Archiv des Themenkreises ›Musikmusik‹


Turandot und die Sitznachbarin des Grauens

Hamburg, 13. Juli 2009, 08:10 | von Dique

Für den Kalaf mag es im Augenblick keine Stimme geben, aber ich gehe dennoch in die »Turandot«-Aufführung der Staatsoper. Nun komme ich kurz vor Beginn der Vorstellung in Loge 4, Reihe 2 an, und auf meinem Sitz liegt, trotz des sommerlichen Wetters, ein recht großer und leicht angeschmutzter Anorak und einer dieser wiederverwendbaren Supermarktstoffbeutel.

Widerwillig nimmt die daneben sitzende Dame ihre Sachen weg, knautscht den Anorak lieblos unter ihren Sitz und hantiert mit dem ebenfalls verschmutzten Beutel herum. Ich nehme ihn ihr ab und lehne ihn an die Wand neben den Sitzen.

Bei Vorstellungsbeginn nimmt die Dame neben mir selbstbewusst die Gemeinschaftsarmlehne des Sitzes in Anspruch. Ihr Ellbogen befindet sich so weit in meinem Sitzbereich, dass ich die Spitze konstant in meiner Seite spüre, obwohl ich mich so gut wie möglich nach außen drücke, denn glücklicherweise sitze ich am Rand und habe Raum, sitze aber äußerst unbequem.

Von jetzt an habe ich über die gesamte Vorstellungsdauer das Gefühl, dass mich ein Ellbogen, wenn auch nur leicht, an der Seite berührt, auch wenn ich deutlich sehe, dass es nicht so ist. Nach einer Weile kommt sie trotz der engen Sitze auf die Idee, ihre Beine übereinander zu schlagen, und berührt mit ihrem in der Luft hängenden Fuß auch noch mein Bein.

In der Pause heule ich mich bei San Andreas aus, wir hatten zu spät gebucht und keine zusammenhängenden Plätze mehr bekommen. Kurz vor dem zweiten Akt komme ich zurück, auf meinem Stuhl das alte Bild, der Anorak wird aber recht zügig entfernt. Den Beutel hat sie auf dem Schoß, darauf eine Keksbox, sie kaut noch, Krümel um den Mund, und bietet mir dann noch, die Keksdose reichend, einen ihrer an den Ecken schon stark zerbröselten Butterkipfel an.

Ich lehne höflich ab, stelle den Beutel wieder auf die Seite, und es geht einfach so weiter, Ellbogen, irgendwann gehen die Beine wieder übereinander und ich halb aus dem Stuhl und habe das Gefühl, dass es bereits viel zu spät ist, um noch irgendetwas dazu zu sagen und zu klären.

Nach der nächsten Pause kann ich mich dann gleich hinsetzen, mein Platz ist frei, der Beutel lehnt an der Wand. Eine Sekunde vor Beginn, das Licht wird gerade ausgeblendet, fragt sie jemanden, der hinter ihr sitzt und anscheinend zu ihr gehört: »War die mit dem weißen Kleid die Prinzessin, die heiraten soll?« Und sagt gleich hinterher: »Gestern habe ich Asterix und Obelix gesehen, da sind die auf einer Insel gestrandet, aber da war schon jemand.«

Im dritten Akt habe ich mich an meine Situation bereits sehr gut gewöhnt, es erscheint mir einfach normal, und ich genieße endlich in Ruhe das wunderbare Schauspiel auf der Bühne. Direkt als der Schlussapplaus einsetzt, fragt sie mich dann noch, ob es denn jetzt zu Ende sei. Ich bejahe, und sie fängt mit großer Begeisterung an zu klatschen.


Christa Wolf und Leo Perutz

Hamburg, 6. Juli 2009, 20:19 | von Dique

Vielleicht muss ich meine Meinung zu Christa Wolf ändern, denn neulich passierte mir Folgendes. Ich war in der Oper, Staatsoper, hier in Hamburg, allein. Ticket für einen billigen Platz (14 Euro), welcher mir als good value for money empfohlen wurde. Es gab die »Meistersinger von Nürnberg«.

Ich war noch nie so glänzend vorbereitet wie dieses Mal. Libretto einen Tag vorher gelesen und alle wichtigen Stellen vorgehört. Da die Inszenierung mit Pausen über 5 Stunden dauert, begann die Veranstaltung bereits 17 Uhr, und ich ging hinaus in die Gluthitze des Spätnachmittags, um meine Karte abzuholen.

