Lesen 2.0:
Die F-Zeitung folgt Jochen Schmidt ins Netz

Konstanz, 15. Februar 2008, 07:20 | von Marcuccio

Seit knapp zwei Wochen gibt es den Reading Room der F-Zeitung: Jonathan Littell zum Lesen, Hören, Diskutieren soll ein »Pilotprojekt« sein, und man ist wohl kein großer Prophet, wenn man die Idee einer Blogosphäre für »FAZ-Gesinnte« schon jetzt als genialen Coup bezeichnet, mit dem die F-Zeitung ihr zuletzt doch eher altbackenes Alleinstellungsmerkmal »Feuilletonroman« ins 21. Jahrhundert rettet.

Denn wenn wir das weidlich kritisierte Marketing-, Experten- und Herausgeber-Tamtam einfach mal beiseite lassen. Dann bleibt als Role Model eines solches Lese-Events im Netz immer noch Jochen Schmidt, an den dieser Tage mal wieder kein Kritisier-Feuilleton erinnert hat:

Schmidt-liest-Proust hieß sein Projekt und war die sympathische Kompensation einsamen Lese-Inputs durch bloggenden Output, frei nach dem Motto: Ich teile euch mit, was und wie ich lese. Und ich lese (Prousts »Recherche« auch wirklich zu Ende), weil ich Leselust und Leselast mit euch teile, weil ihr hoffentlich protestiert, wenn ich vorher aufhöre, weil ihr mich animiert, durchzuhalten. 3.500 Seiten Proust sind ja eigentlich eine Ansage zum Eremitendasein. Aber 3.500 (mit-)geteilte Seiten Proust sind vielleicht die einzig reelle Chance, über ein Buch, das alle kennen und kaum einer wirklich gelesen hat, ins Gespräch zu kommen.

Und es muss ja gar nicht immer gleich Proust sein. Neulich zum Beispiel. Wollte ich mit Paco über dieses Buch quatschen, und er hatte es prompt noch nicht gelesen. Sollte er es dann endlich mal getan haben (Forza! hehe), habe ich die Hälfte schon wieder vergessen. Wie praktisch ist da ein Blog, das Unterhaltungen über Lektüreerlebnisse, für die es offline gar nicht immer den richtigen Zeitpunkt gibt, antizipiert und archiviert.

Es geht beim Lesen 2.0 also einerseits um das, was Literaturwissenschaftler wie Heinz Schlaffer als »mitgeteilte Lektüre« bezeichnen: das gesellige Gespräch über Literatur, das wir alle brauchen (Der Umgang mit Literatur. In: Poetica 31 (1999), S. 1-25). Und andererseits um »schreibendes Lesen«: Doch gerade das scheinbar harmlose Anmerken, Kommentieren und Reinschmieren in die Bücher konfrontiert unsere werten Bibliotheken ja immer wieder mit diesen Aufsehen erregenden Fällen von Zerstörungswut.

Reading Rooms und Lese-Blogs leisten, so gesehen, echte Prävention. Sie schützen nicht nur die Bücher, sie bewahren auch uns selbst – vor asozialer Lese-Vereinsamung ebenso wie vor einem unüberlegten Eintritt in den Jane Austen Club, hehe. Und dass auch eine schwarmähnliche Interessengemeinschaft im Netz so richtig schwärmerisch sein kann, hat der Schmidt-liest-Proust-Fanclub ja sowieso schon vorgeführt:

»Dankeschön Jochen! Dein Blog war wie ein Advents­kalender, dessen Türen jeder für sich öffnen konnte, wann er wollte und der uns jeden Tag mit einer für uns neuen Süßigkeit überraschte.« (hier)

Für Jonathan-Littell-Aficionados funktioniert das jetzt wahrscheinlich ganz ähnlich. Na ja, fast. Im Reading-Room der F-Zeitung wird halt nicht genascht; hier will und bekommt man echtes Vollkorn-Feuilleton: Oder was sonst wäre die tägliche Frage, die zur »Wohlgesinnten«-Verdauung anregen soll? Und nichts gegen Vollkorn: Jeder, der schon mal länger in Weißbrotländern gelebt hat, weiß erst, was gutes deutsches Schwarzbrot wert ist.

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Als Einstieg in den Schmidt liest Proust-Kosmos, die ersten beiden Einträge:
http://vertr.antville.org/20060719/

Der »Baukasten-Tito« an der Leipziger Oper

Leipzig, 14. Februar 2008, 08:01 | von Austin

Erinnert sich noch jemand an die »Fraggles«? Da gab es die Doozer, diese kleinen Bauarbeiterwichte, die manisch Plexiglasstäbe verbaut haben, die dann die Fraggles ihrerseits aßen wie Salzstangen. Es hat sich jetzt die Frage geklärt, was die Doozer die letzten Jahre getrieben haben, als sie nicht mehr im Fernsehen mitspielen durften: Sie haben die Plexiglaskonstruktion für Mozarts »Clemenza di Tito« in Leipzig fabriziert.

La clemenza di Tito/Titus, Oper Leipzig

Sie hatten Zeit. Und sie haben immer noch sehr viel Energie. Also haben sie sehr, sehr groß gebaut. Ein wackliges Haus leider, aber dafür ein Haus mit mehreren Etagen. Und so verstellt nun ein unbespielbares Monstrum die Bühne, mit dem niemand so richtig etwas anzufangen weiß.

So dass ersatzweise im Laufe des Abends, der als »Baukasten-Tito« Furore machen könnte, noch mehrere dieser setzkastenartigen Elemente vorgefahren werden. Das muss dann reichen an Action, denn ansonsten passiert nicht viel im 1. Akt. Szenisch nicht, und musikalisch leider auch nicht. Vitellia stolpert über ihr Kostüm, der Rest wirkt seltsam spannungslos.

