Die Erschütterung!
Stefan George und Julian Assange

Stanford, 21. Dezember 2010, 09:42 | von Srifo

Wer würde da stundenlang auf Julian Assange warten? Darauf, dass er im Park von Ellingham Hall in Norfolk mit Fußfessel samt elektroni­scher Kugel vorbeischlendert? In etwa so, um uns gleich mal in Schieflage zu begeben, wie Walter Benjamin 1921 im Park des Heidelberger Schlosses auf den schon früh gebrechlichen Stefan George samt Spazierstock gewartet hat. Und das nur, um ihn zu sehen.

Was beide gemein haben – George und Assange –, liegt dabei sofort auf der Hand. Zunächst einen Kreis eingeschworener Mitarbeiter, in dem sie unmissverständlich das Führungszentrum einnehmen. Dann ständiges Reisen, Couchsurfing bei Freunden und gleichzeitiges Arbeiten.

Dann eine virulente Jugendzeit im Kontakt mit dem Zeitgeist – Assange 1987 das erste Mal als Hacker ›Mendax‹, George das erste Mal 1889 als »un de ces mardis«, abends bei Mallarmé. Schließlich verbindet sie, und das ist es ja eben, dass beider Interesse etwas Höherem gilt, etwas nur schriftlich zu Vermittelndem, dessen Richtigkeit beide überzeugend auftreten und zur Tat schreiten lässt.

Zurück zur Auftaktfrage: Wer also, wo doch die Tat und nicht die Person zählt, wer würde da auf Assange warten? Wer würde nicht einfach zuhause bleiben und Wikileaks lesen, sondern müsste hinschauen, wie der Meister sich nähert und was trinkt? Assange einen Kaffee aus der Frontline-Club-Tasse, George Eiswein aus dem Silberbecher. Benjamin gibt den Hinweis: Der schon »Erschütterte« kann nicht anders als warten und hinsehen.

»… Im Bewußtsein, daß ein solcher Versuch nie und nimmer gelingen könnte, bemühe ich mich, desto genauer mir zu vergegenwärtigen, wie George in mein Leben hineinwirkte. Voranzuschicken ist dies: Er tat es niemals in seiner Person. Wohl habe ich ihn gesehen … Stunden waren mir nicht zu viel, … lesend, auf einer Bank, den Augenblick zu erwarten, da er vorbeikommen sollte. … Doch das war alles zu einer Zeit, da die entscheidende Erschütterung seines Werkes mich längst erreicht hatte.« (Über Stefan George, 1928, GS II/2, S. 622f.)

Hat die heimische Wikileakslektüre die Journalisten noch nicht genug erschüttert, die da der Person Assange im dezembrig totgesagten Park ihre Aufwartung machen? Eventuell nicht genug, denn wieso sollten sie sonst auf Assange warten und Zeugen des Meisters werden? – Um Neues von seinem leckschlagenden Kreis zu erfahren, hätten sie ja im Warmen lesen können.

Oder andersherum: Trotz Georges unvergleichlicher »Anonymität bei Weltberühmtheit«, wie Ludwig Marcuse 1928 Georges medienabsti­nentes Bild in der »Kölnischen Zeitung« begreift, war Benjamin einfach neugierig und hat ihn sehen müssen. Wäre er da in unserem, um Frank Rieger aus der FAZ zu zitieren, »Zeitalter der Geheimnislosigkeit« einem so öffentlichen Meister wie Assange nicht folglich fern geblieben? Warum also warten? Oder besser: Worauf also warten?

Bei George – »Komm … und schau« – ging man in den Park und hing ab (damals gab es noch ein intransitives ›schauen‹, später ja erst wieder in »Tristesse Royale«). Laut Benjamin bekam man dort aber nicht »von Birken und von Buchs« die Erschütterung, sondern irgendwie vom Lesen. Den Meister zu sehen ist nur Ornament. Entsprechend versorgt Assange heute per iPhone im Park, mit den ›Cables‹ als »Schimmer ferner lächelnder Gestade«.

