Die FAS vom 21. 9. 2008:
»Ich dachte, es würde draußen schneien«

Leipzig, 22. September 2008, 18:57 | von Paco

Потому что в данный момент вышла новая советская книга Кристиана Крахта мне очень хочется обобщить вчерашнею »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« по-русски – к сожалению, швейцарский я не знаю!

Это новое произведение »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« обсуждает на первой странице в фельетоне Фолькер Вейдерманн. Он в особенности подчеркивает одну из типичных фраз Крахта: »Ich dachte, es würde draußen schneien.« (»Я думал, что на улице будет падать снег.«)

И ужасно интересно был неудачный интервью, что взяла Иоганна Адорьян у Роберта Дауни-младшего.

В кратком эпилоге она пишет: »Dies, beschließe ich, ist mein letztes Interview mit einem Schauspieler.« (»Это, я решила, был мой последний интервью с актерами.«)

Но кто же, если не она, тогда должен это делать!

Der letzte »Economist«

London, 20. September 2008, 19:52 | von Dique

Den »Economist« kaufe ich nur noch bei besonderen Gelegenheiten. Ich suche ihn auf wie einen weisen Freund, den man viel zu selten sieht und an den man sich wendet, wenn man von keinem anderen mehr erwartet, brennende Fragen beantwortet zu kommen. Das ist ein bisschen wie in dem besten und wohl einzigen sinnvollen filmischen Beitrag zur Artus-Sage, »Excalibur« von John Boorman.

Am Ende des Films vereinen sich die Ritter der Tafelrunde zur letzten Schlacht gegen Mordred, den bösen Sohn von Artus und dessen nicht minder bösartigen Halbschwester Morgana. Am Vorabend der Schlacht steigt Artus auf einen Hügel mit Monolithen und spricht zum verschwundenen Merlin (Morgana hatte ihn zuvor mit seinem eigenen Zauberspruch verhext), um den er sich seit Jahren nicht gekümmert hat. Er kehrt zurück und erhofft sich Beistand.

Nichts anderes erwarte ich vom »Economist« nach dem Massaker an den Finanzmärkten in der letzten Woche. »The Economist« erscheint am Freitag, und ich ging heute (Samstag) morgen bei meinem Newsagent vorbei. Normalerweise gibt es die gerade aktuelle Ausgabe die ganze Woche lang bis Donnerstag, bevor dann am Freitag die neue in die Geschäfte gelegt wird.

Ich stand nun vor dem Regal mit den News-Magazinen und konnte ihn einfach nicht finden. Dabei hatte ich das Cover-Bild genau im Kopf, nachdem ich schon im Netz das Inhaltsverzeichnis abgescannt hatte: ein reißender Strudel, in dem die Logos großer Finanzwerte hinabgerissen werden.

Vielleicht lag er an der Kasse. Fehlanzeige. »I don’t seem to find The Economist«, sagte ich dann zu meinem Newsagent, welcher mich schelmisch angrinste. »I have only one copy left«, sagte er und holte unter einem kleinen versteckten Papierstapel noch ein Exemplar hervor. »The best newsagent, hehh?«

Jedenfalls bin ich also nicht der einzige Leser, der sich, wenn die Kanonen donnern, auf die sachlichen Lageberichte dieses Blattes besinnt.

War bis eben aber noch gar nicht zum Heft gekommen, denn im FT Weekend Magazine gibt es eine Warren-Buffett-Biografie, »A billionaire in the making«, und die las sich ganz prima zum Kaffee.

Aber nun endlich zum »Economist«, direkt in den Leader auf Seite 13, bei dem ich mich besonders über diesen humorvollen Satz freue:

»Some will argue that the Federal Reserve and the Treasury, nationalising the economy faster than you can say Hugo Chávez, …«

Was es heißt, Grass zu lesen

Leipzig, 17. September 2008, 16:32 | von Paco

»Die Zeit« hatte die äußerst gute Idee, das neue autobiografische Günter-Grass-Buch »Die Box« von jemanden besprechen zu lassen, der vorher noch nie ein Buch von Grass wirklich gelesen hat, und zwar von dem Autor Andreas Maier. Der so entstandene Artikel »Und Vater fand endlich Ruhe« war vor drei Wochen Aufmacher des Literatur-Teils (Nr. 36/2008, S. 53/54) und ist ein heißer Kandidat für unsere Feuilleton-Top-Ten 2008.