Vor dem Kasseneingang stand ein Typ und wollte ein Ticket loswerden. Er sprach gerade Englisch mit zwei Damen, aber die wollten Karten für den nächsten Tag und benötigten sowieso auch zwei. Im Vorbeigehen hörte ich, dass er seine 67-Euro-Karte für 10 Euro anbot. Kurzentschlossen übernahm ich diese Karte und ließ mein Billigticket verfallen, denn die 67er war so ziemlich die höchste Preiskategorie, und ich saß damit Parkett, in der Mitte, weit vorn, wow.

Der Typ stellte sich als Österreicher heraus und saß dann auch neben mir. Er war mehr oder weniger wegen Wagner extra aus Wien angereist, sagte dann mit diesem herrlichen Wiener Akzent, dass er die »Meistersinger« seit über einem Jahr nicht mehr gehört habe, und »ich woihhht mir auch Hahhhmburg mal ansehhhhhn«.

Der Typ war selbst Hobbysänger und kannte sich auch sehr gut aus in Opernsachen. Außerdem schleppte er »Erniedrigte und Beleidigte« von Dostojewski mit sich herum.

In den Pausen immer wieder ein bisschen Klatsch und Tratsch aus der Opernwelt, ich versuchte meine Wissenslücken mit der Erwähnung von glücklichen Highlightbesuchen in Spitzenhäusern wie der Royal Opera und der Met auszugleichen, und der Typ wusste dann auch immer gleich, wer da welchen Part bei den entsprechenden Vorstellungen gesungen hatte. Ich erwähnte natürlich auch die beinahe unzähligen Besuche meiner Lieblingsoper »Turandot«, nur um zu hören (wieder mit wienerischer Betonung), »ja, für den Kahhlahhf gibt’s ja im Momeeennt gar keine Stiemmme«.

Wir sind dann nach der Oper noch essen gegangen und unterhielten uns über alles Mögliche, bis ich, wie immer, irgendwann Leo Perutz erwähnte, der ja auch irgendwie Wiener war, und irgend etwas passte jedenfalls und verleitete zu einem pindarischen Sprung. Ich beschrieb dann ungefähr, was Perutz gemacht hat – denn der Hobbysänger hatte noch nie von ihm gehört –, also, dass er häufig bei historischen Ereignissen im historisch wenig bis ungeklärten Raum Nebenrollen platzierte, und den Sänger erinnerte das doch tatsächlich an: Christa Wolf. »So wie Christa Wolf in Medea«, sagte er.

Christa Wolf und Leo Perutz, was für eine Combo. Aber »Medea« werde ich nun mal lesen müssen, der Rest von C. Wolf gefiel dem Herrn Sänger auch nicht so richtig.


Pierre Boulez spricht

Paris, 25. Juni 2009, 11:40 | von Austin

Sonntag. 20.20 Uhr. Warten im Cour Napoléon. Fête de la musique. Um 21.15 Uhr ist Einlass für das Konzert sous la pyramide du Louvre: Pierre Boulez und das Orchestre de Paris. Vor uns eine lange Schlange. Hinter uns eine immer länger werdende Schlange.

Vor uns zwei Pariserinnen, Amt für Statistik & Marketing bei L’Oréal, wollen unbedingt zu Buläh. Hinter uns zwei Kolumbianerinnen, wollen unbedingt zu Buläs.

sous la pyramide

22.00 Uhr. Angeblich sitzen jetzt 2.000 Menschen auf dem Marmorbo­den des Auditorium du Louvre. Über uns der Richelieu-Flügel. Über uns die Pyramide. An ihren Scheiben die, die nicht reingekommen sind. Würden sie durchbrechen, würden sie auf den Schlagwerker des Orchesters fallen.

Und tatsächlich erscheint vor uns der große alte Mann der europäi­schen Musik und dirigiert: Strawinskis »Feuervogel«. Irre präzis, fabelhaft trocken, ohne jeden billigen Effekt.

Nach dem Konzert Jubel. Pierre Boulez scheint dem Publikum etwas sagen zu wollen. Er spricht. Was er sagt, geht unter in der Begeis­terung.

Am Nachmittag schon in einer anderen Schlange gewesen: im Musée Jacquemart-André, das im Baedeker einen ganzen Stern abbekom­men hat. Vermutlich vergeben für einen großartigen Rembrandt und eine schöne Orangen-Tarte im Museumscafé.

Ansonsten beantwortet dieses Museum vor allem die Frage, wie Tadzio, sollte er die venezianische Seuche überstanden haben, seinen Lebensabend gestaltet haben könnte. In diesem Haus hätte Tinto Brass Pornos drehen sollen, selbst der Staub scheint hier historisch zu sein, und hinter jeder Ecke erwartet man Siegfried und Roy.