Wie immer man es chiffriert, es muss die Erschütterung sein, auf die der Schreiber lesend zu warten hat. Irrelevant, ob er sie in den nummerierten Oktavbändchen mit Goldschnitt oder aus den PDFs der Allgegenwärtigkeit schaut. Aber die theoría wird nicht mehr sosehr übers Wort genommen, heute zählt für die Erschütterung scheinbar umso mehr, dass man weiß, derjenige ist anwesend, aus dessen Texten die Erschütterung lecken soll. So eine Art Zwangsbeaufsichti­gung des Autors über den Leser, nicht umgekehrt, wie eben bei Benjamin.

Usw.
 

Drei Feuilletons, zwei Holbeins, eine Passion

Konstanz, 20. Dezember 2010, 07:26 | von Marcuccio

Stuttgart! Holbein-Ausstellung! Graue Passion! Nichts wie hin.

Dreh- und Angelpunkt der Grauen Passion ist ein eigentlich ganz krude zerlegter Flügelaltar. Gäbe es ihn noch bzw. wäre da noch was auf- oder umklappbar, würde man die zwölf Passionsszenen von Hans Holbein dem Älteren, jeweils sechs in grau und sechs in ocker, so en suite gar nicht sehen können. Nur dank der Barbaren früherer Jahrhunderte, die das Retabel längs und quer kleingesägt haben, bekommen wir die Holbein-Tafeln wie in der Fernsehillustrierten unserer Omis präsentiert: auf einen Blick.

Die enge Hängung hat auch was von gemalten Video-Stills. Und falls Mel Gibson sich noch mal mit einer Pixar-Variante an The Passion of the Christ versuchen wollte, hier könnte er die Farbproben nehmen. Auch deswegen haben unsere Feuilletons mit ihrer Artikel-Bebilderung geklotzt, hier mal drei Artikel kontrastiv gegeneinandergehalten:

  • Willibald Sauerländer: Die Farben des Leidens. SZ, 29. November.
  • Tilman Spreckelsen: Seine Augen weit aufgerissen. FAZ, 2. Dezember.
  • Hans-Joachim Müller: Holbeins Auferstehung in Stuttgart. Die Welt, 3. Dezember.

Die SZ

… kommt mit gleich sechs abgebildeten Szenen dem Original-Wandfeeling am nächsten, mosert dafür aber ein bisschen viel an der Konzeption der Ausstellung rum. Dabei ist die ganz hervorragend und keineswegs zu wissenschaftlich. Der Witz der Grauen Passion ist ja grad, dass Holbein mitten im Zeitalter der Grisaille-Mode keine bloßen Statuen mit Grauschimmer malt, sondern Figuren, die menschlich-leibhaftiger nicht wirken könnten. Der Einsatz anderer Farben ist beschränkt auf Jesus himself, Nicht-Grau also ein Stilmittel, um den Protagonisten aller Protagonisten von der Entourage abzuheben. Ein bisschen so als würde Hollywood im Sinne eines Spezialeffekts nur noch die Hauptrolle in bunt zeigen, den Rest aber in schwarz-weiß.

Die FAZ

… bildet zwei Passionsszenen ab, erzählt dann aber vor allem von einer dritten. Und klagt kunsthistorischen Kindesmissbrauch an: »Was stupst er da? Soll das Kind lauter brüllen?«

Tatsächlich lässt Holbein bei der Ecce-Homo-Szene ein gut verstörtes Kind zuschauen. Und tatsächlich steht es neben einem Fratzengesicht von Vater, der seiner Tochter irgendwie obszön seine Finger in die Wange drückt. Jesus natürlich im Blickkontakt mit der Kleinen, die Nase und Mund traumatisch weit aufgesperrt hat. FAZ-Rezensent Spreckelsen kann sich auch beim Rausgehen gar nicht trennen: »Das Kind bleibt so ungeheuerlich wie beim ersten Sehen. Und es verlässt einen auch nicht auf dem Weg zum Bahnhof.«

Die Welt

… bringt einzig und allein, dafür aber in XL, das Abschlussbild des Zyklus: die Auferstehung Christi. Hier steht der – ja wie nur? – aus dem Grab entstiegene Leibhaftige vor uns. Der Holbein’sche Grabdeckel ist, anders als bei so vielen Passionsmalern, nicht geöffnet oder gar geborsten. Nein, die Nägel (Initialen: H & H) sitzen wie bei Hagebau. Mach! Dein! Ding! Holbein macht sein Ding, indem er malerisch zeigt: Christus macht sein Ding, er kann sowieso »nicht anders denn als Geistleib seiner irdischen Gefangenschaft entkommen sein (…). Das ist die Pointe«, so Müllers Bildbeschreibung in der »Welt«.

