100-Seiten-Bücher – Teil 162
Doris Lessing: »Die Versuchung des Jack Orkney« (1972)

München, 29. Juli 2019, 12:00 | von Josik

Sicherlich das Highlight dieser Erzählung ist, wie zwanzig aktivistisch veranlagte Leute auf dem Trafalgar Square für die Hungernden in Bangladesch einen 24-stündigen Hungerstreik veranstalten.

Länge des Buches: ca. 190.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Doris Lessing: Die Versuchung des Jack Orkney. Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen. Stuttgart: Klett-Cotta 1983. S. 3–95 (= 93 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100-Seiten-Bücher – Teil 161
Saphia Azzeddine: »Zorngebete« (2008)

München, 26. Juli 2019, 09:15 | von Josik

Der wohl berühmteste erste Satz der Weltliteratur stammt aus Tolstojs Roman »Anna Karenina« und lautet: »Alle glücklichen Familien gleichen einander« usw. – In Saphia Azzeddines Hundertseitenroman »Zorngebete« hingegen heißt es: »Alle Busbahnhöfe des Landes gleichen einander« (S. 92). Hier ist es allerdings nicht der erste, sondern, wenn ich mich nicht verzählt habe, erst der eintausendneunhundertzwölfte Satz. Aber das macht ja nichts. Ich finde sogar, die beiden Sätze »Alle glücklichen Familien gleichen einander« und »Alle Busbahnhöfe des Landes gleichen einander« gleichen einander. Deshalb habe ich nun angefangen, eine Liste zu erstellen, aus der zu ersehen ist, welche Gemeinsamkeiten glückliche Familien einerseits und Busbahnhöfe andererseits aufweisen. Zu meiner großen Bestürzung fällt diese Liste bisher aber äußerst kurz aus.

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Saphia Azzeddine: Zorngebete. Roman. Aus dem Französischen von Sabine Heymann. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2013. S. 3–117 (= 115 Text­seiten).

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Once Upon a Time im Feuilleton

ICE 727, irgendwo hinter Köln-Deutz, 25. Juli 2019, 18:50 | von Charlemagne

Nach knapp 100 Seiten musste ich das Buch dann erst mal zur Seite legen, das war einfach viel zu viel, hatte ich es bis dahin ja einfach inhaliert und nicht zur Seite legen können, und hiermit jetzt einfach die dritte Doppelung direkt zum Texteinstieg abgeliefert.

Was Michael Angele da in seinem, und ich bemühe den Begriff hier besonders gern, Docufiction-Shocker alles über Leben, Wirken und Lebensdichten des Frank Schirrmacher auffährt, liest sich so aufregend, spannend und klatschbegeistert, als hätten wir es endlich geschafft, den hive mind des Umblätterers anzuzapfen und das Ergebnis auf Papier zu bringen.

Es tauchen halt auch wirklich alle Schutzheiligen unserer Maulwurfsbande im Buch auf, von Karl Heinz Bohrer über Henning Ritter bis hin zu Rainald Goetz, und ich bin erst bei der Hälfte des Buches angekommen. Florian Illies, David Wagner etc. pp., eh klar. Dazu noch so herrlich absurde Geschichten wie das Abendessen mit Helmut Kohl (wetten, es gab rheinischen Saumagen? warum gibt’s zum Hauptgericht keine Informationen!), und da haben wir von der Taktik des gezielten Nichtbeachtens noch gar nicht gesprochen. Und und und.

Eigentlich also alles bisschen wie bei Quentin Tarantino, der sich eine Geschichte nimmt, einige vergessene Akteure mit neuen Ideen um ein großes Thema zusammenwirft und daraus dann ein Meisterwerk zimmert. Und wären wir jetzt noch relevant, würden wir den Vergleich noch bisschen mehr rausarbeiten, aber den Stress müssen wir uns zum Glück nicht mehr machen. Ich lese stattdessen erst mal schnell weiter.