Nichtsdestotrotz kommen wir rechtzeitig zum letzten Tag der Ausstel­lung italienischer Maler des Trecento, ausgeliehen aus einem Museum in »Altenbourg«, einer laut Informationstext »kleinen Stadt bei Dresden«.

Und die Leute drängen sich in den kleinen Räumen, um das Lebens­werk des Herren Lindenau zu sehen. Und wahrscheinlich sind es in diesem Moment, in dieser Stunde mehr Menschen, als in Altenburg in einem ganzen Jahr.

Passend zum Pariser Mittsommernachtstreffen des Umblätterers gibt es eine Frankreich-FAS, darin ganzseitige Artikel zu Julie Delpy (Interview) und Michel Foucault (kein Interview). Die Lektüre am Erscheinungstag wird aber durch oben genannte Ereignisse mehrfach vereitelt.

Usw.


Im Halbschlaf

London, 1. Februar 2009, 13:21 | von Dique

London Symphony Orchestra, »Death and Transfiguration« von Richard Strauss, dirigiert von dem schweren und etwas bärigen Leif Segerstam, der mit seinem langen weißen Bart an die vielen Darwin-Poster erinnert, welche im Darwin-Jahr die Stadt schmücken.

Strauss schrieb dieses über den Tod sinnierende Stück in jungen Jahren, doch als er dann im hohen Alter von 85 im Sterben lag, sagte er zu seiner Schwiegertochter, dass sich der nun kommende Tod genauso anfühle, wie er ihn damals in »Tod und Verklärung« beschrieben hatte.

Das erinnert mich an die Prequiems von David Woodard, die den jeweiligen Sterbenden angemessen hinüber auf die andere Seite begleiten sollen. Wie man in einem Interview mit ihm lesen kann, entwirft er dazu auch fantastisch-gesamtkonzeptige Aufführungs­visionen.

Irgendwie könnte man Strauss‘ »Tod und Verklärung« als eine Art unbewusst geschriebenes persönliches Prequiem verstehen, auch wenn es im Vergleich zu Woodards Ideen sicher deutlich weniger malerisch daherkommt, und sicher ist das auch ein bisschen sehr weit hergeholt.

Jedenfalls fängt der Abend mahlerisch, hehe, an, mit dem Adagio aus Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie. Ganze 9 hat er vollendet, und das liegt ja zumindest quantitativ im guten komponistischen Mittelfeld, aber an so was denke ich natürlich nicht. Erst als ich im Programmheft lese, dass Leif Segerstam ganze 215(!) Sinfonien komponierte, denke ich daran und ich frage mich, ob jemals alle wenigstens einmal irgend­wann gespielt werden oder gar schon wurden?

Und als ich mir Segerstam noch mal ansehe und an diese ungewöhnlich hohe Sinfonienanzahl denke, fällt mir meine morgendliche Lektüre beim Schweinsohr im Lisboa ein, »The Picture in the House« von HPL. Ein Mann betritt irgendwo in der Einsamkeit, bei einer Radtour, ein einsames Haus, welches ungeheuerlich altmodisch eingerichtet ist, wie aus einer anderen Zeit, aber sehr bescheiden:

»Most of the houses in this region I had found rich in relics of the past, but here the antiquity was curiously complete; for in all the room I could not discover a single article of definitely post revolutionary date. Had the furnishings been less humble, the place would have been a collector’s paradise.«

Im Regal entdeckt er dann aber ein paar recht antiquarisch-wertvolle Bücher, die nicht so recht zum Rest des Hauses passen wollen. Um hier nicht in die Tiefe zu gehen, schlussendlich hat das Haus doch noch einen Besitzer, der dann auch noch, wie man über Winkelzüge und Andeutungen erfährt, sein Leben sehr stark durch den Konsum von Menschenfleisch verlängern konnte, wie schaurig.

Jedenfalls sehe ich Segerstam nun in anderem Licht. Wenn er auch über 200 Jahre alt wäre, dann wäre die Zahl seiner Sinfonien schon weniger beeindruckend, ich denke daran, weil er physisch an den Alten in der HPL-Story erinnert, aber ich verwerfe diesen Gedanken schnell, denn die Konsequenz wäre ja selbst als Vermutung viel zu grausig, zumal Leif Segerstam ungeheuer gütlich und gemütlich erscheint, besonders, wenn er beim Applaus seine Arme ganz weit aufblättert, ganz so wie der vitruvianische Mann von Leonardo.