Am meisten aber gefällt mir der gut gesetzte Hinweis auf die familiäre Arbeitsteilung. Hans Holbein d. Ä. also hat, wie gesehen, die Todesüberwindung gemalt; »Holbeins Sohn wird später einen toten Christus malen, wie er toter nie gemalt worden ist.« Ein Satz, für den man am liebsten sofort mal wieder nach Basel fahren würde:

Holbein, The Body of the Dead Christ in the Tomb (Quelle: Wikimedia Commons)

 

Mit San Andi und Arcimboldo in Washington

Hamburg, 19. Dezember 2010, 08:23 | von Dique

Im September in Washington gewesen, einziges Ziel dieses Ausflugs: Besichtigung der National Gallery of Art. Wir reisen also von New York aus mit dem Greyhound Bus an und drehen nach Ankunft direkt Richtung Museum ab.

Es ist entsetzlich heiß hier, über vier Stunden haben wir gebraucht und nun, kurz nach 10, stehen wir vor dem richtigen all der klassizistischen Tempel, die da zwischen Lincoln Memorial und Kapitol aufgestellt worden sind.

Sofort stelle ich fest und zeige mich sehr erfreut darüber, dass gerade eine Giuseppe-Arcimboldo-Ausstellung stattfindet. Es handelt sich um die abgespeckte Version der Schau, die vor ein paar Jahren in Wien und Paris zu sehen war, den Katalog habe ich hier schon mal erwähnt.

Philip Haas, Winter (Quelle: Wikipedia)Damals habe ich auch wiederholt behauptet, dass Arcimboldo mehr ist als die Composite Heads, diese obskuren Porträts aus vornehm­lich Obst- und Gemüsestücken, aber im Fokus stehen sie trotzdem und hier ganz besonders: Gleich vor dem Eingang ist eine Leihgabe aus Wien aufgestellt, die von Philip Haas angefer­tigte Riesenattrappe des »Winters« aus Arcimboldos Jahreszeitenzyklus, nicht schlecht!

Ich will gleich in die Sonderausstellung stürmen, aber San Andis Missmut hält mich zurück. Er habe jetzt keine Lust, eigentlich sogar nicht nur jetzt, sondern überhaupt nie mehr Lust, sich diese blöden Gemüseköppe anzuschauen. Lieber sofort und ausschließlich in die Dauerausstellung!

Ich lasse mich von dieser Devise erst mal breitschlagen und erkläre, zunächst auch ein bisschen in die dauerausgestellte Sammlung mitzukommen und erst später allein zu Arcimboldo zu wechseln, um mir dann zum tausendsten Mal die wunderschönen Gemüseköppe anzusehen.

Wir schleichen durch die Hallen und bestaunen die Erwerbungen von Andrew W. Mellon, Samuel H. Kress und all den anderen groooooßen amerikanischen Sammlern. Im NGA hängt auch übrigens das einzige Ölgemälde von Leonardo in ganz Nord-, Mittel- und Südamerika. Dieses Stück, die »Ginevra de’ Benci«, wurde 1967 aus der Sammlung Liechtenstein herausgekauft, um jetzt hier in der National Gallery zu sein. Die Wacholderfrau ist noch dazu viel schöner als die »Mona Lisa«, wenn auch unten um einige Zentimeter Leinwand beschnitten, weshalb ihre vermutlich formvollendeten Hände jetzt fehlen, aber auch die Hände der Nike von Samothrake zum Beispiel sind ja nur fragmentarisch überliefert, also!