Im 2. Akt dann Besserung bei allen Beteiligten. Das Gewandhaus hat über die Pause einen Sound gefunden, Kathrin »Sesto« Göring kriegt ihre Rolle respektabel in den Griff, zwei bis drei Ideen der Regie sorgen kurzzeitig für so etwas wie Atmosphäre auf der Szene.

Im Foyer sagt niemand etwas Despektierliches. In der Straßenbahn sitzt Herr Klotzy aus dem zweiten Stock. Versuche, ihn nicht zu sehen.

»There Will Be Blood«

Hamburg, 13. Februar 2008, 07:33 | von San Andreas

New Mexico, 1898. Der Mann in der Wüste, er ackert. Er gräbt, er hackt. Er meißelt, er hämmert, er sprengt. Er klettert, er fällt, er keucht, er kämpft. Er sucht Silber, findet Gold – schwarzes Gold. Der Mann in der Wüste ist Daniel Plainview. Er ist ein Ölmann.

Kein Kommentar, kein Dialog, kein einziges Wort stört die raue, körperliche Unmittelbarkeit der ersten zehn Minuten von »There Will Be Blood«. Geradeso kündigt sich ein außergewöhnlicher Film an: Bereits die Exposition atmet das Flair eines Klassikers.

Es ist dies der fünfte Film von Paul Thomas Anderson. Mit »Boogie Nights« und »Magnolia« empfahl er sich als brillanter Autor/Regisseur facettenreicher, einfühlsamer Ensembledramen. »There Will Be Blood« nun ist von einem anderen Schlag: die spröde, düstere, epische Geschichte eines materialistischen Misanthropen.

Zunächst lernen wir Daniel Plainview als integeren, fürsorglichen Mann kennen, der kompetent und instinktsicher eine beachtliche Karriere aufbaut. Hinter der Fassade des distinguierten Entrepreneurs aber verbirgt sich ein verschlagener Soziopath, dessen Hass auf seine Mitmenschen im selben Maße offenbar wird, wie seine monetäre Unabhängigkeit wächst.

Schon wird der Film mit »Citizen Kane« verglichen, mit dem er die Thematik des so gewieften wie gemütsarmen Tycoons teilt (auch »Chinatown« und »Giganten« fallen uns ein). Doch entwickelt »There Will Be Blood« seine Qualitäten aus sich selbst heraus: Reminiszenzen an andere Filme entspringen vielleicht dem Filmwissen des Cineasten, nicht aber dem Film selbst.

Anderson erzählt direkt und kraftvoll, einfach und effizient, spart Fingerzeige auf Metaebenen aus und enthält sich jeder aufdringlichen Metaphorik. Der Film steht da wie ein Axiom, gründet auf Befindlichkeiten der menschlichen Natur, die nicht expliziert oder per Symbolvorrat entziffert werden müssen.

Gewiss verhandelt der Film irgendwo den moralischen Zwiespalt zwischen Business und Religion, kontrastierenden Elementen der Frühzeit der Nation, doch schweben diese Kategorien wie Blaupausen über dem eigentlichen Kern der Geschichte: dem unauflösbaren Antagonismus zweier starker Persönlichkeiten.

Denn Plainview findet seine Nemesis in Gestalt Eli Sundays, einem charismatischen, hingebungsvollen Prediger und Gesundbeter, der um seine junge Gemeinde kämpft und die Toleranzbereitschaft des Ölbarons ein ums andere Mal auf eine harte Probe stellt.

Zwischen Plainview und Sunday bilden sich sehr wohl Brücken, doch erweisen die sich als kaum belastbar. Die Annäherung entspringt weder einem ehrlichen Harmoniebedürfnis noch menschlichem Respekt; sie entpuppt sich als notwendiges Übel: Der Geschäftsmann bedarf des kirchlichen Segens, um sich das Wohlwollen der Gemeinde zu sichern, während der Kleriker auf die materielle Unterstützung des Monopolisten angewiesen ist.

So kriechen beide zu Kreuze, heucheln Anerkennung, nehmen Erniedrigungen in Kauf, die der andere jeweils weidlich ausbeutet. Sunday verrät seine religiöse Würde, Plainview lässt sich in blinder Verfolgung seiner Ziele tief demütigen.

Die Persönlichkeit des Daniel Plainview aber erlaubt keine Unterordnung. Bald zeigen sich Risse auf der Oberfläche gesitteter Eloquenz; dicht darunter lauert das Unheil. So speist jede neuerliche Begegnung der beiden die bange Befürchtung, dass der fragile Moralkodex, der die Aggressionen leidlich in Schach hält, schließlich wegbrechen und die Prophezeiung des Filmtitels ihre Erfüllung finden wird.

Es ist wohl der Klischeefreiheit des Films und seiner entschlackten Ästhetik zu verdanken, dass der Zuschauer vollends die Distanz zum Geschehen verliert. So erliegt er umso einfacher den expressiven Nuancen des Werks, wird absorbiert in einen Rausch, der seine Energie vor allem aus einer Quelle bezieht: Daniel Day-Lewis.

Die schiere Präsenz dieses vermutlich besten Darstellers seiner Generation ist atemberaubend. Wie er mit raumgreifenden Schritten über seinen Claim stakst. Sein Ehrfurcht gebietender Duktus, wenn er redet. Seine kohlenschwarzen Augen, das Blitzen darin. Seine punktgenauen Gesten. Ihm zuzusehen: eine körperliche Erfahrung.

Plainviews archaischem Ego entgegengesetzt ist Sundays sanftes Gemüt. Paul Dano spielt den Prediger mit irritierender Ambivalenz. Von Anfang an nicht wirklich sympathisch, oszilliert er zwischen süßlich-bestechendem Sermon und kratzig-kreischender Ekstase. Man wird den Eindruck nicht los, dass Sunday mindestens ebenso abgefeimt und durchtrieben ist wie sein Gegenpart.

