Im Gewandhaus:
Tschaikowski und das Programmheft

Leipzig, 20. Januar 2009, 10:45 | von Niwoabyl

Letzten Donnerstag. Um 19:50 Uhr stand ich noch mit Paco an der Bar im »Cantona«. Aber schon 10 Minuten später saß ich im Gewandhaus beim: »GROSSEN CONCERT«.

Zuerst gab es Alfred Schnittke (absoluter Lieblings-Komponist der Gegenwart), dann ein bisschen Mozart zum Atemschöpfen. Und dann die herrlich schwülstige 6. Sinfonie des Tschaikowski, die sog. »Pathétique« (jaja, russischer Gallico-Chic pur). Also auf Raffinement wird spätestens dann beinahe gänzlich verzichtet, aber bitte, SO EIN SOUND!!!

Also, Konzert: grandios, Dirigent: toll bis eigenwillig, Pianist: überraschend bis diskutabel. Der eigentliche Star aber war, wie so oft: das Programmheft.

Als Beleg erinnere ich zunächst noch mal an das famose Programmheft, das die Dramaturgie der Leipziger Oper anlässlich der Premiere des skandalumwitterten »Fliegenden Holländers« zusammengebastelt hatte. Mit Auszügen aus Wagners revolutionären Jugendschriften, aus einem Buch über das Thema ›Zombies im unabhängigen amerikanischen Film‹, aus Cees Nootebooms »Ritualen«, und, und, und aus Michel Houellebecqs »Ausweitung der Kampfzone«. Super. Und noch ein bisschen Adorno dazu, hehehe.

Und auch in der gestrigen Aushändigung zum Konzert standen 17 ganz, ganz kleine Zeilen, die ich auf Anhieb als feuilletonistische Großtat betrachtete.

Nun hat es freilich mit Konzertheften eine andere Bewandtnis. Da wird in der Regel nicht zitiert, sondern ausführlich erklärt, in altbackener Konzertführer-Manier. Wenn die Oper also schon lange die Moderne akzeptiert, zum Teil begeistert aufgenommen zu haben scheint, bleibt man schließlich im Konzert beim Alten und Bewährten, um allen Bildungsbürgern noch zu ermöglichen, sich nach Herzenslust daran zu erbauen.

Und wenn es gilt, einen so saftigen Schinken wie Tschaikowskis 6. Sinfonie h-moll (»Pathétique«) zu erläutern, lässt man es sich ungern nehmen, ein bisschen ins Biografische hineinzuspielen.

Im Gewandhausprogrammheft werden wir also in aller Ausführlichkeit an die düsteren Umstände erinnert, die den Tod des prominenten russischen Herz-Schmerz-Komponisten umgeben. Schließlich handelt es sich ja um sein letztes Werk. Also, vielleicht ist er an Cholera gestorben, vielleicht hat er aber das infizierte Wasser absichtlich getrunken, und vielleicht, ja vielleicht ist es nicht mal ein richtiger Freitod gewesen, nein, der arme Pjotr wurde möglicherweise durch ein geheimes Ehrengericht zum Selbstmord verurteilt. Und hat dann eventuell Arsen genommen.

Nach einer vollen Seite düsterer Spurensuche in bester Thriller-Tradition (siehe Klaus Manns Tschaikowski-Roman) neigt sich aber die Pause ihrem Ende zu. Schon erklingen die Trompeten. Schnell zum Schluss kommen! Sonst beginnt uns noch die Musik vor Abschluss der Lektüre. Also, schnell zum Wesentlichen (Seite 13!):

»Wie es zu Ts plötzlichem Tod kam, wird wahrscheinlich niemals eindeutig geklärt werden können. Wenn diese Frage auch im Zusammenhang mit der ›Symphonie pathétique‹ immer wieder auftaucht, …«

Na ja, ein bisschen selbstreflexiv zu sein schadet ja nicht.

»… so hat sie doch letztlich für die Musik nur eine untergeordnete Bedeutung.«

Aber, aber, das ist ja verstörend! Das hätten Sie vielleicht früher sagen sollen! Was hat denn eine größere Bedeutung? Es bleibt spannend …

»Viel mehr als die Todesumstände sollte man über die Lebenstragödie …«

Das war’s also! Die Lebenstragödie! Mensch, das war knapp!

»… dieses äußerlich so erfolgreichen, …«

Ha, ha! »Äußerlich«! Wiederum Spannung pur! Und innerlich, bitte, innerlich?

»… aber zu innerer Einsamkeit verurteilten Mannes nachdenken, der so viel Liebe zu geben hatte und immer in Todesnähe lebte.«

Bum! Wir hofften es beinahe nicht mehr, schließlich ist sie da, die große Erschütterung. Liebe und Einsamkeit. Großartig.

»Aus der Tragödie seines Lebens …«

Lebenstragödie/Tragödie seines Lebens. Beinahe als möchte die Rezensentin ihren so gepeinigten russischen Liebling für Brahms‘ indiskutablen Vorsprung in puncto Variationstechnik rächen …

»… ist diese Musik hervorgegangen, die bis heute die Menschen so unendlich …«

Wieso unendlich? Es wurden doch nur 45 Minuten angekündigt … Ah, verstehe, vielleicht kommt noch was Abstraktes!

»… zu bereichern vermag.«

BEREICHERN! Auf einmal entdecken wir im Nachhinein, wie kunstvoll der ganze Unsinn arrangiert wurde. Von der glatten Wissenschaft­lichkeit (nie geklärt) über die entfesselte Leidenschaft (soviel Liebe hatte er zu geben! Ach!) zur Erlösung durch die Kunst, wohlgemerkt QUANTITATIV erfasst. Da ist unter der harmlosen Fassade des Salon-Gequatsches wahrlich der Teufel los.

Usw.

Eine Reaktion zu “Im Gewandhaus:
Tschaikowski und das Programmheft”

  1. Uschi

    „Der eigentliche Star aber war, wie so oft: das Programmheft“ Sowas habe ich ja noch nie gehört. Das bei einem Konzert oder bei einer Oper das Programmheft der Star ist. Nun gut so hat jeder wohl seine Erfahrungen gemacht. Wenn ich mir die Beschreibung vom dem Programmheft so ansehe, dann muss ich sagen, ich glaube, dass ich mir das nächste Mal das Heft doch genauer ansehen sollte. Denn das geht bei mir eigentlich schon immer etwas unter. Ich warte dann lieber und kucke was passiert.

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