Wegen des frühen Aufstehens haben wir unendlich viel Zeit, so kommt es mir vor, und wir begeben uns dann auch wie gewöhnlich erst einmal ausgiebig in die Museumskantine. Irgendwann frage ich aber trotzdem nach den Öffnungszeiten, und San Andreas, den ja stets der Nimbus des Sich-Auskennens umgibt, antwortet sofort und ohne zu überlegen: »Bis 21 Uhr.«

Dementsprechend gemächlich geht es auch nach dem ausgedehnten Essen weiter. Stundenlang unterhalten wir uns über die Süße und Farbe der amerikanischen Fanta und über das Blau des Brokatmantels der Madonna auf Jan van Eycks »Verkündigung«.

Und weiter geht’s durch die Ausstellung, und als es ca. Viertel nach vier geschlagen hat, frage ich trotzdem noch mal bei San Andi nach, ob er sich denn auch sicher sei, dass das Museum bis 21 Uhr geöffnet habe, und dann sagt er ganz normal, dass er das gar nicht wisse, er habe das mit den 21 Uhr nur so dahin gesagt, woher soll er denn die Öffnungszeiten ausgerechnet dieses Museums so genau wissen!

Ich habe nicht mal Zeit für eine Schockstarre, und ganz davon abgesehen, dass ich die amerikanische Sammlung noch nicht gesehen habe, sorge ich mich natürlich vor allem um meinen Besuch bei den Gemüseköpfen und frage besorgt den am nächsten stehenden Museums-Irrsigler, wann das Haus schließe. »Um 17 Uhr, in 35 Minuten!«

Sofort verschwinde ich gen Arcimboldo, »von der Sorge Qualen gejagt«, und erreiche 20 Minuten später und kurz vor Toresschluss die kleine Ausstellung und sehe noch alle 16 Composite Heads, die man von Europa hierher gebracht hat. Obst, Gemüse, Getreide, soweit mein Auge blickt!
 

»Morgen war Weihnachten.«

Leipzig, 16. Dezember 2010, 14:55 | von Paco

Christmas Tree (Quelle: Wikimedia Commons)Um kaum einen Satz ist in der Literaturtheorie so gestritten worden wie um diesen: »Morgen war Weihnachten.« Im Kontext: »Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachten.«

Immer wenn ich in Göttingen in den Käte-Hamburger-Weg einschwenke, um zu diesem Gebäude zu gelangen, muss ich an den Satz denken, auch im Hochsommer.

Denn Käte Hamburger hat sich für ihre nicht weniger als epochal zu nennende »Logik der Dichtung« (1957) genau diesen weihnachtlichen Satz herausgesucht, um die Funktionsweise des epischen Präteritums zu demonstrieren. Denn dass morgen Weihnachten war, klingt ja erst mal nach erstklassigem grammatisch-logischen Unsinn.

Das epische Präteritum aber, soweit jetzt mal die Kurzfassung, zeige nicht Vergangenheit an, sondern lediglich die Fiktionalität eines Textes. Das ist dann in der Folge hundertfach interpretiert, kritisiert, erweitert worden, ein literaturtheoretischer Hexenkessel allererster Güte!

Es gibt nun natürlich in den Literaturen aller Zeiten und Sprachen Unmengen solcher »morgen war«-Sätze. Der von Käte Hamburger gewählte stammt komischerweise aus einem relativ unbekannten Roman von Alice Berend: »Die Bräutigame der Babette Bomber­ling« (S. Fischer 1915, Neuauflage bei AvivA 1998, Volltext im Projekt Gutenberg). Die groschenheftartige Geschichte ist aber weder unlustig noch ganz unspannend: Mutter Bomberling sucht händeringend nach einem passenden Bräutigam für ihre adrette Tochter Babette, deren Verehrer jedoch von der eher unangenehmen Mitgift vergrault werden: der väterlichen Sargfabrik.

Und bevor ich jetzt gleich zur Weihnachtsfeier des Instituts aufbreche, zitiere ich die weihnachtliche Passage etwas ausführlicher aus dem Projekt Gutenberg heraus. Und oh Wunder, der berühmte Satz lautet sogar leicht anders, ›Weihnachten‹ heißt dort jetzt ›Weihnachts­abend‹, und damit klingt es gleich noch ein bisschen wundersamer:

»Eine Mutter geht von Pflicht zu Pflicht.