Andersons Dialoge sind von Kubrick’scher Präzision. Leicht manieriert, aber nie pathetisch, führen sie keinen Ballast mit sich und quellen wie Öl in die dunklen, dreckig-schönen Bilder von Andersons Hauskameramann Robert Elswit.

Diesen Bildern verleiht Jonny »Radiohead« Greenwoods erstaunlicher Soundtrack eine wunderbar extravagante Note, entrückt sie gleichsam eine Spur in Richtung Avantgarde. Minimalistisch, dissonant, unverhohlen modern. Was Penderecki für »Shining« war, ist Greenwood für »Blood«. Schon das erste schwellende Crescendo verbreitet ein enervierendes Gefühl unausweichlicher Bedrohung.

Manche meinen, »There will be Blood« fehle die Wärme, die Menschlichkeit. Doch enthüllt der Film vielleicht gerade dadurch viel über das Menschsein, indem er unerbittlich den Unmenschen in uns bloßlegt. Der Film laugt emotional aus, er überwältigt und erschüttert, aber die Erfahrung ist heilsam, ja kathartisch.

Ein Musterbeispiel filmgewordener Psychologie, eine cineastische Quintessenz, ein kühner künstlerischer Triumph. Großes, großes Kino.

Lost: 4. Staffel, 2. Folge

auf Reisen, 12. Februar 2008, 15:45 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »Confirmed Dead«
Episode Number: 4.02 (#73)
First Aired: February 7, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Für tot erklärt« (EA 22. 6. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Ok, ich bin dran, nachdem Dique letzte Woche die 4.01 gemacht hat.

Folge Nr. 2 ist eine sehr touristische Folge, die uns an verschiedene Orte in den Staaten (Massachusetts, Kalifornien), auf die Bahamas und sogar nach Tunesien trägt. Dort findet sich am Rand einer Ausgrabungsstätte bei einem Polarbärskelett (yeah, right) ein Riemen mit dem Dharma-Zeichen, eine Kreuzung von Symbolen an verschiedenen Orten der Welt, die ein wenig an Alejandro González Iñárritus »Babel« erinnert.

Überhaupt wird allen möglichen Anspielungen und Assoziationen wieder freier Lauf gelassen. Die Folge wirkt vollgestopft mit neuen Sachen, so als ob die Autoren jetzt um jeden Preis die Gleise für erst nachträglich ausgedachte Erklärungen legen wollen würden, hehe.

Am Anfang sehen wir die Szene, die 4.01 beschlossen hatte, aus der anderen Perspektive. Nun ist es der mit dem Fallschirm gelandete Neuankömmling Faraday, der Jack und Kate angerannt kommen sieht. Faraday wird schön windig gespielt, und er gibt dann auch zu, dass die Rettung der überlebenden Passagiere von Oceanic 815 nicht das »primary objective« der Mission sei.

Es handelt sich übrigens ungewöhnlicherweise um eine »multi-centric episode«, d. h. es geht in den Flashbacks oder Flashforwards nicht um nur eine Person. Es sind auch zu viele Leute vorzustellen: Außer Faraday haben sich Miles (ein, ähm, Geisterjäger) und Charlotte (Anthropologin) aus dem schlingernden Helikopter gerettet. Am Ende kreuzt noch der Chopperpilot (und dedizierte Säufer) Frank auf.

Die Namen der Neuen sind natürlich wieder ein Festival semantischen Überhangs: Die Anthropologin Charlotte Staples Lewis spielt sicher auf C. S. Lewis an, den Verfasser der »Chronicles of Narnia«. Und dass der Physiker ausgerechnet (Daniel) Faraday heißt, ist schon wieder mehr als cheesy. Die Anspielung auf den historischen (Michael) Faraday, den Entdecker der elektromagnetischen Induktion, passt aber natürlich gut in das Magnetismuskonzept, mit dem die Autoren ihre Insel ausgestattet haben.

Der Chopper wurde übrigens doch noch glücklich gelandet und steht jetzt auf einer Inselwiese herum. Aber nur solange Locke ihn nicht zu Gesicht bekommt, denn dann wird wieder schön explodiert wie mit dem U-Boot in Folge 3.13, hehe.

Speaking of which, während Locke mit seiner Believer-Gruppe das Weite suchen will, wird er von Sawyer mit Fragen genervt und wegen seiner lakonischen Sturheit »Colonel Kurtz« genannt, und das ist doch mal gut getroffen. Locke besteht darauf, dass ihm Walt erschienen sei, »only taller«, und dass er ihm geholfen habe, nachdem Ben ihm eine Kugel verpasst und ihn zum Verrotten in einer Grube zurückgelassen hatte.

Zum Beweis zeigt er dem ungläubigen Sawyer den Durchschuss durch seinen Unterleib, und die Szene erinnert mich kurz an den Potsdamer Caravaggio, auch wenn dort der Hl. Thomas die Wunde von Jesus unfassbarerweise direkt mit dem Finger prüft.

Locke kommentiert sein Überlebensglück so: »I’d probably be dead if I still had a kidney there.« Ein unerwartet ironischer Kausalnexus, denn jetzt hat also Lockes leiblicher Vater (in 3.19 von Sawyer um die Ecke gebracht), der ihn einst skrupellos ausgenutzt hat, um an eine Niere zu kommen, das Leben gerettet.

Und dann noch ein unerwarteter Hammer, bei dem mir fast der sprichwörtliche Döner aus der Hand gefallen ist: Ben steht kurz davor, von Locke erschossen zu werden, und verspricht in dieser Situation vollmundig Antworten auf alle möglichen Fragen, die sich bei den Losties so angesammelt haben.