Maier hatte davor lediglich in Grass‘ »Treffen in Telgte« mal reingelesen. Auch die »Blechtrommel« hat er kurz mal aus dem Regal eines Bekannten hervorgezückt: »Ich hatte eine Viertelstunde Zeit und las den Anfang.« Immerhin: »Er schien mir kraftvoll, ich musste an Max Frischs Stiller denken.«

Das Experiment der »Zeit« erinnert an ein ähnliches Experiment der »FAS«. Sie hatte den letzten »Harry Potter«-Band von Jochen Schmidt (sagen wir mal:) rezensieren lassen, obwohl er die 6 Vorgängerteile gar nicht kannte (und sich darüber in der Wikipedia informierte).

Damals wie heute geht es also darum, ob man Bücher überhaupt lesen kann, die am Ende eines Œuvres stehen, ohne dass man die etlichen Vorgängertexte zur Kenntnis genommen hätte.

Ebenso wie Schmidt liefert Maier einen souveränen Text ab, der eben dieses Problem implizit mitdenkt. Nur weil er noch nie ein Grass-Buch gelesen hat, kann er im folgenden ganz unvorein­genommen mal beschreiben, was es überhaupt heißt, Grass zu lesen.

Für jüngere Literaturkritiker ist jedes neue Grass-Buch ja immer wieder die Aufforderung, die eigenen Verriss-Künste zu proben. (Mir fällt da spontan der Sundermeier-Text zum »Krebsgang« ein, der das rezensierte Buch inhaltlich und stilistisch locker in den Schatten stellt.)

Maier dagegen hat seine Beobachtungen ganz nüchtern hingeschrieben, fern jeder Polemik. Am deutlichsten scheint ihm die Diskrepanz zwischen einfachem, chronologischen Inhalt und formaler, stilistischer Verkomplizierung: »Aus dem formalen Aufwand schließe ich, dass der Autor dem einfachen Text, der zugrunde liegt, nicht traut«, schlussfolgert Maier. Den titelgebenden Hauptkniff, die »Box«, nennt er dann aber sogar »einen schönen Einfall«.

Letztlich ist Maiers Beschreibung natürlich doch ein Verriss. Er hat das neue Grass-Buch »recht beflissentlich, aber (…) ohne einen Funken Begeisterung« gelesen, wie der Perlentaucher zusammenfasst.

Arno Schmidt hat ja mal extrapoliert, dass man in seinem Leben höchstens 3.150 Bände lesen kann, und »die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!« Mit Maier hat also einmal mehr jemand exemplarisch festgestellt, dass man von Grass Abstand halten und eine Ausnahme nur machen soll, wenn man von der »Zeit« dazu beauftragt wird.

[Dank an Artificios für den Hinweis!]

Regionalzeitung (Teil 8)

Leipzig, 16. September 2008, 13:52 | von Austin

 
  36.   ließen sie sich die gute Laune nicht verderben

  37.   waren wieder in Bestform

  38.   öffneten sich die Pforten für den alljährlichen

  39.   ein Sprung ins kühle Nass

  40.   eine tolle Mischung
 

Der Rilke-Panther unter den Geysiren

Konstanz, 13. September 2008, 09:25 | von Marcuccio

»Unbedingt vermeiden«: Die aus »Ferien für immer« bekannte Rubrik für alle, die unterwegs sind, bekommt heute mal einen neuen Eintrag: den »Brubbel«.

Brubbel ist ein Kaltwassergeysir, der einzige des europäischen Festlandes. Heißt es. Und also für jeden Wanderer in der Gegend eine Reise wert. Dachten wir. Weil man bei Geysiren ja immer gern an Island und Naturgewalten denkt, eventuell auch an Erdspuk und Gespenster von Judith Hermann.

Doch: Deutschland ist nicht Island, und Brubbel in der Vulkaneifel ist vielleicht geologisch ein Geysir; rein optisch könnte er auch ein Dorf-Springbrunnen mit Intervallschaltung sein oder, das noch viel mehr, die verdreckte Kneipptretanlage von Wallenborn.