Frau Bomberling sagte sich, daß sie etwas tun müsse, um dünner zu werden. Noch einmal wollte sie Babettes Glück nicht aufs Spiel setzen.

Helene hatte gestern einen Arzt genannt, der die Wohlhabenden mager kurierte. Sie mußte ihn aufsuchen.

Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachtsabend.

Babette half der Mutter bei dem Ausschmücken. Ihr Arbeitsfeld war der Gipfel der Tanne. Frau Bomberling wagte nicht zu klettern, Babette aber stand auf einem Stuhl, der auf den Tisch gehoben war. Sie befestigte an die Baumspitze einen großen Stern, und darunter kam ein Wachsengel, der aus einer gläsernen Trompete ›Friede auf Erden‹ blies.«

Usw.
 

Vossianische Antonomasie (Teil 17)

Leipzig, 15. Dezember 2010, 16:13 | von Paco

 

  1. ein Galilei der Fakteninnenwelt
  2. der Robespierre der Bücherrevolution
  3. der Zinedine Zidane der Geschichtsaufarbeitung
  4. die Nana Mouskouri der Inneren Sicherheit
  5. die Claudia Roth der TV-Serien

 

Die FAS vom 12. Dezember 2010:
Nougattorte, Wirtschaftsteil, Runge

Hamburg, 12. Dezember 2010, 23:45 | von Dique

Was davor geschah

Auf dem Weg zur Konditorei Lindtner in Eppendorf, die FAS in der Manteltasche. Ich mache die letzten Schritte auf die Eingangstür zu, vorbei an einem beleibten und unscheinbaren Paar Ende 40, Typ Wochenendurlauber.

Als die Frau bemerkt, dass ich dasselbe Ziel habe wie sie und ihr Mann, rennt sie plötzlich kurzentschlossen los und an mir vorbei, wackelnd wie ein kleiner Elefant, das Gesicht zwischen Anstrengung und Empörung. In der Netztasche ihres Outdoor-Rucksacks plätschert in einer Halbliter-Cola-Light-Plastikflasche das nachgefüllte Leitungswasser.

Fassungslos über soviel Ehrgeiz betrete ich die Konditorei und sehe, wie sich die beiden Urlauber aus ihren Outdoorjacken schälen und befriedigt niederlassen. Der Kampf der beiden um die letzten freien Plätze war aber voreilig, das Lindtner ist im Moment nur zur Hälfte gefüllt.

Ich bestelle eine Tasse Kaffee und, Hauptgrund für mein Hiersein: ein Stück von der Nougattorte. Am Tisch neben meinem sitzt ein Mann mit abgelegtem Hut, der seine FAS schon aufgeblättert vor sich hält. Er schöpft gerade den letzten Schaum aus seinem Latte-Macchiato-Glas, als zwei ältere Herren auf ihn zugestürzt kommen und behaupten, dass der Tisch gar nicht frei gewesen sei.

Jedenfalls schnappt sich der eine erbost ein Gläschen vom Rand des Tisches, in der nicht mehr als noch ein Schluck Orangensaft schwappt. Der Hutmann lacht die beiden auf sympathische Weise aus und vermeldet, dass er da jetzt schon 30 Minuten an diesem Tisch sitze und Zeitung lese. Die Bedienung kommt herbeigeeilt und beschwichtigt, und bald verschwinden die beiden älteren Herren nach draußen, die Mäntel hatten sie eh schon übergezogen.

Was in der FAS geschah

Ok, wie immer lese ich zuerst den Wirtschaftsteil. Der sogenannte »Sonntagsökonom« gefällt mir heute mal sehr gut, es geht um Prognosemodelle, und in der Literaturliste wird das »International Journal of Forecasting« erwähnt, was für ein schöner Titel!

