing
  • Richard Driehaus: The Art of Bottom-Up Investing
  • Gil Blake: The Master of Consistency
  • Victor Sperandeo: Markets Grow Old Too
  • Tom Basso: Mr. Serenity
  • Linda Bradford Raschke: Reading the Music of the Markets
  • Mark Ritchie: God in the Pits
  • Joe Richie: The Intuitive Theoretician
  • Blair Hull: Getting the Edge
  • Jeff Yass: The Mathematician of Strategy
  • Charles Faulkner: The Mind of an Achiever
  • Robert Krausz: The Role of the Subconscious

The Stock Market Wizards:
Interviews with America’s Top Stock Traders (2001)

  • Stuart Walton: Back from the Abyss
  • Michael Lauer: The Wisdom of Value, the Folly of Fad
  • Steve Watson: Dialling for Dollars
  • Dana Galante: Against the Current
  • Mark D. Cook: Harvesting S&P Profits
  • Alphonse »Buddy« Fletcher Jr.: Win-Win Investing
  • Ahmet Okumus: From Istanbul to Wall Street Bull
  • Mark Minervini: Stock Around the Clock
  • Steve Lescarbeau: The Ultimate Trading System
  • Michael Masters: Swimming Through the Markets
  • John Bender: Questioning the Obvious
  • Claudio Guazzoni: Eliminating the Downside
  • David Shaw: The Quantitative Edge
  • Steve Cohen: The Trading Room
  • Arik Kiev, M.D.: The Mind of a Winner (wieder ein Psychologe)

Hedge Fund Market Wizards:
How Winning Traders Win (2012)

  • Colm O’Shea: Knowing When It’s Raining
  • Ray Dalio: The Man Who Loves Mistakes
  • Larry Benedict: Beyond Three Strikes
  • Scott Ramsey: Low-Risk Futures Trader
  • Jaffray Woodriff: The Third Way
  • Edward Thorp: The Innovator
  • Jamie Mai: Seeking Asymmetry
  • Michael Platt: The Art and Science of Risk Control
  • Steve Clark: Do More of What Works and Less of What Doesn’t
  • Martin Taylor: The Tsar Has No Cloths
  • Tom Claugus: A Change of Plans
  • Joe Vidich: Harvesting Losses
  • Kevin Daly: Who Is Warren Buffett?
  • Jimmy Balodimas: Stepping in Front of Freight Trains
  • Joel Greenblatt: The Magic Formula

 

Nachtzug nach Berlin

auf Reisen, 19. Dezember 2017, 01:25 | von Paco

Gestern Abend Ankunft in Zürich, sofort das Gepäck ins Hotel gedonnert, raus in die Altstadt und auf ein Schnitzel rein in die Rheinfelder Bierhalle. Fast nichts mehr frei, also setzte ich mich an einen Tisch mit einigen siebzigjährigen Freisinnigen und da redeten wir nun zwei Stunden über die Lage. Irgendwann richtete ich die Diskussion wieder gezielt auf das Réduit, diesen dann ja doch sehr konkreten Mythos, und eine Quartstunde lang hörte ich Neues und Altes über das schweizerische Bollwerk.

Heute Morgen hoch zur Universität, wie immer alles super dort, spätnachmittags wieder runter zum Bahnhof und mit den SBB erst mal nach Basel und dort zum Libanesen am Barfüsserplatz, wo ich mit ein paar Influencern zu libanesischem Rotwein verabredet war, bevor ich dann genau pünktlich den Nachtzug nach Berlin bestieg. Der wird ja inzwischen von den Österreichischen Bundesbahnen betrieben, und an Bord gab es einige Geschenke von der Nachtzugleitung und ein heutiges Exemplar der Wiener »Presse«.

Ich las das Printprodukt sofort durch und traf dann auf der Suche nach der Bordbar noch zufällig ein paar Spanier und es gab in diesem Kontext doch einiges zu trinken, fast soviel wie in der täglichen Aeroflot-Maschine von Moskau nach Málaga, und dann zog ich mich in mein Sé­pa­rée zurück und begann in diesem Zustand die zweite Staffel »Babylon Berlin« zu schauen und vergab spontan 10 von 10 Punkten, eine Wertung, die ich morgen früh vielleicht noch mal neu evaluieren sollte, wenn ich in Babylon Berlin angekommen sein werde, »zu Asche, zu Staub, dem Licht geraubt«, gute Nacht.
 