Brubbel ist ein domestizierter Geysir, aber was für einer. So ziemlich der worst case dessen, was einem Geysir passieren kann: Eingefasst in eine kreisrunde Betonschalung mit Metallbrüstung drumherum darf Brubbel (auch bei YouTube) alle 30-35 Minuten brubbeln.

Wie wir ums Brubbel-Gitter stehen und warten, dass das passiert, gehen uns, zwei Dumme, ein Gedanke, die Lyrics nicht mehr aus dem Kopf:

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.

Natürlich, das hier ist der Rilke-Panther unter den Geysiren. Und hatte »R.M.R« nicht sowieso ein Faible für alles, was sprudelt? Fontänen? Vielleicht müssen die Philologen ja noch mal ran, und am Ende beschreibt der Panther-Knacker der deutschen Literatur gar keine Kreatur im Pariser Jardin des Plantes … all das passiert hier, im Wasser-Verlies von Wallenborn:

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf

… das ist genau der Moment (bei YouTube die Min. 0:20), in dem sich unter dem armseligen Drahtkäfig die braune Brühe hebt und anzeigt, dass Brubbel, nun ja, gleich kommt.

Und wie er das (bitte schön spritzsicher hinter dem Geländer) vor aller Augen tun muss,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

mit einem

»Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht«

Sogar der tolle Umstand, dass Brubbel, wenn er kommt, bis zu 3 Meter hoch kann, ist dann doch eine ziemliche Porno-Nummer für Touristen: Man verengte vor ein paar Jahren einfach den Durchmesser der Bohrleitung. Das erhöhte den eruptiven Druck und gibt der ganzen Geschichte sowieso den Rest, denn Brubbel kam ja nie naturgewaltig ans Licht der Welt: Er wurde, wie die örtliche Website in seltsamer Diktion vermeldet, 1933 »in seiner Einmaligkeit ›geschaffen‹«.

Wie gesagt, bitte unbedingt vermeiden.

Bratwurstmuseum

Leipzig, 10. September 2008, 15:28 | von Paco

Auf der A4, unterwegs von West nach Ost, hatten wir mal eine Panne, glücklicherweise, denn sonst hätten wir sicher nie etwas vom – Achtung! – 1. Deutschen Bratwurstmuseum gehört.

Einen halben Kilometer vor uns lag die Abfahrt ›Wandersleben‹. Wir schafften es mit dem zerrissenen Reifen noch bis zum Autohof, der gleich hinter der Abfahrt liegt. Und da leuchtete uns dieses Schild entgegen:

A4, Abfahrt Wandersleben, Hinweissschild Bratwurstmuseum

Feuer und Flamme für eine solch abstruse Museumsidee wechselten wir den Reifen, fuhren durch Mühlberg, an Röhrensee vorbei und weiter Richtung Wachsenburggemeinde, die anhand der schön aussehenden Wachsenburg schon von weitem leicht zu erkennen ist.

Das 2006 gegründete Museum befindet sich dann im Ortsteil Holzhausen und wird von freundlichen Museumsleuten betrieben, die mit ihrer umfassenden Kompetenz auch jede Nietzsche-Gedenkstätte betreuen könnten. Es gibt zwei Etagen, in der unteren wird es gleich ganz realistisch: Zu den Ausstellungsgegenständen zählen Fleischwölfe, Brühtröge, Hackklötze, Speckhobel, Schlachtermesser, Fleischerbeile, Bolzenschussgeräte.

Zur Ablenkung sind an allen Wänden Volksmund-Verse verteilt: »In der allergrößten Not / schmeckt die Wurst / auch ohne Brot«. »Was Karl August unter Thüring’s Fürsten / ist die Bratwurst unter Thüring’s Würsten«. Unter der Headline »Die Bratwurst in Kunst und Kultur« wird u. a. die Titelseite des Buches »Wurstologia et Durstologia« (1662) präsentiert, das von einem Spezialisten namens ›Marcus Knackwurst‹ geschrieben worden ist.