Aber diese Gedanken habe ich auch, weil ich mich gerade in einer Art leichten Müdigkeitsdeliriums befinde, in so einem halbwachen Zustand, in welchem sich Traum und Wirklichkeit fließend annähern. Und es geht weiter, im Anschluss an Mahlers Adagio gibt es nämlich noch vier Lieder von Strauss (Four Last Songs), gesungen von Christine Brewer.

Sie trägt einen kupferfarbenen Mantel mit dunklen Zeichen darauf und ist eine sehr voluminöse Erscheinung mit recht großer blonder Frisur und in meinen zufallenden Augen ähnelt sie plötzlich dem babylonischen König Belshazzar, so wie ihn Rembrandt in einem seiner berühmtesten Gemälde darstellte. Das kommt mir wohl in den Sinn, weil ich am Morgen in der Babylon-Ausstellung im British Museum war.

Dort widmet man eine ganze Ecke dieser Geschichte und dort wird, wenn auch nur in Form einer Farbfotografie, auf das Rembrandt-Bild verwiesen. Belshazzar im güldenen Mantel, erschrocken auf die Zeichen an der Wand (»The writing is on the wall!«) deutend.

Daneben hängt dann, im Original und in all seiner Pracht, John Martins »Belshazzar’s Feast«, auch hier is the writing on the wall, wenn auch weiter weg, am Ende des Prachtsaals. Und ganz im Hintergrund, im Dunkel, der Turm zu Babel, im kegelförmigen Bruegel-Style.

Brian Sewell ist von Martins Arbeit in Öl nicht so besonders angetan, er nennt das Werk in seinem Babylon-Review eine »crude and ugly illustration«, aber dem muss man ja nicht folgen. Ich versuche jedenfalls meine crude and ugly Halbschlaf­assoziationen loszuwerden, auch wenn das nur durch einen kurzen Moment des Schlafs gelingt. Im zweiten Teil, nach der Pause, bin ich endlich wieder fit für »Death and Transfiguration«, meiner Hauptmotivation für den heutigen Besuch.


Im Gewandhaus:
Tschaikowski und das Programmheft

Leipzig, 20. Januar 2009, 10:45 | von Niwoabyl

Letzten Donnerstag. Um 19:50 Uhr stand ich noch mit Paco an der Bar im »Cantona«. Aber schon 10 Minuten später saß ich im Gewandhaus beim: »GROSSEN CONCERT«.

Zuerst gab es Alfred Schnittke (absoluter Lieblings-Komponist der Gegenwart), dann ein bisschen Mozart zum Atemschöpfen. Und dann die herrlich schwülstige 6. Sinfonie des Tschaikowski, die sog. »Pathétique« (jaja, russischer Gallico-Chic pur). Also auf Raffinement wird spätestens dann beinahe gänzlich verzichtet, aber bitte, SO EIN SOUND!!!

Also, Konzert: grandios, Dirigent: toll bis eigenwillig, Pianist: überraschend bis diskutabel. Der eigentliche Star aber war, wie so oft: das Programmheft.

Als Beleg erinnere ich zunächst noch mal an das famose Programmheft, das die Dramaturgie der Leipziger Oper anlässlich der Premiere des skandalumwitterten »Fliegenden Holländers« zusammengebastelt hatte. Mit Auszügen aus Wagners revolutionären Jugendschriften, aus einem Buch über das Thema ›Zombies im unabhängigen amerikanischen Film‹, aus Cees Nootebooms »Ritualen«, und, und, und aus Michel Houellebecqs »Ausweitung der Kampfzone«. Super. Und noch ein bisschen Adorno dazu, hehehe.

Und auch in der gestrigen Aushändigung zum Konzert standen 17 ganz, ganz kleine Zeilen, die ich auf Anhieb als feuilletonistische Großtat betrachtete.

Nun hat es freilich mit Konzertheften eine andere Bewandtnis. Da wird in der Regel nicht zitiert, sondern ausführlich erklärt, in altbackener Konzertführer-Manier. Wenn die Oper also schon lange die Moderne akzeptiert, zum Teil begeistert aufgenommen zu haben scheint, bleibt man schließlich im Konzert beim Alten und Bewährten, um allen Bildungsbürgern noch zu ermöglichen, sich nach Herzenslust daran zu erbauen.

Und wenn es gilt, einen so saftigen Schinken wie Tschaikowskis 6. Sinfonie h-moll (»Pathétique«) zu erläutern, lässt man es sich ungern nehmen, ein bisschen ins Biografische hineinzuspielen.