Von meinem iPhone gesendet
 

100-Seiten-Bücher – Teil 160
Joyce Carol Oates: »Schwarzes Wasser« (1992)

München, 25. Juli 2019, 16:55 | von Josik

Schon im ersten Satz, auf Seite 8, erfahren wir, dass es ein Toyota ist, der hier von der Straße abkommt, und damit wir das nicht vergessen, wird es in diesem kurzen Roman danach einfach noch weitere sechzehn Mal erwähnt: Seite 11: »Toyota«; Seite 12: »Toyota«; Seite 13: »Toyota«; Seite 16: »Toyota«; Seite 26: »Toyota«; Seite 27: »Toyota«; Seite 31: »Toyota«; Seite 33: »Toyota«; Seite 37: »Toyota«; Seite 41: »Toyota«; Seite 42: »Toyota«; Seite 45: »Toyota«; Seite 53: »Toyota«; Seite 66: »Toyota«; Seite 124: »Toyota«; Seite 135: »Toyota«. Vielleicht handelt es sich um eine Art Anti-Schleichwerbung, da es ja nun eigentlich nicht sehr für die Marke Toyota spricht, dass der am Steuer sitzende US-Senator von der Straße abkommt und in ein sumpfiges Wasser geschleudert wird. Der Senator kann dann zwar sich selber aus dem buchstäblich absaufenden Toyota retten, macht allerdings keinerlei Anstalten, seine junge Beifahrerin, die er kurz vorher auf einer Party kennengelernt hat, ebenfalls zu retten.

Dieser Roman ist based on a true story, und dementsprechend hat die Autorin Joyce Carol Oates eher wenig verändert: In Wirklichkeit ereignete sich der Vorfall 1969 (der Roman spielt etwa 20 Jahre später), in Wirklichkeit war es ein Oldsmobile 88 (kein Toyota), den der Senator fuhr, in Wirklichkeit hieß die Beifahrerin Mary Jo Kopechne und starb mit 28 Jahren (im Roman heißt sie Kelly Kelleher und stirbt mit 26 Jahren), und in Wirklichkeit hieß der Senator Edward Kennedy (im Roman heißt der Senator schlicht: »der Senator«). Mary Jo Kopechne hätte wahrscheinlich gerettet werden können, wenn Kennedy die Polizei nicht erst zehn Stunden nach dem Unfall verständigt hätte, kurz nachdem diese schon von einem zufällig auf die Leiche gestoßenen Taucher informiert worden war. Zur Strafe erhielt Kennedy, denn nichts ist unmöglich, zwei Monate auf Bewährung.

Länge des Buches: ca. 180.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Joyce Carol Oates: Schwarzes Wasser. Roman. Aus dem Amerikanischen übertragen von Rüdiger Hipp. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1993. S. 3–142 (= 140 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 159
Ding Ling: »Das Tagebuch der Sophia« (1927)

München, 24. Juli 2019, 14:30 | von Josik

Wollte man einen literarischen Abreißkalender herausbringen, so empföhle es sich, nicht jeweils ein Zitat aus 365 verschiedenen Werken zusammen­zukratzen, sondern viel sinnvoller wäre es, 365 Zitate aus einem einzigen Buch und zwar aus Ding Lings »Tagebuch der Sophia«, einer der berühmtesten Hundertseiterinnen der modernen chinesischen Literatur, herauszuspachteln. Es wäre dann auch fast egal, welche Seite man aufschlägt, superste Sprüche finden sich nämlich so gut wie überall, z. B. hier auf Seite 15: »Von mir einmal abgesehen, hat niemand für mein Verhalten Verständnis.« Oder auf Seite 17: »Ich leugne grundsätzlich die Notwendigkeit von Erklärungen.« Oder hier auf Seite 25: »Ist es nicht längst so, daß Arznei und Krankheit in überhaupt keiner Beziehung mehr zueinander stehen?«