Aus der oberen Etage kam mir eine Bratwursttouristin entgegen, die wie in Trance zu sich selbst sagte: »Bratwurst, Bratwurst, Bratwurst. Nichts als Bratwurst.« Ich schaute sie verwundert an, doch mit ihrem Tunnelblick schien sie das überhaupt nicht zu bemerken. Die ganze Museumsidee musste bei ihr eine kognitive Dissonanz ausgelöst haben.

Im oberen Ausstellungsraum geht es vor allem darum, wie die Botschaft der Bratwurst in alle Welt getragen wird (»J’aime la Bratwurst« usw.). Die in Portugal ansässige letzte Bratwurstbude vor Amerika wird erwähnt. Außerdem gibt es Schautafeln zur Geschichte der Bratwurst. Dort steht dann sowas:

1. Jh. v. u. Z.: Bratwurstrezept im ersten römischen Kochbuch von Apicius (römischer Feinschmecker und der bekannteste Kochbuchautor der Antike)

um 50: Der römische Dichter Petronius berichtet im Satyricon über »noch rauchende Bratwürste auf einem silbernen Roste«

Auch eine Anekdote des Bratwurstessers Goethe findet sich natürlich. Die erste urkundliche Erwähnung einer Thüringer Bratwurst erfolgte übrigens am 20. Januar 1404. An diesem Tag wurde in der Propsteirechnung des Arnstädter Jungfrauenklosters der Kauf von Bratwurstdärmen vermerkt: »1 g[roschen] vor darme zcu brotwurstin«. Dem entsprechend kann man einen Blick in eine klösterliche Schreibstube um 1404 werfen. Am Katheder steht Propst Johann von Siebeleben, einen Federkiel in der rechten, eine Bratwurst in der linken Hand.

Es gibt natürlich auch so eine Art Museumscafé, und da entschieden wir uns für die Empfehlung des Tages:

J'aime la Bratwurst!

SZ från igår och FAS från idag

Leipzig, 7. September 2008, 23:49 | von Paco

für Hans Dahl, unseren Schwedischlehrer,
gern auch ›Hans Fru‹ genannt :-)

Dique och jag har redan från början av våra studier studerat svenska i fyra terminer. Vi har sjungit »Du gamla, du fria« och flera Luciasånger samt lyssnat på Kent och Petter. »Ska vi riva hela haket? Så klart!«

Idag, för att »subrayar nuestra vocación paneuropea«, skriver jag just därför på svenska om gårdagens utgåva av »Süddeutsche Zeitung« och dagens utgåva av »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«.

Jag satt alltså för bara en liten stund sedan på Telegraph och hittade dom här tre mycket bra artiklarna:

1. Werner Spies skrev om Max Ernst och upptäckten av »Dripping«-metoden (episoden med »Sauce Robert« var verkligen rolig);

2. Volker Weidermann skrev om Dietmar Daths nya bok »Die Abschaffung der Arten«, Weidermann beskriver den som en »roman för alla«;

3. Harald Staun skrev om storprojektet »24h Berlin« (filmades i förrgår, 5/9 2008, av mer än 80 kamerateam, resultatet kommer visas om exakt ett år, den 5/9 2009, på RBB, ARTE och finska digitalkanalen YLE Teema; mer på SvD).

Sedan läste jag också i gårdagens SZ, nämligen i bilagan »SZ am Wochenende«, det suveräna porträttet, som Marc Felix Serrao har skrivit, om Götz Kubitschek, hjärnan bakom det såkallade KSA (Konservativ-Subversiv Aktion).

Den lilla artikeln av Thomas Steinfeld om Alaska som republikansk utopi (»Das Lied von Anchorage«) var också mycket bra, nämligen på grund av hans nya tolkning av sången »Anchorage« av Michelle Shocked.

Bää bää vita lamm, har du någon ull?
Ja ja kära barn, jag har säcken full.
Söndagsrock åt far och söndagskjol åt mor
och två små strumpor åt lille lille bror.

Kaffeehaus des Monats (Teil 40)

sine loco, 7. September 2008, 11:30 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Vapiano, Tallinn

Tallinn
Das Vapiano in der Hobujaama 10.