Auf der nächsten Seite steht ein Interview mit Norbert Rethmann, der gleich zu Beginn zu Georg Meck sagt: »Ich stelle fest: Dies ist mein erstes großes Interview. Übrigens nicht, weil ich Sie unbedingt kennenlernen wollte.« Meck nennt ihn im Gegenzug »Europas Müllkönig«, auch nicht schlecht, und es geht also leicht provokativ zur Sache, in diesem Fall vor allem um Müll und Schrott, mit deren Entsorgung bzw. Recycling Rethmann aus einem kleinen Familienunternehmen einen weltweit agierenden Konzern geschaffen hat.

Nach dem Umblättern wird es erwartungsgemäß krisig, Lisa Nienhaus spekuliert auf einer Doppelseite über die Rückkehr der D-Mark, Petros Markaris (Berufsbezeichnung: »griechischer Krimiautor«) erzählt im Gespräch mit Winand von Petersdorff, wie leer die Straßen Athens inzwischen leider seien: »Athen ist so tot wie eine Kleinstadt in Skandinavien.« Und Lena Schipper schreibt einen beeindruckend schneidigen Artikel über die Hochschulreform in England, die ursprünglich von Lord Browne angeregt wurde, dem ehemaligen BP-Chef (und nunmehrigen Peter Hartz des englischen Universitätswesens).

So vergeht eine kleine Weile, und es bleibt eigentlich jetzt keine Zeit mehr fürs Feuilleton, ich schaffe vor lauter Zeitdruck nur Jan Freitags sensationelles Interview mit Gung aus der »Lindenstraße«.

Was in der Kunsthalle geschah

Aber nun muss ich Paco treffen, er war zu einem Stück Nougattorte im Lindtner nicht zu überreden gewesen und wartet nun am Bühneneingang des Schauspielhauses, wo er sich noch angeregt und lachend mit der Einlassfrau unterhält, als ich ankomme. Das Gung-Interview hat er ebenfalls längst gelesen, und schon sind wir auf dem Weg zur Kunsthalle, um die allseits gepriesene Runge-Ausstellung zu sehen.

Regelrecht erschrocken gehen wir durch die Räume! Die Ausstellung ist zwar didaktisch ein Hit, siehe Swantje Karich in der FAZ, aber in so einem Gesamtüberblick macht die Lokalgröße Runge einfach keinen Spaß, seine mittelmäßige Begabung überschreitet selten die Qualität gehobener Akademiestudien.

Am Schlimmsten sind aber eigentlich die »Hülsenbeckschen Kinder«, leblos wie tote Puppen stehen sie da vor dem Gartenzaun, zum Fürchten! Also schnell weiter ins kunsthalleneigene Café Liebermann, und plötzlich ist alles wieder gut: Nougattorte!
 

Kaffeehaus des Monats (Teil 58)

sine loco, 10. Dezember 2010, 09:08 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Das Quebra in Coimbra, ultrafurchtbares Foto, wie in dieser Reihe üblich :-)

Coimbra
Das »Quebra« in der Rua do Quebra Costas 45.

(Das heute nur noch »Quebra« heißende »Quebra Costas« hatten schon Christian Kracht und Eckhart Nickel in »Ferien für immer« (1998) zu einem der schönsten Orte der Welt erklärt. Jetzt, zwölf Jahre danach, sind die hier verkehrenden Studenten immer noch so uneinverstanden wie damals. In der Umgegend – die Sé Velha ist nur ein paar Meter entfernt – haben sie mit Sprühschablone mehrfach den Spruch hinterlassen: »Come o papa, Joana, come o papa!« Das Kinderlied geht eigentlich mit »a papa«, die kleine Joana soll ihren »Brei« essen, soll sich jetzt aber natürlich, Vorsicht: Scherz!, das andere, maskuline »papa« vornehmen, nämlich Papa Benedikt XVI., der im Mai Portugal besucht und sich sicher sehr geärgert hat. Aber zurück zu »Ferien für immer«. Darin werden die Absinthgelage im »Quebra« beschrieben, und die gibt es auch heute noch, man muss das abscheuliche grüne Zeug allerdings mittlerweile per Codewort bestellen, sonst kriegt man wieder nur einen Galão mit Keks, während sich um einen herum langsam alle die Rücken brechen, indem sie die steilen Treppen hinunterfallen, so wie es Kracht und Nickel bereits wahrheitsgemäß beschrieben haben.)
 