Im Gewandhausprogrammheft werden wir also in aller Ausführlichkeit an die düsteren Umstände erinnert, die den Tod des prominenten russischen Herz-Schmerz-Komponisten umgeben. Schließlich handelt es sich ja um sein letztes Werk. Also, vielleicht ist er an Cholera gestorben, vielleicht hat er aber das infizierte Wasser absichtlich getrunken, und vielleicht, ja vielleicht ist es nicht mal ein richtiger Freitod gewesen, nein, der arme Pjotr wurde möglicherweise durch ein geheimes Ehrengericht zum Selbstmord verurteilt. Und hat dann eventuell Arsen genommen.

Nach einer vollen Seite düsterer Spurensuche in bester Thriller-Tradition (siehe Klaus Manns Tschaikowski-Roman) neigt sich aber die Pause ihrem Ende zu. Schon erklingen die Trompeten. Schnell zum Schluss kommen! Sonst beginnt uns noch die Musik vor Abschluss der Lektüre. Also, schnell zum Wesentlichen (Seite 13!):

»Wie es zu Ts plötzlichem Tod kam, wird wahrscheinlich niemals eindeutig geklärt werden können. Wenn diese Frage auch im Zusammenhang mit der ›Symphonie pathétique‹ immer wieder auftaucht, …«

Na ja, ein bisschen selbstreflexiv zu sein schadet ja nicht.

»… so hat sie doch letztlich für die Musik nur eine untergeordnete Bedeutung.«

Aber, aber, das ist ja verstörend! Das hätten Sie vielleicht früher sagen sollen! Was hat denn eine größere Bedeutung? Es bleibt spannend …

»Viel mehr als die Todesumstände sollte man über die Lebenstragödie …«

Das war’s also! Die Lebenstragödie! Mensch, das war knapp!

»… dieses äußerlich so erfolgreichen, …«

Ha, ha! »Äußerlich«! Wiederum Spannung pur! Und innerlich, bitte, innerlich?

»… aber zu innerer Einsamkeit verurteilten Mannes nachdenken, der so viel Liebe zu geben hatte und immer in Todesnähe lebte.«

Bum! Wir hofften es beinahe nicht mehr, schließlich ist sie da, die große Erschütterung. Liebe und Einsamkeit. Großartig.

»Aus der Tragödie seines Lebens …«

Lebenstragödie/Tragödie seines Lebens. Beinahe als möchte die Rezensentin ihren so gepeinigten russischen Liebling für Brahms‘ indiskutablen Vorsprung in puncto Variationstechnik rächen …

»… ist diese Musik hervorgegangen, die bis heute die Menschen so unendlich …«

Wieso unendlich? Es wurden doch nur 45 Minuten angekündigt … Ah, verstehe, vielleicht kommt noch was Abstraktes!

»… zu bereichern vermag.«

BEREICHERN! Auf einmal entdecken wir im Nachhinein, wie kunstvoll der ganze Unsinn arrangiert wurde. Von der glatten Wissenschaft­lichkeit (nie geklärt) über die entfesselte Leidenschaft (soviel Liebe hatte er zu geben! Ach!) zur Erlösung durch die Kunst, wohlgemerkt QUANTITATIV erfasst. Da ist unter der harmlosen Fassade des Salon-Gequatsches wahrlich der Teufel los.

Usw.


Erinnerungen: Richard Wright

Hamburg, 10. Oktober 2008, 13:50 | von San Andreas

Eine Floyd-Platte wollte mir der Schönling aus der Parallelklasse verkaufen, aber er wusste ihren Titel nicht. »Ein Stück ist da drauf, irgendwas mit ’nem Kobold …« Hmm, das konnte nur »The Piper at the Gates of Dawn« sein, und ich schlug ein; die hatte ich noch nicht auf CD. Das Stück, das er meinte, hieß »The Gnome«, und mir war klar, wieso er die Scheibe loswerden wollte. Die frühen Floyd gehen zunächst nicht besonders glatt ins Ohr.

Dabei ist diese erste Phase so wichtig, um den tiefen Eindruck zu verstehen, den die »Jahrhundertband Pink Floyd« in der Musikgeschichte hinterlassen hat. Vor mehr als vierzig Jahren, als die Legende sich im pulsierenden Londoner Untergrund zu formen begann und aufregend neue, psychedelische, progressive Blüten hervorbrachte, prägte ein Mann das musikalische Gesicht der Band, dessen eigenes vielen unbekannt bleiben sollte: Richard Wright.