Locke reagiert ganz im Sinne der Zuschauer (wir erinnern uns an diese Liste) und fragt ohne viel Federlesens sofort nach dem Black-Smoke-Monster, die wohl lustigste Replik der ganzen Serie bisher. Die Spannung ist auf dem Höhepunkt – können wir jetzt endlich aufhören, »Lost« zu kucken? Schließlich hängt an dem black smoke das größte Fragezeichen.

Können wir nicht, denn Ben weiß natürlich nicht, was es mit dem schnell zuschlagenden und schnell sich verflüchtigenden schwarzen Rauch auf sich hat.

Jonas Kaufmann

Leipzig, 12. Februar 2008, 07:37 | von Austin

Die Jonas-Kaufmann-Wochen sind ausgebrochen im deutschen Feuilleton. Und schon allein das untergräbt die konsumkritische »Diese Marketing-Strategie machen wir nicht mit«-Haltung, die diese Artikel durchzieht. Ein Arien-Album ist erschienen, und Jonas Kaufmann sieht passabel aus – Kommerz! schreit das Feuilleton. Geil. Wie berechenbar ist das denn. Der Kulturbetrieb argwöhnt, mit einer neuen Anna Netrebko belästigt zu werden, und macht dann kräftig mit, sich auf das eine Kriterium zu stürzen, das offensichtlich dazu ausreicht: Aussehen. Ansonsten: Stille. Weiteres fachlich Relevantes wird letztlich nicht geliefert.

Kaum ist also Rolando Villazón dauerhafter abgemeldet, sucht man nach einem neuen Partner für die schuhschmeißende Netrebko. Der »Spiegel« hat dann neulich seinen Opern-Kisch Moritz von Uslar in die Spur geschickt (Ausgabe 3/2008, S. 132-133), und der fand eben dann offenbar Jonas Kaufmann und rief direkt gleich mal das »Kaufmann-Jahr« aus, was aber, Grüße an die PR, im Prinzip auch schon 2005, 2006 oder auch 2007 hätte ausgerufen werden können.

Hingegen wuchtet Axel Brüggemann in seinem Artikel »Auf der Tonleiter nach oben geschoben« in der von uns wie immer gefeierten vorletzten FAS (3. 2. 2008, S. 53) viele schöne Anekdoten aneinander, die man über jeden, der im Opernbetrieb halbwegs Erfolg hat, hören kann, wenn man nur lange und spät genug in der Kantine nachfragt.

Er gelangt dabei zu folgender Erkenntnis: Im Vergleich zu irgendwelchen (schuldigung, Fritz) Vorbildern »fehlt im offenbar (…) die Stimme«, es mangele ihm an »vokaler Kraft«. Und dann der ultimative Tiefschlag: »Bei Jonas Kaufmann klingt es ein bisschen, als habe er die CD wirklich unter der Dusche aufgenommen.« Herrliche Polemik, der wir nicht widersprechen wollen, wir behaupten nur das Gegenteil.

Und stellen zwei Fragen: Warum fällt man auf so ein klassikradiohaftes Best-of-Album herein, anstatt in den letzten Jahren, in denen es dazu mehr als reichlich Grund gegeben hätte, vernünftig über Kaufmann berichtet zu haben. Und ihn als eben doch talentierten Mozart- und Verdi-Tenor wahrzunehmen, der als Alfredo oder Rodolfo viele hinter sich lässt. Und das nicht nur gesanglich. Was uns zur zweiten Frage führt: Warum keiner diese Connaisseure den gerade in der Oper mehr als erwähnenswerten Aspekt erwähnt, dass J. K. einfach mal über ein mehr als nur überdurchschnittliches Schauspieltalent verfügt.

Im Hintergrund laufen übrigens gerade Kaufmanns Strauss-Lieder, wobei, Moment, die Nummer 3 (»Die Nacht« von Hermann von Gilm zu Rosenegg, was für ein Name) scheint gerade einen Sprung zu haben, mal nachschaun.

Der Spiegeltaucher – Am Montag im »Spiegel«

Leipzig, 10. Februar 2008, 12:50 | von Paco

Gibt es eigentlich außer Oliver Gehrs niemanden, der einen auf den aktuellen »Spiegel« vorbereitet? Wir haben schon mal vorgelesen und geben hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Artikel aus den einzelnen Ressorts der morgen erscheinenden Ausgabe 7/2008 (11. 2. 2008), Titel: »Der Messias-Faktor. Barack Obama und die Sehnsucht nach einem neuen Amerika«. Eine Kompakt-Version dieser Vorschau gibt es bei medienlese.com, das komplette Inhaltsverzeichnis bei spiegel.de.

[ Hausmitteilung | Deutschland | Gesellschaft | Wirtschaft |
Titel | Ausland | Wissenschaft | Kultur ]

HAUSMITTEILUNG

Los geht’s: In der »Hausmitteilung« (S. 5) gibt es selbstkritische Worte zum schlecht geplanten Wechsel in der Chefredaktion. Außerdem werden Modernisierungen unter dem neuen Führungsduo Georg Mascolo/Mathias Müller von Blumencron versprochen.

DEUTSCHLAND

Ralf Neukirch und René Pfister beschreiben die CDU als »Kanzlerwahlverein« (S. 28-30). Angela Merkel käme ganz ohne CDU-Nostalgie aus und könne daher die Rituale der »Männerpartei CDU« ignorieren. Geschult an den nötigen Kompromissen bei der Arbeit in der Großen Koalition, umarme sie widersprüchliche Positionen lieber statt Polarisierungen Raum zu geben und so die Kontur der Partei zu schärfen. Das könne für die CDU ein Problem werden. Kritik aus den eigenen Reihen habe sie nicht zu befürchten, denn die Riege der CDU-Ministerpräsidenten sei zu einer »ziemlich kläglichen Truppe« geworden.

