100-Seiten-Bücher – Teil 123
»Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« (1949/2017)

München, 3. November 2018, 20:55 | von Josik

Kleinen Kindern und Deutschlernenden sollte man zum Deutschlernen nicht unbedingt das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« in die Hand drücken. Denn sowohl in der Präambel als auch in Art. 1 Abs. 2 heißt es: »das Deutsche Volk«. Das Adjektiv ist großgeschrieben! Für diese Großschreibung kann man gewiss historische, ideologische und Pipapo-Gründe anführen, aber das ändert natürlich nichts daran, dass diese Schreibweise falsch ist. Adjektive werden im Deutschen nun mal kleingeschrieben.

Art. 7 Abs. 6 lautet: »Vorschulen bleiben aufgehoben.« Die betreffenden Gesetzeskommentare erläutern, dass hiermit nicht jene Vorschulen gemeint sind, die wir alle besucht haben, sondern irgendwelche anderen Vorschulen. In Art. 12 Abs. 3 steht etwas für eine Demokratie so Selbstverständliches, dass man sich wundert, dass dies überhaupt aufgeschrieben wurde. Nämlich: »Zwangsarbeit ist […] verboten.« Sorry folks, das war natürlich ein Scherz. In Tat und Wahrheit steht in Art. 12 Abs. 3 selbstverständlich das genaue Gegenteil: »Zwangsarbeit ist […] zulässig.«

Art. 26. Abs. 1 legt fest: »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, […] die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.« Wie der Generalbundesanwalt festgestellt hat, ist »[n]ach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift […] nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar«. Bei Angriffskriegen, die nicht vorbereitet wurden, kann man also beruhigt schlafen.

Meine Lieblingsworte im Grundgesetz sind: »Kauffahrteischiffe« (Art. 27), »Jagdscheine« (Art. 72 Abs. 3), »Sprengstoffrecht« (Art. 73 Abs. 1 Nr. 12), »Spielhallen« (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11), »Bergarbeiterwohnungsbaurecht« (Art. 74 Abs. 1 Nr. 18), »Vergleichsstudien« (Art. 91d), »Machtvollkommenheit« (Art. 104 Abs. 2) und »Biersteuer« (Art. 106 Abs. 2 Nr. 4). In Art. 143b Abs. 2 stehen drei Begriffe, die freilich von ganz besonderer Wichtigkeit sein müssen, denn es sind die einzigen drei Worte im Grundgesetz, die in Versalien geschrieben sind. Es sind die Worte »POSTDIENST«, »TELEKOM« und abermals »POSTDIENST«.

Die Quatschwendung »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« hat es leider auch ins Grundgesetz hineingeschafft, nämlich in Art. 96 Abs. 5 Nr. 2. Eigentlich sollte sich inzwischen ja herumgesprochen haben, dass es sich hier um einen etwas niedlichen false friend handelt und »crimes against humanity« korrekterweise mit »Verbrechen gegen die Menschheit« zu übersetzen ist. Hannah Arendt hat in »Eichmann in Jerusalem« (10. Aufl., Piper 2014, S. 398f., Hervorhebungen im Original) schon alles gesagt, was dazu zu sagen ist: »Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Londoner Statut hat […] die ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ als ›unmenschliche Handlungen‹ definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ geworden sind – als hätten es die Nazis lediglich an ›Menschlichkeit‹ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.«

Insgesamt liest sich das Grundgesetz in kürzester Zeit weg, vor allem dank der erfreulich vielen Leerzeilen zwischen den ganzen Artikeln. So ungefähr in der Mitte scheint das Grundgesetz kurz an Spannung zu verlieren und ein bisschen dröge zu werden, aber dieser Schein trügt. Beispielsweise in Art. 61 geht’s darum, dass das Bundesverfassungsgericht den Bundespräsidenten des Amtes für verlustig erklären kann. Es wäre doch bombe, wenn dieser Fall einmal IRL eintreten würde. Da könnten Tom Tykwer und seine Buddys dann auch gleich ne superste Serie draus machen: »Babylon Karlsruhe«.

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen. – Ausgaben:

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe mit Stichwortregister. Stand: Juli 2017. Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Redaktion: Dr. Birgitta Gruber-Corr, Dr. Miriam Shabafrouz. S. 3–144 (= 142 Textseiten).

[Dieses Buch erscheint anonym. Das ist logisch, da es permanent von unbekannten Gesetzgebern umformuliert wird. Die Erstfassung allerdings erstellten Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber, Helene Wessel und 61 weitere Nasen.]

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Einen Kommentar schreiben