Zugegeben, die folgende Passage eignet sich für unseren Abreißkalender allerdings nicht: »Da gibt es eine Reihe begabter Frauen, fähig, infolge geringster Enttäuschungen eine Unzahl von klassischen Gedichten im Alten und Neuen Stil zu verfassen: ›Ich bin gefühlvoll und so melancholisch‹ […]. Ich dagegen bin völlig unbegabt« (S. 79). Diese Stelle ist etwas verwirrend, denn einerseits schreibt Sophia, »Ich bin gefühlvoll und so melancholisch« sei ein Beispiel für einen klassischen Vers, andererseits beweist sie damit sozusagen performativ ihre eigene poetische Unbegabtheit, denn rein lyriktechnisch ist »Ich bin gefühlvoll und so melancholisch« natürlich ein unfassbar katastrophal grottiger Vers, es ist einfach eine unbelegte Behauptung. Als klassisches Gedicht wären diese Worte nicht einmal dann zu retten, wenn man sie im Neuen Stil weiterdichtete, zum Beispiel: »Ich bin gefühlvoll / und so melancholisch, / Ich bin voll stilvoll / und römisch-katholisch« oder so ähnlich.

Warum Ding Lings »Tagebuch der Sophia« in China nach der Erstpublikation 1927 dermaßen eingeschlagen hat, führe ich nun im Folgenden nicht weiter aus, denn ich leugne grundsätzlich die Notwendigkeit von Erklärungen, hehe.

Länge des Buches: ca. 100.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Ding Ling: Das Tagebuch der Sophia (Suofei-nüshi-de-riji). Aus dem Chinesischen übersetzt von dem Arbeitskreis Moderne Chinesische Literatur am Ostasiatischen Seminar der Freien Universität Berlin (Bernd Fischer, Anna Gerstlacher, Johanna Graefe, Renate Krieg, Wolfgang Kubin, Julia Lore Mollée, Eva Sternfeld), Redaktion: Wolfgang Kubin, Jörg Michael Nerlich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. S. 5–103 (= 99 Textseiten).

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Zeitungsabonnement für Zauberer

Leipzig, 23. Juli 2019, 09:40 | von Paco

Ich hatte ihn ewig nicht mehr gesehen und traf ihn gestern wieder, als ich im Leipziger Osten Station machte. Er ist einer von rund 2.000 Zauberern in Deutschland, und ich erinnerte mich an eine Geschichte, die er mir vor langer Zeit erzählt hatte.

Zunächst muss ich noch vorausschicken, dass mein Zauberfreund seit vielen, vielen Jahren Abonnent der »Süddeutschen« war (Name der Zeitung für diesen Text geändert). Nun zur Geschichte:

Und zwar hatte er für einen Zaubertrick aus dem Bereich der Mentalmagie immer zwei Ausgaben der »Süddeutschen« benötigt. Da seine Shows jeweils freitags und samstags stattfanden, hieß das, dass er an Showtagen stets zusätzlich zu seinem abonnierten Exemplar noch eines vom Kiosk besorgen musste. Einmal war die SZ dort leider ausverkauft, und das brachte ihn dann auf einen Gedanken, den er sofort per Anruf dem Abo-Service der Zeitung mitteilte.

Er schilderte kurz seinen Fall und schloss dann mit der Frage: »Könnten Sie nicht ein Doppel-Abo für Zauberer anbieten? Würden Sie mir also in meinem Fall bitte freitags und samstags zwei identische Exemplare der SZ zuliefern?«

Der Abo-Service reagierte interessiert, denn schließlich werde ja die Zeitung in den Zaubershows prominent gefeaturt, also wäre das ein logisches quid pro quo.

Und so geschah es dann. Freitags und samstags wurden zwei Exemplare angeliefert. Das ersparte einen Gang zum Kiosk, alle waren’s zufrieden, und die Shows gingen weiter und weiter.

Nun ein Zeitsprung zu gestern, als ich den Zauberer wiedertraf. Während unseres sehr interessanten und unterhaltsamen gegenseitigen Updates fragte ich nebenbei auch nach dem Deal mit dem Abo-Service, und was musste ich hören? Zwei Dinge.