Die Oldenburger Ausstellung »Kaiser Friedrich II. 1194-1250. Welt und Kultur des Mittelmeerraumes« sei »die erste Ausstellung auf deutschem Boden«, die sich allein dem Stauferkönig widmet, schreibt Klaus Wiegrefe (S. 46-48). Ursprünglich sollte Friedrich vor allem als Vermittler zwischen Morgen- und Abendland zelebriert werden. Nach Protest von Historiker zeichnet die Ausstellung nun offenbar ein differenzierteres Bild, zu dem sowohl Friedrichs Reformen und seine Förderung der Wissenschaften als auch seine »nachweisliche Grausamkeit« gehören.

Ein siebenköpfiges Autorenteam schildert ausführlich die Verdachtsmomente, die sich zur Ludwigshafener Brandkatastrophe vom letzten Sonntag angesammelt haben (S. 36-38). Die Polizei ermittele in alle Richtungen, und die »Spiegel«-Redakteure skizzieren die kursierenden Thesen und Indizien. Sie beleuchten vor allem auch die politischen Dimensionen, die Spannungen im deutsch-türkischen Verhältnis, zu denen die unterschiedlichen Vermutungen und vorschnellen Anklagen geführt haben.

GESELLSCHAFT

Mal eine halbwegs gute Nachricht zum Thema Jugendgewalt gibt es im »Gesellschafts«-Ressort (S. 54-58). Fiona Ehlers berichtet vom baden-württembergischen Jumega-Projekts (»JUnge MEnschen in GAstfamilien«), das schwererziehbare, gewalttätige Jugendliche zwischen 10 und 16 Jahren für bis zu zwei, höchstens drei Jahre an Gastfamilien vermittelt. Das Konzept scheint aufzugehen, das Erleben familiärer Strukturen und Regeln in selbst »unperfekten« Familien gebe den Jugendlichen Halt und lasse sie den Kontakt zu den Gasteltern auch nach ihrer gemeinsamen Zeit aufrecht erhalten.

WIRTSCHAFT

Frank Hornig führt ein Interview mit dem Netscape-Gründer Marc Andreesen (S. 72-74). Entlang der IT-News der letzten Wochen beschreibt Andreesen die Entwicklung des Internets »zum wichtigsten Medium überhaupt«, da alle anderen Kommunikationstechniken und Medienarten »massenweise« ins Internet strömten. Außerdem geht es um sein neues Start-up Ning, eine Plattform für soziale Netzwerke.

TITEL

In der Titelgeschichte schreiben Marc Hujer und Klaus Brinkbäumer über »Barack Obama und die Sehnsucht nach einem neuen Amerika« (S. 88-98). Sie fragen, ob Obama (»ein politischer Poet, ein Menschenfänger«) es ernst meint mit der angekündigten »Politik von unten«, ob seine mögliche Präsidentschaft tatsächlich eine historische Wende à la Roosevelt und dessen New Deal einleiten könne. In einem »Land der Untergangsszenarien« verbreite er jedenfalls starke Hoffnung auf einen Wechsel. Ab der Mitte des Artikels werden seine Lebensstationen genau abgearbeitet, denn sein Werdegang sei wichtiger als seine Programmpunkte, die ohnehin denen Hillary Clintons ähnelten: »Obama ist kein Politiker, der sich über seine Überzeugungen definiert, es geht um seine Identität.« Da die unterschiedlichen Lebensstationen auf die unterschiedlichen Wählergruppen jeweils unterschiedlich wirken, kapriziere sich Obama darauf, die jeweils »richtigen Versatzstücke seines Lebens« zu erwähnen.

Im anschließenden Interview mit dem republikanischen Präsidentschaftsbewerber John McCain (S. 99-104) verspricht dieser die Rückkehr der USA zur Multilateralität und zu neuen Verhandlungen über das Kyoto-Protokoll. Einen vorschnellen Abzug aus dem Irak lehnt er ab: »Ich habe die Absicht, diesen Krieg zu gewinnen«. Innenpolitisch spricht er sich für einen schlanken Staat und Steuersenkungen als Wachstumsmotor aus. Den Vorwürfen (so muss man das wohl nennen) aus dem eigenen Lager, er wäre zu liberal, begegnet er mit der Aussage, er sei »stolz darauf, konservativ zu sein«.

AUSLAND

Aus Florenz, einer Stadt, in der selbst der Hausmeister noch mit einem Bildband zur Seicento-Malerei wedelt, berichtet Alexander Smoltczyk (S. 117). Es geht um das »Stendhal-Syndrom« oder »Hyperculturamie«: Regelmäßig werden Kunsttouristen von der Schönheit und Masse Florentiner Kunstschätze derart überwältigt, dass sie mit Schwindelgefühlen ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen.

WISSENSCHAFT

In ihrem Artikel »Hörsaal im Wüstensand« berichten Hilmar Schmundt und Samiha Shafy von der Schützenhilfe, die deutsche Professoren beim Aufbau von Universitäten auf der arabischen Halbinsel geben (S. 128-130). Der Ableger der RWTH Aachen im Oman sei aber nur das positive Gegenbeispiel eines Problems: Deutschland werde im Gegensatz zu den USA, Großbritannen, Kanada und Australien bei den großen Universitätsprojekten vor allem in Saudi-Arabien und den VAE außen vorgelassen. In der Gegend fehle »eine Erfolgs-Uni ›mit Leuchtturmfunktion‹«.