(»See you at my office,« she had said, but the address
on her business card pointed me to this pizza chain. I tried
to find another door but then I really glimpsed her through
the window and watched her a while. She was sitting
al fondo, working her way through some food, reading mails,
receiving a call, digging through some paper work. She had
no office, I figured, the pizza place was her office. And now
she was waiting for me to present my company’s offer.)

»Schön!« — Mit Judith Hermann durch Berlin

Leipzig, 4. September 2008, 12:56 | von Paco

Die Leute von Literaturport.de haben einige bekanntere Berliner Autoren dazu gebracht, eine »Literatour« durch Berlin zu unternehmen und darüber zu texten. Auch Judith Hermann hat einen Text beigesteuert, und im Prinzip kann so etwas ja nur schiefgehen.

So wurde Ingo Schulze neulich im »Spiegel« dafür abgewatscht, dass er seinen Roman »Adam und Evelyn« offenbar als eine Art Auftragsarbeit für eine bestimmte geplante Reihe des Berlin Verlags unternommen hat, in der »große Mythenstoffe neu erzählt und gedeutet« werden. »Nicht von kreativem Drang, vielmehr von Marketing-Blabla beflügelt«, nannte das Urs Jenny (Nr. 33/2008, S. 142).

Der Titel des Hermann-Texts ist dann auch gleich in Maßen schrecklich: »Spazieren.Gehen.« – das wirkt etwas zu sehr gewollt experimentell poetisch. Der eigentliche Text dann gar nicht, es geht alles glatt, auch weil die Autorin es von Anfang an ablehnt, überhaupt ein Thema, einen Auftrag zu haben. So wandert sie themenlos einige Randgebiete des Prenzlauer Bergs entlang, die einzelnen Stellen sind auf der Webseite auch per eingebettetem Google Maps verortet.

Relativ schnell hat man dann wieder den Hermann-Sound im Ohr, vor allem, wenn man sich die Story gleich als MP3 von der Autorin vorlesen lässt.

Erst wundert man sich, dann nimmt man ihn hin, dann findet man ihn gut: einen wohlausgesuchten Manierismus, der sich schon nach 3 Absätzen festsetzt – die Erzählerin bezeichnet ihr Kind, das sie auf der Tour begleitet, stets als »mein Kind«:

»Wir nahmen, am Fuß des Berges angelangt, den asphaltierten Weg, ein Stückchen lang, und schlugen uns dann in die Büsche, die Abkürzung, ein Trampelpfad durch Dickicht und Sträucher, sehr steil aber kurz; wir gerieten außer Atem, worüber mein Kind froh war, weil es wusste, dass das zu einer Bergbesteigung dazu gehört.«

Eine ganz hervorragende Stelle, im Prinzip schon viel zu literarisch für den Approach des Literaturports, und ab hier beginnt »mein Kind« auch, zur literarischen Figur zu werden und der Text löst sich endgültig von seinem »Literatouren«-Kontext. Das gilt auch für den Fotografen, »eine Gestalt ganz nach meinen Wünschen, immer mit der Kamera vorm Auge und bereit zu sehen was ich sage«.

J. H. hat ihn also kurzerhand ins Figurenarsenal ihrer Geschichte reingenommen, und zwischen der Gelassenheit der Autorin und der Mentalität des motivsuchenden Fotografen gibt es ein interessantes Hin und Her:

»Schön, hatte der Fotograf gesagt. Ich hatte ihm am Telefon die Stationen des Spazierganges aufgezählt: Volkspark Prenzlauer Berg, den kannte er vom Hörensagen, Kleingarten Kolonie ›Grönland‹, dazu wollte er sich nicht äußern, Jüdischer Friedhof Weißensee, da sagte er: Schön!«

Das ist judith-hermann-haft knapp gefasst, gerahmt von diesem zweimaligen einverstandenen »Schön!«, ein schwer vertextbares Detail des Gesprächs sehr gut eingefangen, ohne weitere Worte ist alles klar, später wird das im Text noch mal aufgenommen:

»Der Fotograf hat mich nicht gefragt, warum gerade der Jüdische Friedhof Weißensee mit hinein soll in diesen Spaziergang, er hat Schön! gesagt und ich weiß, was er meint.«

