Im Halbschlaf

London, 1. Februar 2009, 13:21 | von Dique

London Symphony Orchestra, »Death and Transfiguration« von Richard Strauss, dirigiert von dem schweren und etwas bärigen Leif Segerstam, der mit seinem langen weißen Bart an die vielen Darwin-Poster erinnert, welche im Darwin-Jahr die Stadt schmücken.

Strauss schrieb dieses über den Tod sinnierende Stück in jungen Jahren, doch als er dann im hohen Alter von 85 im Sterben lag, sagte er zu seiner Schwiegertochter, dass sich der nun kommende Tod genauso anfühle, wie er ihn damals in »Tod und Verklärung« beschrieben hatte.

Das erinnert mich an die Prequiems von David Woodard, die den jeweiligen Sterbenden angemessen hinüber auf die andere Seite begleiten sollen. Wie man in einem Interview mit ihm lesen kann, entwirft er dazu auch fantastisch-gesamtkonzeptige Aufführungs­visionen.

Irgendwie könnte man Strauss‘ »Tod und Verklärung« als eine Art unbewusst geschriebenes persönliches Prequiem verstehen, auch wenn es im Vergleich zu Woodards Ideen sicher deutlich weniger malerisch daherkommt, und sicher ist das auch ein bisschen sehr weit hergeholt.

Jedenfalls fängt der Abend mahlerisch, hehe, an, mit dem Adagio aus Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie. Ganze 9 hat er vollendet, und das liegt ja zumindest quantitativ im guten komponistischen Mittelfeld, aber an so was denke ich natürlich nicht. Erst als ich im Programmheft lese, dass Leif Segerstam ganze 215(!) Sinfonien komponierte, denke ich daran und ich frage mich, ob jemals alle wenigstens einmal irgend­wann gespielt werden oder gar schon wurden?

Und als ich mir Segerstam noch mal ansehe und an diese ungewöhnlich hohe Sinfonienanzahl denke, fällt mir meine morgendliche Lektüre beim Schweinsohr im Lisboa ein, »The Picture in the House« von HPL. Ein Mann betritt irgendwo in der Einsamkeit, bei einer Radtour, ein einsames Haus, welches ungeheuerlich altmodisch eingerichtet ist, wie aus einer anderen Zeit, aber sehr bescheiden:

»Most of the houses in this region I had found rich in relics of the past, but here the antiquity was curiously complete; for in all the room I could not discover a single article of definitely post revolutionary date. Had the furnishings been less humble, the place would have been a collector’s paradise.«

Im Regal entdeckt er dann aber ein paar recht antiquarisch-wertvolle Bücher, die nicht so recht zum Rest des Hauses passen wollen. Um hier nicht in die Tiefe zu gehen, schlussendlich hat das Haus doch noch einen Besitzer, der dann auch noch, wie man über Winkelzüge und Andeutungen erfährt, sein Leben sehr stark durch den Konsum von Menschenfleisch verlängern konnte, wie schaurig.

Jedenfalls sehe ich Segerstam nun in anderem Licht. Wenn er auch über 200 Jahre alt wäre, dann wäre die Zahl seiner Sinfonien schon weniger beeindruckend, ich denke daran, weil er physisch an den Alten in der HPL-Story erinnert, aber ich verwerfe diesen Gedanken schnell, denn die Konsequenz wäre ja selbst als Vermutung viel zu grausig, zumal Leif Segerstam ungeheuer gütlich und gemütlich erscheint, besonders, wenn er beim Applaus seine Arme ganz weit aufblättert, ganz so wie der vitruvianische Mann von Leonardo.

Aber diese Gedanken habe ich auch, weil ich mich gerade in einer Art leichten Müdigkeitsdeliriums befinde, in so einem halbwachen Zustand, in welchem sich Traum und Wirklichkeit fließend annähern. Und es geht weiter, im Anschluss an Mahlers Adagio gibt es nämlich noch vier Lieder von Strauss (Four Last Songs), gesungen von Christine Brewer.

Sie trägt einen kupferfarbenen Mantel mit dunklen Zeichen darauf und ist eine sehr voluminöse Erscheinung mit recht großer blonder Frisur und in meinen zufallenden Augen ähnelt sie plötzlich dem babylonischen König Belshazzar, so wie ihn Rembrandt in einem seiner berühmtesten Gemälde darstellte. Das kommt mir wohl in den Sinn, weil ich am Morgen in der Babylon-Ausstellung im British Museum war.

Dort widmet man eine ganze Ecke dieser Geschichte und dort wird, wenn auch nur in Form einer Farbfotografie, auf das Rembrandt-Bild verwiesen. Belshazzar im güldenen Mantel, erschrocken auf die Zeichen an der Wand (»The writing is on the wall!«) deutend.

Daneben hängt dann, im Original und in all seiner Pracht, John Martins »Belshazzar’s Feast«, auch hier is the writing on the wall, wenn auch weiter weg, am Ende des Prachtsaals. Und ganz im Hintergrund, im Dunkel, der Turm zu Babel, im kegelförmigen Bruegel-Style.

Brian Sewell ist von Martins Arbeit in Öl nicht so besonders angetan, er nennt das Werk in seinem Babylon-Review eine »crude and ugly illustration«, aber dem muss man ja nicht folgen. Ich versuche jedenfalls meine crude and ugly Halbschlaf­assoziationen loszuwerden, auch wenn das nur durch einen kurzen Moment des Schlafs gelingt. Im zweiten Teil, nach der Pause, bin ich endlich wieder fit für »Death and Transfiguration«, meiner Hauptmotivation für den heutigen Besuch.

Einen Kommentar schreiben