Erstens habe er schon lange die Zeitung abbestellt, so wie all unsere Bekannten auch. Und zweitens benötige er für den Zaubertrick nur mehr ein einziges Exemplar. Er sei früher einfach etwas faul gewesen, aber mit einem Exemplar funktioniere das Ganze problemlos auch, und da genügt dann ein Gang zum Zeitungskiosk, das heißt, solange es noch Zeitungs­kioske gibt.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 158
Kathrin Passig: »Vielleicht ist das neu und erfreulich« (2019)

Leipzig, 22. Juli 2019, 14:27 | von Paco

Es geht gleich super archäologisch los in diesen gesammelten »Grazer Vorlesungen zur Kunst des Schreibens«, die Kathrin Passig im Mai 2018 gehalten hat und die jetzt als Hundertseiterin bei Droschl erschienen sind. Und zwar erinnert sie an den Internet-Literaturpreis, der zwischen 1996 und 1998 von der ZEIT und IBM (what a combo!) insgesamt dreimal ausgelobt, dann aber sanglos und klanglos wieder eingestellt wurde.

Wohl und Wehe der Literatur im Netz, speziell ihre erwartete Transformation in genuine Netzliteratur, war journalistisch schon immer begleitet von Abgesängen (»Die Zeit« 1998, »Der Spiegel« 2002), und das ist ja auch nicht schlimm. Wir würden das interessante Neue sowieso nie bemerken, so Passig, während wir in derselben Zeitblase gefangen sind.

Also wo nach der Zukunft der Literatur suchen? Von den Feuilletons runtergeschriebene »schlecht angesehene Bereiche« seien gute Kandidaten, als da wären: »Pornografie, Selfpublishing, kollektives Erzählen, Auseinandersetzung mit Büchern bei YouTube« (S. 46). Wobei: »Letztlich hilft es wahrscheinlich nur, fünfzig oder hundert Jahre abzuwarten. Mit etwas Glück hat sich irgendeine Neuerung bis dahin unmissverständlich durchgesetzt: das Genre des Romolfs, der Vertriebsweg des Zenkens, die Leseweise in Klimpzirkeln.« (S. 47)

Zur Wiedervorlage: Romolf, Zenken, Klimpzirkel.

Ach so, an Jonathan Franzen arbeitet sie sich auch noch ab, eingeleitet mit diesem tollen Satz: »Ich weiß nicht mehr, ob ich das vor langer Zeit gelesene Buch – es handelte sich um ›The Corrections‹ – gut oder schlecht fand.« (S. 18) Nun ja, »Die Korrekturen« sind in der amerikanischen Erstausgabe 568 Seiten lang, aber vielleicht verwittern solche Lektüreeindrücke doch schneller als gedacht? Jedenfalls sollte man nach jeder Lektüre eines Buches irgendwo das Urteil JA oder NEIN (GUT oder SCHLECHT) vermerken, so wie das der von Matias Faldbakken ausgedachte armenische Kritiker Artoun Dilsizian getan hat.

Oh, hier noch ein Franzen-Zitat: »Es ist zweifelhaft, dass jemand, der einen Internetzugang am Arbeitsplatz hat, gute Romane schreibt.« (S. 23) Und Passig spießt wunderbar den Umstand auf, dass Franzen sein Unbehagen in alter Intellektuellentradition unzulässig verallgemeinert, und legt ihm die Worte in den Mund: »Ich leide unter Arbeitsstörungen wie viele Autoren und muss mich deshalb vorsichtig von Twitter, Facebook und dergleichen fernhalten.« (S. 30)

Länge des Buches: ca. 110.000 Zeichen. – Ausgaben:

Kathrin Passig: Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik. Graz: Droschl 2019. S. 3–104 (= 102 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Die linken Füße von Princeton

St. Petersburg, 1. Juli 2019, 09:00 | von Paco

Das Slawistik-Department hatte eingeladen, also nahmen wir den Direktflug von Moskau nach New York, dann das Überlandtaxi nach Princeton, zwei Stunden, und schon ist man da. New Jersey ist einfach nice, das sagten wir immer wieder, während der Taxista uns links und rechts auf landschaftliche Höhepunkte hinwies, und Princeton selbst erst!

Abends nach unserer Show wurden wir zum gemeinsamen Dinner eingeladen (ins »Mistral«), und zunächst wurden Food-Allergien diskutiert, von denen ich die meisten kannte, einige schienen mir aber neu und interessant zu sein.