Die Spielplatzproduzentin

Aarhus, 31. Oktober 2017, 15:40 | von Paco

In der Bahn vom Flughafen Kopenhagen nach Aarhus traf ich grad zufällig eine Spielplatzproduzentin. Wir kamen wegen etwas anderem ins Gespräch, aber dann stellte sich recht schnell heraus, dass sie Spielplatzproduzentin ist, also Spielplätze produziert. Sie musste nach einer Stunde aussteigen, aber bis dahin hatte ich viel erfahren über Spielplatzarchitektur, gummierte Spielplatzböden, Hexagonschaukeln usw., und wir sind auf jeden Fall weiter in Kontakt, demnächst also mehr über Spielplätze und deren Produktionskette, und China wird natürlich auch eine Rolle spielen, und am Ende ging es sogar um einige Accounting-Details, sodass ich kurz das Gefühl hatte, ich würde jetzt also im Kontor eines dänischen Spielplatzproduzenten arbeiten.
 

Venezianische Bücher

Düsseldorf, 24. Oktober 2017, 11:16 | von Luisa

Weil ich keine Lust auf die neuen Bücher in Frankfurt hatte, fuhr ich nach Köln ins Wallraf-Richartz-Museum, um alte Bücher und ihre Leser anzuschauen, die Tintoretto 1539 gemalt hat. Das Bild ist ungefähr zwei mal drei Meter groß, man sieht einen tempelmäßigen Raum mit dicken Säulen und einer Treppe in der Mitte und links und rechts von der Treppe lauter in Tücher gehüllte Männer. Einige haben ganz normale Bücher aufgeschlagen, wie sie heute noch existieren, andere halten bloß eine Papierrolle, aber drei Bücher sind so groß und schwer, dass nur der junge Mann rechts es schafft, sein Buch im Sitzen zu lesen, die beiden grau gelockten Männer müssen ihre kolossalen Exemplare auf den Boden legen bzw. gegen ein Podest lehnen. Dadurch wirkt das Geschriebene extrem wichtig, obwohl die Buchstaben bloß wie Kringel und Striche aussehen, unentzifferbar, aber vielleicht soll das Hebräisch sein und Tintoretto fehlte die Geduld, es korrekt abzumalen.

Der Tempel ist nämlich der in Jerusalem, und die Männer, ob sie lesen oder nicht, hören alle einem ziemlich schmächtigen, sehr jungen Mann zu, der auf dem Thron sitzt, zu dem die Treppe hinaufführt. Hinter seinem Kopf flammt es, und klar, das ist der zwölfjährige Jesus, der den Schriftgelehrten erklärt, wie es sich mit Gott usw. verhält, er redet ohne Buch, einfach so, mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen. Die Schriftgelehrten schauen in den Büchern nach, was sie gegen seine Reden einwenden könnten, das Bild heißt »Disputa«, aber sie finden natürlich nichts.

Der Mann in Gelb vorne rechts am Podest will gerade eine Seite seines Riesenbuchs umdrehen und wendet den Kopf ab, als könne er nicht ertragen, dass da nichts Ebenbürtiges geschrieben steht. Das Gelb aber ist so herrlich, dass man sich überhaupt nicht mehr für Text und Buch interessiert und genau das drückt das Bild aus. In Büchern, und besonders in den umfangreichen und kaum zu schleppenden, steht ja selten das Passende, vor allem wenn es sich um Gott usw. handelt; meist findet man das, was gerade live zu hören und zu sehen ist, viel interessanter, es geht einen einfach mehr an. Die Zuhörer im Tempel haben noch nicht verstanden, dass es besser wäre, die Bücher mal zuzuklappen.

Ehe also die Gutenberg-Galaxis richtig in Fahrt kommt, hat Tintoretto sie schon niedergemalt. Und mindestens zwei Figuren drücken genau das aus: Ganz nah bei dem redenden Jesus sitzt ein Mann in braunem Tuch, mit einem knallroten Hut auf dem Kopf, wie ihn kein Schriftgelehrter jemals tragen würde. Ein richtig warmes, leuchtendes Rot ist das, nicht dieses fade bläuliche Rosa, das später Tintorettos Markenzeichen wurde. Also der Hutträger sitzt und lauscht und sein Hut spaziert einem ohne Worte direkt ins Herz. Die andere Figur ist die einzige Frau auf dem Bild, eine kräftige Magd in dunklem Blaugrün am linken Bildrand. Sie ist unglaublich groß, ihre Hände hängen lässig herab, und woran sie denkt, ist nicht auszumachen, aber bestimmt nicht an Bücher.