Nachts um eins kam die SMS von Todd aus San Francisco. Ich musste sie mehrmals lesen, bevor ich ihren Inhalt begriff: »pink floyd keyboards wright passes.«

Unerwartet traf vor drei Wochen die Nachricht vom Tod des Keyboarders ein, doch wie man jüngst erfuhr, hatte Wright schon einen Monat vorher den Kampf gegen den Krebs aufgegeben und sich von seinen engsten Freunden verabschiedet. Seine Errungenschaften wirken fort – unaufdringlich wie sein Charakter, vielgestaltig und von sublimer Raffinesse.

Wright war nie ein kultiger Tastenzauberer vom Schlage eines Rick Wakeman gewesen, nie ein verrückter Keyboardschrubber wie Keith Emerson. Inspirationen suchte er im Jazz, aber die Wurzeln seines Könnens lagen weder dort noch im Rock, sie lagen nirgendwo. Wie den Rest der Band trieb ihn das Fehlen irgendeiner Nischen-Kompetenz dazu, neuartige Texturen zu erforschen, Klangvisionen ohne die Einschränkung althergebrachter Schablonen in Musik zu verwandeln. Eine Musik, die ehrlicher und überzeugender ausfiel als die ewig plagiierenden Ergüsse vieler Zeitgenossen.

Wrights einfache, doch bestechende Akkorde verströmen eine seltsame Art von Pathos – eine, die nicht stört. Seine sphärischen Soundscapes, seine verspielten Einsprengsel, sein gesamter kompositorischer Input hatten einen Anteil an der Musik von Pink Floyd, der lange Zeit unterschätzt wurde. Das schreibt auch David Gilmour in seinem Nachruf; eine Platte wie »Dark Side of the Moon« wäre ohne Richard Wright kaum zu der Institution geworden, die sie ist.

Wrights Spiel beherrscht darüber weite Teile von »Shine on you Crazy Diamond«, dem Titel, der in der Oktober-Ausgabe von »UNCUT« die Ehre des ›Greatest Pink Floyd Songs‹ zugesprochen bekam – völlig zu Recht. Das Schluss-Segment des Stücks ist Wright pur – es sollte bis 1994 seine letzte Komposition für die Band bleiben.

Während der Aufnahmen zu »The Wall« nämlich ekelte Roger Waters den Keyboarder aus der Band. Der packte vergnatzt seine Koffer und genoss die mittleren Jahre seines Lebens segelnderweise auf dem Mittelmeer – bis Waters selbst Pink Floyd im Streit verließ. Wright kehrte langsam aber sicher in den Schoß der Band zurück; auf »The Division Bell« haute er wieder voll in die Tasten – für das Instrumental »Marooned« gab’s einen Grammy, sein Stück »Wearing the Inside out«, bei dem er auch singt, bildet einen emotionalen Fixpunkt mit typisch Wright’scher, schwelgerischer Schwere.

Von den ersten Gigs vor langhaarigen Studenten in brodelnden Londoner Clubs bis zu den gigantischen Bühnenshows der späteren Jahre – Richard spielte auf sämtlichen Tourneen der Band. Gleichwohl schlug er nach dem Ausklang des Floyd-Daseins das Angebot Waters‘ aus, auf dessen Solo-Tour die Tasten zu bedienen. Wer mag es ihm verdenken.

Waters für seinen Teil bewies aber Stil und Größe, als er nach Wrights Ableben seine komplette Homepage zugunsten eines persönlichen Nachrufs frei räumte. Die kurze Wiedervereinigung der Band (nach 24 Jahren) im Zuge von Live 8 hatte offenbar alte Wunden gekittet – und zudem Wrights Spielfreude so weit angefacht, dass er mit Gilmour auf Tour ging.

»And on the keyboards … Mister Richard Wright«, sagte Gilmour, und die gesamte Royal Albert Hall erhob sich von den Plätzen. Tosender Beifall. Ich sah den grauhaarigen Mann in seiner Keyboardburg aufstehen und seine Hand in einer Dankesgeste heben. Dann setzte er sich wieder. Der Beifall hielt an.

Die Ovationen auf den Konzerten der letzten Jahre waren dem Keyboarder eher peinlich. Heimliche Genugtuung mag er empfunden haben, als gelegentlich seine Komposition »Breakthrough« zur Aufführung kam. Wrights Soloplatten waren von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt geblieben, obwohl sich darauf echte Perlen befinden. Man höre sich nur das phänomenale »Night of a Thousand Furry Toys« an – ein warmer, hypnotischer Groove, fast floydiger als Floyd.