Der Auftrag des Fotografen sah auch vor, ein Autorenfoto zu schießen:

»Es soll ja, sagt der Fotograf am Telefon, auch ein Foto gemacht werden. Das musste dir dann irgendwie aussuchen, das Foto, da sollst du drauf sein, wo willst du das machen.«

Man kann von J. H. nicht einfach so und ohne Umstände ein neues Autorenfoto machen! Das ist unmöglich: »ich stelle mich nicht auf den Berg vor die Aussicht nach Osten«. Im letzten Absatz geht es dann um dieses Paratext-Bewusstsein der Erzählerin, der Autorin, das ist ein sehr guter Schluss dieser Auftragsarbeit. Im Café Surprise soll es dann sein: »Ich setze mich ganz gerade hin und schaue mal am besten links aus dem Fenster.« Klick!

Darf man das lesen? (Teil 14):
Das D-Radio-Programmheft

Konstanz, 3. September 2008, 14:25 | von Marcuccio

Diesen Monat muss man das D-Radio-Programmheft sogar lesen, wenn man die ganze Wahrheit über uns Umblätterer erfahren will: »Ein guter Umblätterer ist ein Segen, ein schlechter ist ein Fluch«, heißt es im aktuellen September-Heft (S. 5). Und weiter:

»Die edle Kunst des Umblätterns beherrschen offenbar nicht viele. (…) Umblätterer bekommen keinen Applaus. Sie werden ignoriert, sind eigentlich nicht da. (…) Welche Fauxpas geschehen immer wieder? Und: Wie sehen Umblätterer-Karrieren aus? Die Musikszene gibt Einblick in eine unterschätzte Kunst.«

Die »Geschichten von Notenwendern und Blätterknechten« am kommenden Sonntag, 7. September, um 15:05 im Deutschland­funk …

Das D-Radio-Programmheft liest man also niemals nur aus den bekannten praktischen Gründen. Man muss es vor allem als monatliche Mythen-Beigabe lesen:

Zum Beispiel: Der Seewetterbericht

Wenn Jörg Kachelmann sich im Gastkommentar (# 8/2007) als Reformator des DLF-Wetterberichts bewirbt (Es »gäbe natürlich schon eine Welt jenseits des ›teils heiter, teils wolkig‹.«), dann denke ich: Wohl wahr, hehe, aber scheint ja nichts draus geworden zu sein … zum Glück für den (zumal am Binnengewässer) doch immer wieder gern gehörten, ominösen Seewetterbericht: »Östlich Fehmarn West bis Südwest 5 bis 6, Böen 7«. So geil.

Zum Beispiel: Die Mittagsfrau

Wenn Julia Franck auf der Promi-Seite des Programmhefts (# 12/2007) erklärt …

»Auch die Nachrichten sind meine Lieblingssendungen. Ihre Sprecher und Moderatoren kann ich größtenteils von den Stimmen her unterscheiden.«

… dann weiß ich, dass meine Favoritin auf jeden Fall die »Mittagsfrau« ist, die um 12 Uhr 50 immer die »Internationale Presseschau« spricht. Da wird »die Zeitung ›Die Welt‹« mit der gleichen öffentlich-rechtlichen Sorgfalt zitiert wie »Jyllands-Posten« oder der »New Zealand Herald«.

Zum Beispiel: Das Gesamtwerk

Hat eigentlich schon jemand gemerkt, dass das Deutschlandradio-Programmheft die Edition Suhrkamp unter den Rundfunk-Postillen ist? Man muss es nur lang genug abonnieren und archivieren, dann steht man irgendwann wie Siegfried Unseld vor seinem berühmten Spektral-Regal.

Deutschlandradio, Deutschlandfunk, Sammlung von Programmheften

Das schafft kein arte- und kein 3sat-Magazin. Und die kosten sogar noch extra, während das D-Radio-Heft, man sollte es eigentlich nur flüstern, immer noch für nichts als unsere Gebühren frei Haus geliefert wird. GEZ-Teilnehmer sollte man bei Abo-Abschluss freilich schon sein, es sei denn, man will sich gerade auf diese Art anmelden …