TV-Serien wurden auch kurz angeschnitten, und da es ein Slawisten-Dinner war, ging es nicht um »Game of Thrones«, das sich ja gerade sang- und klanglos von den Bildschirmen verabschiedet hatte. Sondern es ging um »The Romanoffs«. Schnell jedoch war dieser Diskussionsstrang beendet, denn die Serie erschien allen als »too contrived«, und alle kündigten an, sie nie je zu Ende sehen zu wollen.

Ein weiterer Gesprächsfaden – Slawisten sind ja auch Linguisten – handelte vom englischen Verb ›to trump‹ (übertrumpfen, übertreffen). Einer der Mitspeisenden meinte beobachtet zu haben, dass einige Leute (er selbst auch) das Verbum ›to trump‹ aus Protest mittlerweile vermieden, auch in Kontexten, wo es angebracht und eigentlich unausweichlich scheint. Eine Kollegin schlug vor, dies empirisch zu überprüfen, und ein Plan war gefasst, und es war überhaupt insgesamt ein schönes Dinner, das mit vielen lauteren Wünschen ausklang.

Anderntags kamen wir am frühen Nachmittag unten vom Tenniscourt und waren guter Dinge, als uns ein unvermittelt einsetzender Platzregen ins nächstgelegene Gebäude zwang; es handelte sich zufällig um das Princeton Art Museum. Wir stellten die Blumenvasen im Self-Service-Garderobenschrank ab und …

Moment, welche Blumenvasen? Ein Sekretär, der auch für unsere Reisekostenabrechnungen zuständig war, hatte uns auf dem Weg nach oben getroffen und gebeten, zwei ellbogengroße Blumenvasen ins Department mitzunehmen. Haben wir dann sofort übernommen, da wir uns gut mit ihm stellen wollten und eh dort vorbeikommen würden.

… betraten die Museumssäle. Wir dankten dem Regen, denn ohne ihn wären wir wahrscheinlich gar nicht hier gelandet, einfach weil es so viele andere Sachen in Princeton zu machen gibt.

Eine nicht ganz fertiggestellte Replika aus Jacques-Louis Davids Studio, »Der Tod des Sokrates« (nach 1787), konnte man sich leider nicht aus der Nähe ansehen. Denn direkt davor steht eine bequeme Kunstbetrachtungscouch, in der sich ein sprichwörtlicher älterer Herr positioniert hatte und diesen Platz nicht räumte, während der gesamten zwei Stunden nicht, die wir im Museum zubrachten, und er verschmolz für uns übrige Museumsbesucher langsam mit dem Bild, vor dem er regungslos saß, was schon auch was hermachte.

Längere Zeit verbrachte ich mit einem historischen Gemälde von Angelika Kauffmann, »Plinius der Jüngere mit seiner Mutter beim Ausbruch des Vesuvs in Misenum« (1785). Das Sujet hatte mich sofort wieder gepackt und ich wanderte die Ebenen und dargestellten Figuren ab, aber irgendwas stimmte nicht, und ich wusste nicht was, bis auf einmal, hä?

Der jüngere Plinius, der in blauem Gewand und mit offenen Sandalen in der Mitte der vorderen Figurengruppe sitzt, die Beine übereinander geschlagen, hat zwei linke Füße! Ein Glitch, der einen sofort zwingt, voller Abscheu den Blick wegzuwenden, um sich dann doch ganz langsam und in verschiedenen Etappen an dieses Phänomen heranzutasten, das ja in der Kunstgeschichte kein seltenes ist, cf. Tischbein.

Der Katalog hat eine Erklärung parat:

»As was noted when the work was first exhibited at London’s Royal Academy in 1786, Pliny has two left feet. The reason for this may be that Kauffmann, then among the most popular artists in Rome, evidently relied on her less-talented husband, Antonio Zucchi, to complete many of her commissions.«

Antonio Zucchi, was hast du getan!

Mit diesem gellenden Ruf verließen wir das Museum, als es sich ausgeregnet hatte, und es war mal wieder Zeit für Dinner in Princeton.