KULTUR

Jonathan Littell gibt äußerst selten Interviews. Zwei Wochen vor dem offiziellen Erscheinungsdatum der deutschen Übersetzung hat er jetzt mit Martin Doerry und Romain Leick über seinen Roman »Die Wohlgesinnten« gesprochen (S. 150-153). Der Autor ist neugierig auf die Rezeption in Deutschland und warnt vor der Historisierung des Holocaust, indem man ihn losgelöst vom Krieg diskutiert: »die gesamthistorische Betrachtung dejudaisiert das Problem auf eine bestimmte Weise, und das ist gut so, denn es ist ein universelles Problem. Der Holocaust war ja nicht eine Art Stammeskrieg zwischen Deutschen und Juden. Wäre es so gewesen, brauchte es alle anderen nicht zu interessieren.« Littell bekennt sich zur Konstruiertheit seines Ich-Erzählers Max Aue, sieht aber in »Kunst (…) die beste Möglichkeit, Wirklichkeit auszudrücken«. Mit seinem »Schreibexperiment« habe er »ein Fenster hin zum Unverständlichen öffnen« wollen.

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Pelzmantel-Stunde bei Peter von Matt

Konstanz, 9. Februar 2008, 10:04 | von Marcuccio

Gestern im Katamaran NZZ geblättert, Peter von Matt, der beste Germanist aller Zeiten, schreibt über seinen noch berühmteren Vorgänger Emil Staiger, ein Gedenkartikel zu dessen 100. Geburtstag:

»Seine Vorlesungen zogen Scharen an, aus allen Fakultäten und allen besseren Quartieren der Stadt. Das taten genauso die Vorlesungen von Karl Schmid, nebenan an der ETH. Hier wie dort musste man Eintrittskarten lösen, wollte man überhaupt Zutritt haben. Hier wie dort war die erste Reihe von Damen in Pelzmänteln besetzt. Geriet der Vortrag monotoner, studierte man die kunstreichen Frisuren.«

Der Clou dieser Zeilen: Von Matt könnte fast das Gleiche auch über sich selbst schreiben, denn noch bis vor wenigen Jahren war er diensthabender Hohepriester der so genannten Zürcher 11-Uhr-Messe. Das ist unter den gebildeten Stadtzürcher Ständen ein festes Synonym für die wöchentliche Literatur-Vorlesung in der marmorierten Churchill-Aula der Universität. Und das mit den Pelzmänteln und den Frisuren stimmt wirklich; es gehört wohl bei Generationen von Zürcher Erasmus-Germanisten zu den Schlüsselmomenten ihres Aufenthalts.

Und das Schöne an dieser Tradition scheint zu sein, dass ihr Ende trotz von Matts Emeritierung bislang nicht absehbar ist. Zur Robert-Walser-Tagung vor gut einem Jahr waren sie jedenfalls noch alle da, die gebildeten Millionärsdamen vom Zürichberg. Manchmal sitzt auch eine Lady vom gegenüberliegenden Zürichseeufer neben einem. Die erkennt man dann vorzugsweise daran, dass sie ohne Pelzmantel kommt, dafür aber mit 50-Franken und einer Einladung: »Nächsten Freitag, in der Villa Seerose von Horgen, täte ich referieren über Sophie Taeuber-Arp.«

Hallo Deutsches Seminar Zürich, wer hält eigentlich jetzt die 11-Uhr-Messe? Gibt es einen würdigen Nachfolger vor der Pelzmantel-Gemeinde?

»Los nuestros«:
Der Kanon des lateinamerikanischen »Booms«

Leipzig, 8. Februar 2008, 07:03 | von Paco

Heute endlich Zeit gehabt, den Artikel »¿Qué se hizo de Luis Harss?« des Romanciers Tomás Eloy Martínez zu lesen, erschienen vor gut zwei Wochen in der Kulturbeilage der argentinischen Zeitung »La Nación« (Ausgabe vom Samstag, 26. 1. 2008). Die Magazinrundschau des Perlentauchers hat ihn bereits kurz erwähnt und zitiert, hier folgt eine ausführlichere inhaltliche Zusammenfassung, sonst macht es wieder keiner, hehe.

Der Artikel ist 32.500 Zeichen lang, und ich habe ihn nur im Netz gelesen, aber damit könnte man hierzulande locker 3 großformatige Feuilleton-Seiten füllen. Es gibt eine vorwortartige Einführung von Eloy Martínez, darauf folgt als Hauptteil ein Interview mit Harss, das von einer Art Epilog abgeschlossen wird.

Zur Vorgeschichte: Im November 1966 hat Luis Harss zusammen mit Barbara Dohmann den Essayband »Los nuestros« herausgegeben, der aus heutiger Sicht den Autorenkanon des lateinamerikanischen Literatur-»Booms« deklarierte. Harss hatte das Buch zunächst auf Englisch geschrieben; diese Version erschien dann ein Jahr später unter dem Titel »Into the Mainstream: Conversations with Latin American Writers«.

Der »Boom« der lateinamerikanischen Literatur ist mittlerweile natürlich historisch, trotzdem aber immer noch ein nicht zu unterschätzender verlagspolitischer Faktor, wenn es um die Vermarktung lateinamerikanischer Autoren geht.

Zum Anlass des Interviews: Bei der Feier seines 80. Geburtstags soll García Márquez in die Runde gefragt haben, was eigentlich aus Luis Harss geworden sei. Keiner wusste etwas, aber kurz darauf lief ihm Eloy Martínez zufällig in Buenos Aires über den Weg. Sie plauschten kurz, vertagten aber tiefere Gespräche auf ein andermal und tauschten dafür die Adressen ihrer US-amerikanischen Wohnsitze aus.

Luis Harss lebt in Mercersburg, Pennsylvania; Eloy Martínez lehrt an der Rutgers University, New Jersey. Als Kompromiss verabredeten sie sich auf ein Treffen in der Amish-Stadt Lancaster, die ungefähr in der Mitte zwischen beider US-Wohnungen liegt.