Sein Meisterstück aber bleibt der wohl erhebendste Song über den Tod, der je komponiert wurde, jener musikgewordene Malstrom der Emotionen, der in frühen Live-Versionen noch »The Mortality Sequence« hieß. Ohne Text, und doch mit Gesang, schraubt sich das Stück in orgiastische Höhen, um dann in süßer Melancholie seinem Ende entgegenzutaumeln. Der perfekte Titel für Richard Wrights letzten Auftritt – »The Great Gig in the Sky«.


Pocahontas was her name

London, 24. September 2008, 23:08 | von Dique

Gestern in Gravesend, Kent. Und im Zug geht es mir durch den Kopf:

On Gravesend’s shores lie the bones of an Indian squaw …

Das ist der Anfang eines Stücks von Thee Headcoats, einer Band von Billy Childish, welches ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört habe. »Pokerhuntus was her name« heißt der Song, und, wie man sich denken kann, geht es um Pocahontas.

In 1595 at the dawn of the white invasion
That girl child was born in the heart of the Powhatan nation
Pokerhuntus was her name, daughter of the Chief Powhatan

Ihre Gebeine liegen nicht mehr in Gravesend, denn bei einem Kirchenumbau wurde das Grab des Mädchens, welches zum Zeitpunkt ihres Todes Rebecca Rolfe hieß, zerstört.

Auf der Website der Powhatan-Indianer schreibt Chief Roy Crazy Horse, dass sie eigentlich Matoaka hieß, Pocahontas war nur ein Spitzname. Sein kurzer Text über die berühmteste Tochter der Powhatans ist eine Reaktion auf den verklärenden Disneyfilm, der ihren Namen trägt. Ich habe ihn nicht gesehen.

Aber ich habe »The New World« von Terrence Malick gesehen, und ich frage mich, ob Crazy Horse darüber ein milderes Urteil fällen würde.

Nun stehe ich vor der Pocahontas-Statue in Gravesend, und wie ich lese, ist das eine Kopie des Originals von William Partridge, welches seit 1922 in Jamestown, Virginia, steht. Ich habe immer noch keinen iPod, erinnere mich aber an einige weitere Zeilen.

In the contract of peace a marriage was agreed
She sailed with her husband from the bay of Chesapeake
And with tears in her eyes she couldn’t bring herself to speak

Pocahontas starb 1617 in Gravesend, kurz nach dem Aufbruch zu ihrer Rückreise nach Virginia. Im gleichen Jahr steckte ein anderes Mädchen Tangermünde in Brand, schreibt jedenfalls Fontane in seiner Novelle »Grete Minde«. Usw.


Auf den Spuren von Rami Fortis:
Leipzig — Barcelona

Girona, 26. Juli 2008, 18:12 | von Paco

Ryanair fliegt ja von Nobitz aus (nahe der Ingo-Schulze-Stadt Altenburg, also »bei« Leipzig) seit neuestem auch nach Barcelona. Und ich bin gerade in Girona, also »bei« Barcelona, angekommen und schieße über das erstbeste WLAN diesen Text hier ins Web.

Von Leipzig nach Barcelona trieb es (allerdings schon in den 80er-Jahren) auch Rami Fortis mit seiner damaligen Band Minimal Compact. Deren Europatour fand vor dem Fall of the Wall statt, als zwischen den beiden genannten Städten noch der Eiserne Vorhang zugezogen war.

Deshalb staunte ich nicht schlecht, als ich vor Zeiten einmal über einen Fortis-Song namens »Leipzig, Barcelona« (»לייפציג ברצלונה«) stolperte, der auf dem 1988er Album »Tales from the Box« (»סיפורים מהקופסא«) erschienen war.

(Ich habe den hebräischen Liedtext kurz mal für hebrewsongs.com transliteriert und rohübersetzt – hier –, allerdings nur ins Englische, da es auf Deutsch nicht wirklich nach irgendetwas klang. Originaltext ist hier.)

Leipzig war also schon vor den überquellenden Montagsdemonstrationen in der israelischen Rockmusik verortet, und das ist doch mal bemerkenswert. Europa vor der Wende scheint jedenfalls dunkel gewesen zu sein, sehr dunkel:

On the way between Leipzig and Barcelona,
The long black lane, and rain covers the picture,
Mustard bushes dazzle, no air to breathe,
We count the hours and await the rising of the sun,
The end of the tunnel.

Die Düsternis dieser Zeilen entspricht offenbar der Düsternis der 80er und der des geteilten Kontinents. Wenn Fortis den Song auf Konzerten brachte, meinte er übrigens manchmal, dass er missverstanden worden sei und die Tour eigentlich umgekehrt, von Barcelona nach Leipzig verlief, wie auch immer, das ist auf jeden Fall eine gute Anekdote.