Einige Tage später, wir waren längst wieder zu Hause, schrieb ich eine E-Mail an das Princeton Art Museum. Ich begann damit, meinem Excitement über die Sammlung Ausdruck zu geben und von den schönen Erinnerungen an unseren Besuch zu berichten. Im nächsten Absatz bat ich dann darum, doch bitte mal unverbindlich in der Garderobe nach zwei ellbogengroßen Blumenvasen Ausschau zu halten, denn die hatten wir dort einfach vergessen, und der Sekretär hatte sich tagelang nicht bei uns gemeldet wegen der Abrechnungen. Blumenvasen!
 

100-Seiten-Bücher – Teil 157
Tania Blixen: »Babettes Fest« (1950)

München, 10. Juni 2019, 21:55 | von Josik

Trifft der weltberühmte Pariser Opernsänger Achille Papin die norwegische Betschwester Philippa. Trifft der fesche Offizier Lorens Löwenhjelm die Betschwester Martine. Das ist nicht der Beginn zweier schlechter Witze, sondern so startet Karen Blixens Erzählung »Babettes Fest«, und diese Geschichte ist derart superst, dass der Vatikan nicht nur den oscar-prämierten Film »Babettes Fest« auf seine Liste der besonders empfehlenswerten Filme gesetzt hat, sondern dass Papst Franziskus in seinem nachsynodalen apostolischen Schreiben »Amoris laetitia« vom 19. März 2016 auch noch wörtlichstens schrieb: »Man erinnere sich an die geglückte Szene in dem Film ›Babettes Fest‹, wo die großherzige Köchin« usw.

Dass ausgerechnet der Papst »Babettes Fest« so cute findet, ist umso erstaunlicher, als die Katholen dort eigentlich voller Argwohn betrachtet werden, jedenfalls von den zwei Betschwestern. Der Ausdruck Betschwestern ist in diesem Fall genetisch zu verstehen, denn Philippa und Martine sind die Töchter eines pietistischen Sektengründers. Durch Monsieur Papins Vermittlung nehmen die beiden in einem Sister Act der Barmherzigkeit unsere Titelheldin Babette als Hauswirtschafterin in ihre Wohngemeinschaft bei sich auf, nachdem sie beim Aufstand der Pariser Kommune als Pétroleuse festgenommen worden war, aber entrinnen konnte. Pétroleuse nennt man eine Frau, die Häuser mit Petroleum in Brand steckt, und außerdem klingt es ja auch viel eleganter als z. B. Mollywerferin.

Babette lebt nun also zwölf Jahre lang in dem norwegischen Kaff und es passiert das, was in einem Zeitraum von zwölf Jahren in einem norwegischen Kaff eben passiert, nämlich gar nichts, aber plötzlich, huch, gewinnt sie in der französischen Lotterie zehntausend Francs! Da trifft es sich natürlich gut, dass zum anstehenden hundertsten Geburtstag des verstorbenen Vaters und Sektengründers eine Feier ausgerichtet werden soll, zu der eine mittelgroße Anzahl von Gemeindemitgliedern sowie eine sehr kleine Anzahl von Externen, darunter auch Löwenhjelm, eingeladen sind. Zur Vorbereitung des Menüs lässt Babette eine Unmenge von erlesensten, exquisitesten, teuersten Zutaten extra aus Paris herankarren. Wie bei Pietistenpartys üblich, geloben die Gäste allerdings schon vor der Feier einander, dass sie »an dem großen Tage unter keinen Umständen über Speis und Trank ein Wort verlauten lassen wollten« (S. 44), denn Essen ist was Irdisches, Pietisten aber sind durchgeistigt, und auch Pietisten müssen zwar essen, aber nicht übers Essen zu reden finden sie eben himmlisch.