Die Größenunterschiede zwischen den Figurengruppen erinnern ein bisschen an Neo Rauch, aber in gut. Das Bild ist sozusagen das Intro zur Ausstellung »Tintoretto«, frisch renoviert und glänzend beleuchtet hängt es unter den großen Lettern des Malernamens. Für diejenigen, die Drama lieben, ist es bestimmt das schönste Stück, obwohl im nächsten Raum noch ein Palma Vecchio zu sehen ist mit zwei Nymphen im Wald, ganz diskret und ganz still.
 

Parsifal in Hamburg

Hamburg, 19. September 2017, 17:13 | von Dique

Dann war ich auch noch in der Oper, die Premiere des neuen »Parsifal« an der Staatsoper Hamburgo. Kent Nagano als Dirigent, inszeniert von Achim Freyer. Das war ein großes Fest und wurde vom Publikum extremst abgefeiert, habe ich in der Form noch nicht erlebt. Dabei war ich selber gar nicht so berauscht. Musik war top und der Achim Freyer, der am Ende auch auf die Bühne kam, ist ein herrlicher, alter, aber jung gebliebener Zausel.

Kostüme waren so im Gothic-Style, Kundry zum Beispiel hatte massive Dreadlocks, Amfortas und Gurnemanz sahen auch so aus, als wären sie auf dem Weg nach Leipzig zum Wave-Gotik-Treffen. Andererseits lag ein großer Schleier vor der Bühne, auf dem ab und an große Worte eingeblendet wurden, und die Bühne hatte ca. vier Etagen, das war dann wieder ganz smart. Aber der Gruftie-Look ging mir ein bisschen auf das Gemüt.

In der Pause beobachtete ich am Nachbartisch eine hübsche Szene. Da saß eine sehr große, elegante Frau, um die 40, mit zwei älteren Herren, es gab Schampus und Häppchen, einer der Herren war super fett, mindestens so wie Mandelbrod in den »Wohlgesinnten«, der andere trug einen Schnauz, Typ Anwalt aus den 80ern. Die Frau besprach laut das Stück, aber immer unter der Verwendung der Wörter »geil« und »scheiße«, das war so ein bisschen schräg, »und wie Kundry auf die Bühne geflogen kam, so geil, und dann der Amfortas, ich dachte, scheiße …«.

Der Clou war aber, dass sie die Outfits an »The Dark Knight« erinnerten (und da hatte sie auch genau recht), und dann ergoogelte sie ein Bild des Jokers und zeigte es stolz den beiden Herren, die offensichtlich keinen Plan hatten, sich allerdings auch sowieso mehr für ihre Lachshäppchen interessierten. Ok, eine lange Geschichte und eigentlich ist ja so viel nicht passiert, einfach mal wieder in der Oper gewesen.
 

Mein Sommer 2017

München, 18. September 2017, 11:03 | von Josik

Mit 212-jähriger Verspätung habe ich nun endlich Johann Gottfried Seumes Reisebuch »Mein Sommer 1805« gelesen. Menschenfreund Dickens hatte mir zur Lektüre zwar eigentlich Seumes Bestseller »Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802« empfohlen, aber Ödipus schnödipus, Syrakus schnyrakus, und deswegen hatte ich mich eben für »Mein Sommer 1805« entschieden.

Während wir also im EC 81 nach Bologna Centrale saßen, dort dann in den ES 9537 Richtung Napoli Centrale umstiegen und schließlich noch mit der Circumvesuviana weiterrollten, las ich ganz gemächlich, wie Seume genau in die entgegengesetzte Richtung ging bzw. fuhr: von Sachsen über Polen und Russland nach Skandinavien. Kurz nachdem er losgestiefelt ist, macht Seume in Dresden folgende Beobachtung: »[I]ch sehe jetzt nicht mehr so viele dumm-despotische vornehme Gesichter als ehemals.«

Die südländische Umgebung, in der ich mich schon bald befand, verwirrte mich etwas, denn in Gedanken war ich voll und ganz bei Seume im Osten. Wir waren inzwischen in der Torquato-Tasso-Stadt Sorrento angekommen und staunten die Villa an, in der Massimo Gorkij ein paar Jahre lang gelebt hat, wohingegen Seume mittlerweile in St. Petersburg angekommen war. Er saß dort eben in der guten Stube, als Friedrich Maximilian Klinger reinkam und sagte: »Kinder, Schiller ist tot.« Ich musste ein bisschen weinen.

Nun setzten wir über nach Capri, es war allerdings sehr windig, und auf dem ganzen Schiff gab’s eine große Kotzerei. In Capri liefen wir zum Lenin-Denkmal, ich knipste es, und wir fuhren wieder zurück nach Sorrento. Dort an der Marina Grande gibt es ein Lokal, das für sich mit dem Spruch wirbt: »DIES RESTAURANT WIRD EMPOHLEN VON TIM MÄLZER.«