Der Refrain geht ungefähr so:

You are broken, for a short while,
And you pull yourself together again
When the guitar saws through the night.

Ich bin auch broken (נשבר), weil ich zu den Druckluftschwankungen im Ryanairflieger den aktuellen »Spiegel« komplett zuende gelesen habe. Ich war ja gewarnt worden, aber ich musste das jetzt machen, schließlich hab ich noch genug andere Sachen zum fertiglesen. Zu Recht schwirrt mir jetzt der Kopf.

(Übrigens hat Ryanair die Strecke Altenburg–Girona, i. e. Leipzig–Barcelona, vor 2 Wochen komplett aus dem Winterflugplan gestrichen.)


Feuilleton und Pornografie (Teil 6):
Jens Friebe über Porn-Surfing

Leipzig, 24. Juli 2008, 18:06 | von Paco

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Motto: »You were born a human being (…) that gets to download porn off the internet, so really, you have everything to live for!«
(Anton Yelchin als »Charlie Bartlett«, 2007)
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Jens Friebe ist der Paul Celan der deutschen Popmusik, deshalb ist bei jeder Deutung Vorsicht geboten. Der Song »Gespenster«, der Opener des Debütalbums »Vorher Nachher Bilder« (2004), lässt sich allerdings nicht wirklich missverstehen. Er beschreibt sehr realistisch den Alltag eines Porn-Surfers:

Hochfahrn und dann auf ›Verbinden‹
›Welcome‹ – Willkommen an Bord
Die Maschine wird es finden
Ein dreckiges Wort

Ok, Windows/Linux/Mac OS ist fertig geladen, der Browser läuft, die Suchmaschine ist bereit:

Denk dir irgendeine Farbe
Wünsch dir irgendeine Zahl
›19-year-old redhead‹
Das ist deine Wahl

Ok, verstanden, der Suchterm ist eingegeben, man landet auf der Porn-Seite und …

(Refrain:)
Und du verliebst dich in Gespenster (4x)

Der absolute Clou des Songs! Die Bezeichnung der digitalen Nackte-Haut-Träger als ›Gespenster‹! Ein schönes Bild, das sofort einleuchtet.

Diese superbe lyrische Sublimierung des Themas hat noch weitere Strophen, die unter anderem vom »Back«-Button des Browsers handeln. Der komplette Text ist auf der Friebe-Homepage zu finden (eine Hörprobe auch).


Der »Baukasten-Tito« an der Leipziger Oper

Leipzig, 14. Februar 2008, 08:01 | von Austin

Erinnert sich noch jemand an die »Fraggles«? Da gab es die Doozer, diese kleinen Bauarbeiterwichte, die manisch Plexiglasstäbe verbaut haben, die dann die Fraggles ihrerseits aßen wie Salzstangen. Es hat sich jetzt die Frage geklärt, was die Doozer die letzten Jahre getrieben haben, als sie nicht mehr im Fernsehen mitspielen durften: Sie haben die Plexiglaskonstruktion für Mozarts »Clemenza di Tito« in Leipzig fabriziert.

La clemenza di Tito/Titus, Oper Leipzig

Sie hatten Zeit. Und sie haben immer noch sehr viel Energie. Also haben sie sehr, sehr groß gebaut. Ein wackliges Haus leider, aber dafür ein Haus mit mehreren Etagen. Und so verstellt nun ein unbespielbares Monstrum die Bühne, mit dem niemand so richtig etwas anzufangen weiß.

So dass ersatzweise im Laufe des Abends, der als »Baukasten-Tito« Furore machen könnte, noch mehrere dieser setzkastenartigen Elemente vorgefahren werden. Das muss dann reichen an Action, denn ansonsten passiert nicht viel im 1. Akt. Szenisch nicht, und musikalisch leider auch nicht. Vitellia stolpert über ihr Kostüm, der Rest wirkt seltsam spannungslos.

Im 2. Akt dann Besserung bei allen Beteiligten. Das Gewandhaus hat über die Pause einen Sound gefunden, Kathrin »Sesto« Göring kriegt ihre Rolle respektabel in den Griff, zwei bis drei Ideen der Regie sorgen kurzzeitig für so etwas wie Atmosphäre auf der Szene.

Im Foyer sagt niemand etwas Despektierliches. In der Straßenbahn sitzt Herr Klotzy aus dem zweiten Stock. Versuche, ihn nicht zu sehen.