Der einzige, der während des Festmahls aus der Reihe tanzt, ist der in der Welt herumgekommene Löwenhjelm. Er trinkt den Wein, der ihm kredenzt wird, »wandte sich an seinen Nachbarn zur Rechten und sagte: ›Aber das ist doch ein Veuve Cliquot 1860?‹ Der Angesprochene blickte ihn freundlich an, lächelte ihm zu und machte eine Bemerkung über das Wetter« (S. 61). Löwenhjelm genießt das von Babette zubereitete, wunderherrliche Hauptgericht, »wandte sich an seinen Nachbarn zur Linken und sagte zu ihm: ›Das sind doch zweifellos Cailles en Sarcophage!‹ Der Nachbar […] blickte ihn geistesabwesend an; dann nickte er zustimmend und erwiderte: ›Ja, ja, gewiß doch. Was sollte es sonst sein?‹« (S. 63). Aber es kommt noch besser: »Als ein paar Augenblicke später Trauben, Pfirsiche und frische Feigen vor ihn hingestellt wurden, sagte er lächelnd zu dem ihm gegenübersitzenden Gast: ›Schöne Weintrauben!‹ Der aber antwortete: ›Und sie kamen bis an den Bach Eskol und schnitten daselbst eine Rebe ab mit einer Weintraube und ließen sie zwei auf einem Stecken tragen.‹« (S. 64)

Tania Blixen schreibt an dieser Stelle nicht, dass dies natürlich ein Zitat aus dem Buch Numeri ist (4. Buch Mose), Kapitel 13, Vers 23. Ich fand es ja immer eine herzallerliebste Tradition bei den Evangolen, dass sie einen Bibelvers auswählen, wenn sie konfirmiert werden oder wenn sie heiraten oder wenn sie auf Weintrauben angesprochen werden. Am herzallerallerliebsten freilich fände ich, wenn auf einer evangolischen Hochzeit das Brautpaar einmal das Hohelied, Kapitel 2, Vers 5, auswählen würde und wenn die Pastorin oder der Pastor dann zu diesem schönen Bibelvers eine Predigt halten müsste: »Stärkt mich mit Traubenkuchen, erquickt mich mit Äpfeln«.

Usw.

Länge des Buches: ca. 90.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Tania Blixen: Babettes Fest. Aus dem Englischen übersetzt von W. E. Süskind. Zürich: Manesse 1989. S. 3–85 (= 84 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100-Seiten-Bücher – Teil 156
Samanta Schweblin: »Das Gift« (2014)

München, 1. Juni 2019, 23:51 | von Josik

Nina ist die Tochter der im Sterben liegenden Amanda, David ist der Sohn von Carla und außerdem ist er ein Mensch mit Transmigrationshinter­grund. Dieser Roman spielt irgendwo in der Pampa, da dauert es Stunden, bis mal Ärzte kommen, wenn man sie braucht. Und David braucht wirklich dringend Hilfe, denn er hat sich vergiftet und wird wohl in Kürze sterben. Statt stundenlang auf ärztliche Hilfe zu warten, bringt Carla ihn deshalb lieber zur Frau vom Grünen Haus. Die Frau vom Grünen Haus ist Expertin für Transmigration: »Wenn man für Davids Geist rechtzeitig einen anderen Körper fände, verschwände damit auch ein Teil der Vergiftung. Denn wenn die Vergiftung auf zwei Körper verteilt ist, besteht die Chance, sie zu überleben. Es gibt zwar keine Garantie dafür, aber manchmal klappt es« (S. 25). Im Straßenbild sieht die Leserschaft vor ihrem geistigen Auge schon förmlich die Plakate der Transmigrationsgegner vor sich: »Transmigration tötet!« Und die Slogans der anderen: »Gleiche Rechte für Transmigranten!« Usw.

Die Frau vom Grünen Haus jedenfalls »meinte auch, dass die Transmigration Folgen hat. In einem Körper ist kein Platz für einen zweifachen Geist, und es gibt auch keinen Körper ohne Geist. Die Transmigration würde also Davids Geist in einen gesunden Körper bringen, aber es käme auch ein unbekannter Geist in den kranken Körper. Etwas von beiden verbleibt jeweils in dem anderen« (S. 27). Die ganze Story ist extremst superst, wenn auch aus rein rationalistischer Perspektive vielleicht ein bisschen whack. Auf dem Umschlag des Buches steht unter dem Foto der Autorin: »Samanta Schweblin, geboren 1978 in Buenos Aires, […] lebt inzwischen in Berlin.« Danke, Merkel!

Länge des Buches: ca. 160.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Samanta Schweblin: Das Gift. Roman. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Berlin: Suhrkamp 2015. S. 3–127 (= 125 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)