In seiner Einführung beschreibt Eloy Martínez kurz die Gegend und das Leben der Amish. Deren religiöser Habitus stehe etwa im Gegensatz zu den aufragenden Getreidesilos, die er als bedrohlich erscheinende Phallusse interpretiert: »Los silos parecen grandes falos amenazantes, coronados por cúpulas con inequívocas formas de glande.« Na ja, okay.

Dann folgt das eigentliche Interview. Zunächst erzählt Harss, dass er in den 60ern in Paris in der Auslage eines spanischen Buchladens »Rayuela« liegen sah und nach der Lektüre eine Übersetzung begann, die er schließlich Cortázar persönlich zeigte. Dieser hatte leider bereits einen Übersetzer, und so musste Harss sein erwachtes Interesse in einem anderen Projekt kanalisieren.

Harss hatte damals keinen Überblick über die lateinamerikanische Literatur. Ein New Yorker Verleger, Roger Klein von Harper & Row, wollte ihn dazu überreden, eine Interviewserie mit einigen Autoren zu machen, was Harss vorerst ablehnte: »No los conozco. No sé quiénes son.« Nach der Begegnung mit Cortázar ging es aber Schlag auf Schlag, er erweiterte seine Lektüren und suchte die nächsten Autoren auf.

Er schrieb das Buch, wie gesagt, zunächst auf Englisch. Als der New Yorker Verleger Selbstmord beging, verlor sich das Projekt jedoch und wurde erst wieder für die spanischsprachige Ausgabe reaktiviert.

Harss hatte damals Gespräche mit 10 Autoren geführt, zu denen sowohl bereits bekanntere gehörten (Borges, Asturias) als auch noch unbekannte (Alejo Carpentier, Onetti, Cortázar, Fuentes, Vargas Llosa). Er hat nie kommentiert, warum er gerade diese Autoren ausgewählt und warum er andere, auch bereits durch die europäische Kritik akzeptierte Autoren, ausgelassen hat. Genau das interessiert jetzt Eloy Martínez.

Harss berichtet von einer sich selbst so bezeichnenden »Mafia« lateinamerikanischer Autoren, die damals über die Welt verstreut war und die spanische Sprache als ihr gemeinsames Zuhause betrachtete. Cortázar empfahl ihm den noch völlig unbekannten Vargas Llosa, und von ihm ging es weiter reihum von Empfehlung zu Empfehlung.

Den schon über 60-jährigen Guatemalteken Asturias, der 1967 den Nobelpreis bekommen sollte, besuchte er etwa in Genf. Das Interview mit dem brasilianischen Autor Guimarães Rosa in Rio de Janeiro wurde übrigens auf deutsch geführt; hier kam auch die Mitautorin Barbara Dohmann ins Spiel.

Zur Frage, warum er bestimmte Autoren ausgelassen habe, liefert Harss eine erwartbar banale Antwort: Entweder kannte er sie noch nicht, oder deren Werke gefielen ihm nicht wie im Falle von José Donoso (»me pareció ambicioso y mediocre«) und Ernesto Sabato (»como novelista, me parecía de un dramatismo banal y estereo­tipado«).

Am Ende sprechen sie schließlich über Harss‘ erklärten Herzensautor, den 1964 verstorbenen Felisberto Hernández, den er ins Englische übersetzt hat, sowie über Roberto Bolaño, dessen Vermächtnisroman »2666« er nicht zuende gelesen hat, weil er die professoralen Hauptfiguren darin so langweilig fand.

Im Epilog beschreibt Eloy Martínez noch die Enttäuschung, die Harss der Misserfolg seines 1968 publizierten Romans »La otra Sara o la huida de Egipto« beschert hat. Er kehrte damals Argentinien den Rücken und ging nach West Virginia. Im Moment arbeite er an einem zweibändigen Roman namens »Ani y la vida«, es bleibe abzuwarten, ob er die durch sein Land erlittenen Enttäuschungen in Literatur verwandeln kann.

Fazit: »La Nación« hat da einen herausragenden »Was macht eigentlich«-Artikel veröffentlicht, in dem sich Literaturgeschichte auf interessanteste Weise mit alten und neuen Anekdoten mischt.

Schloss Schleißheim:
»Dir sei der Tag – laß uns die Nacht!«

München, 7. Februar 2008, 18:57 | von Millek

Trotz schönster Februarsonne wirkte die barocke Parkanlage von Schloss Schleißheim auf uns eigenartig trist. Keine Ahnung, ob das am Graugelb des Rasens, den leicht brüchigen Fassaden oder den wenigen, unmotiviert schlendernden Schlossbesuchern lag.

Gerade als wir die Ostseite des Schlosses zum zweiten Mal ablaufen wollten, stießen wir am Rande des Parks auf eine Tafel, die schien, als wäre sie von den Tieren des Waldes dort aufgestellt worden:

Gedicht von den Tieren des Waldes

Etwas undeutlich handyfotografiert, daher kurz die Transkription:

Kommst Du – Mensch – in dies Revier,
vergiß uns nicht, wir leben hier.
Sind froh und dankbar, genau wie Du,
gibt man uns Frieden und die Ruh.
Wir bitten dich sei darauf bedacht:
»dir sei der Tag – laß uns die Nacht.«
Drum, wenn die Sonne geht zur Ruh,
verlasse dann den Wald auch Du.
Sei morgens nicht so zeitig hier,
sonst störst du uns und das Revier.
Vom Dämmern bis zum frühen Morgen,
da müssen wir für Äsung sorgen.
Gar eng wurd unser Paradies,
das uns die Technik übrigließ.
Lass uns die Dickung, bleib Du auf den Wegen,
so kommst Du unserer Bitt entgegen.

Die Tiere des Waldes

Passagenweise erinnerte uns das Gedicht an die Losung von Connewitzer Punks: »Euch die Macht, uns die Nacht!« Wir fanden es äußerst sympathisch und interessant, mit welchen Mitteln an dieser Stelle für Naturschutz geworben wird.

Leider bleibt die wahre Autorschaft dieses Gegenentwurfs zur fürstlichen Machtentfaltung von Schloss und Parkanlage verborgen. Ein oberdeutscher Waidmann nutzt das Gedicht jedoch, um auf seiner Website auf das Anliegen der Tiere aufmerksam zu machen. Ob er gleichzeitig der Autor ist, konnte nicht ermittelt werden.

Dann erinnerten wir uns an den eigentlichen Grund unseres Besuches – »Meisterwerke europäischer Barockmalerei« (Bayerische Staatsgemäldesammlung) – und strebten schnell ins Innere.

Kein Mist: »Der Nebel«

Hamburg, 6. Februar 2008, 14:08 | von San Andreas

Der Nebel musste aus den Niederungen gekommen sein. Mit einem Mal war er aufgezogen und hatte die Stadt überspült. Er schluckte meine Schritte, raubte mir die Orientierung. Lief ich nach Süden, nach Osten? Der Höllenbach lag gewiss hinter mir. Aus dem fahlgelben Widerschein der Laternen sah ich Straßenschilder auftauchen; sie sagten mir nichts. Kahle Bäume streckten ihre Gliedmaßen durch den Dunst.

Da! In der Ferne gab der Nebel, kurz und widerwillig nur, den schwachen Umriss eines Gebäudes frei. Ich beschleunigte meinen Schritt in diese Richtung, das matte Kopfsteinpflaster verlor sich hinter mir in züngelnden Schwaden. Als ich schon meinte, mein Ziel verfehlt zu haben, ragte das Bauwerk plötzlich dräuend vor mir auf. Erlöst blickte ich die glatte Fassade empor. Es gab keinen Zweifel: Das war der UCI-Kinopalast.

Zu Jugendzeiten bin ich ein großer Fan der King-Novelle »The Mist« gewesen; ferner hat die Liaison zwischen Stephen King und Frank Darabont dem Kino bereits zwei Schmuckstücke beschert (»The Shawshank Redemption«, »The Green Mile«). Grund genug, sich auf den Film zu freuen. Hatte es diesmal wieder geklappt? Oh ja (und ein wenig nein).

Darabonts Herangehensweise konnte freilich verschiedener nicht sein; der Stoff eignet sich auch kaum für eine ausladende A-Liga-Produktion, die hinten und vorne nach dem Oscar schielt. Solcher Ansprüche ledig, inszenierte er frank und frei ein klassisches amerikanisches Genrestück, das weder in Belangen der Story noch ihrer Umsetzung irgendwelche Kompromisse eingeht.

Das erfrischt. Obwohl die Prämisse als altbekannte Formel daherkommt: Ein zusammengewürfelter Haufen Leute sieht sich einer ominösen Gefahr gegenüber, die sie von der Außenwelt abschneidet und derer sie sich erwehren müssen. In diesem Fall: der Supermarkt einer Kleinstadt in Maine, drinnen ein paar Dutzend Kunden, und draußen: der Nebel.

Wie schon die Vorlage versteht sich der Film als Hommage an die Horrorgeschichten der 50er Jahre. Doch erzielt er – wie jeder gute Horror – eine gewisse universale Qualität, da er doch weniger von bizarren Monstern als von Menschen erzählt, ihrer Weltsicht, ihren Reaktionen. Das wahre Grauen kommt nämlich gar nicht aus dem bösen Gewölk – es befindet sich bereits im Supermarkt.

Die Makulatur des friedlichen Miteinanders zerbröselt in extremen Situationen. Die Gefahr im Nebel löst Angst aus, und Angst – so der wenig eloquente Subtitel des Films – verändert alles. Sie setzt eine verhängnisvolle Dynamik in Gang, welche die Gruppe schließlich sprengt: Anführer und Mitläufer, Aufwiegler und Beschwichtiger, Nihilisten und Idealisten. Entscheidungen müssen getroffen werden, und das Abwägen zwischen Eigennutz und Edelmut fällt nicht jedem leicht.

Also hängt man sich an Parteien und Meinungsführer. Da gibt es Drayton, den Pragmatiker, der eine Gruppe rationaler Geister um sich versammelt und altruistische Ideale hochhält. Auf der anderen Seite gibt es Mrs. Carmody, die religiöse Fanatikerin, um die herum sich spirituell angehauchte Fatalisten scharen.

Die Abwehraktionen gegen die Kreaturen aus der Nebelbank bergen so manch drastische Schockmomente, doch was die »aufgestachelten Gläubigen anrichten, stellt alles in den Schatten, was man in den letzten Jahren in einem Horrorfilm gesehen hat« (Sascha Westphal in der »Welt«).

Dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen … gäbe es da nicht das schlimme Ende, dass Darabont dem Film in Abweichung vom ungleich besseren, offenen Ausgang der Novelle verpasst hat. Eine böse, zynische Pointe, die den Zuschauer jäh aus dem Film herausreißt, weil sie in so krassem Gegensatz zur restlichen Handlung steht und reichlich unmotiviert inszeniert ist. Schade, schade.

Ein Gefühl der Frustration beschlich mich, als ich den Saal verließ. Der Grusel war verflogen, die Illusion lag in Scherben. Das Gebäude entließ mich ohne Verzug, ich trat auf die Straße. Eine nüchterne Nacht umfing mich, ihre Luft kühl und klar. Ich blickte auf. Der unheimliche Nebel, er war verschwunden.