A wie Antonomasie

Konstanz, 9. Dezember 2010, 22:41 | von Marcuccio

Ein altes UMBL-Thema: die (Vossianische) Antonomasie. Wir haben hier ja auch ein kleines Antonomasie-Archiv angelegt, allerdings jeweils ohne die Auflösungen, also ohne konkret die Bezugspersonen zu nennen (die stehen aber immerhin im Quellcode, damit wir sie selber nicht vergessen, und diese Klammerbemerkung ist jetzt eben genau auch die Antwort auf die ganzen E-Mail-Nachfragen, wer denn da im einzelnen gemeint sei).

Seit heute gibt es nun also »Sprechen Sie Feuilleton?«, und mit »A wie Antonomasie« geht es los, drüben in der »Welt«.
 

Verrat an Ernst Jünger?

Leipzig, 3. Dezember 2010, 00:32 | von Paco

Ein Herbstinterview mit Tobias Wimbauer. Über die Jünger-Forschung und Twitter, über Aliens in Sachsen-Anhalt, über Bio­kost und die Popliteratur, und über Anrufe von Rolf Hochhuth

Vor einem Jahr haben wir versucht, das Phänomen Wimbauer zu beschreiben. »Wie aus dem aufsteigenden Ernst-Jünger-Forscher ein twitternder Biokoch wurde«, behaupteten wir, »das ist eine der schärfsten Volten der bundesrepublikanischen Geistesgeschichte.« Und vor drei Wochen, am 13. November, haben wir ihn nun mal besucht, auf dem Waldhof Tiefendorf in Hagen-Berchum.

Trotz neuestem Update des Kartenmaterials versagt das Navi schon früh. Wir haben aber die obligatorische Wegbeschreibung dabei, die Wimbauer jedem schickt, von dem er auch tatsächlich besucht werden will. Sie hat exakt so viele Zeilen wie ein Sonett und schwankt stilistisch zwischen Gebrauchstext und Barocklyrik.

Irgendwann sind wir da. Wir werden begrüßt und mit den 90.000 hier gehorteten Büchern bekannt gemacht. Auch Silvia Stolz-Wimbauer ist da, und sofort beginnt ein Gespräch, das vom »Frühstück«, der ersten Mahlzeit des Tages um 13 Uhr, bis zum Nachtessen dauern wird. Auf der Anrichte liegen die WAZ, die SZ und obenauf die FAZ. Und da fangen wir doch gleich mal damit an.

Jünger-Forschung in Demeter-Schürze

Der Umblätterer: Tobias, nach der exklusiven Vorabrezension der FAZ zu deinem »Burgunderszenen«-Aufsatz und nach deinem Artikel in derselben Zeitung zum Celan-Brief an Jünger dachten wir alle, du würdest der neue investigative Hausautor der »Zeitung für Deutschland«, inklusive jährlichen Interviews zur Lage der Nation. Inzwischen scheinst du vor allem damit beschäftigt zu sein, deinen täglichen Biospeiseplan zu vertwittern. Ist das schriftstellerische Glückseligkeit?

Wimbauer: Alles was in der FAZ von mir kam, hatte ich denen angeboten und es wurde ausnahmslos gedruckt. Aber ich wurde nie ernsthaft nach mehr gefragt. Oder höchstens so verklausuliert, dass ich das nicht gemerkt habe. Aber es war dann auch die Zeit der Feuilletonistik vorbei, das Antiquariat nahm mich mehr und mehr in Beschlag und für Rezensionen und dergleichen blieb kaum Luft.

Der Vergleich mit meinem Abendessentwittern hinkt, denn kochen und essen tu’ ich sowieso. Davon ein Foto mit einem Zweizeiler hochzuladen ist eine Sache von ein paar Sekunden. So fix war meine Artikelproduktion nicht. Schriftstellerische Glückseligkeit stelle ich mir anders vor. Aber wenn Glückseligkeit ist, dass das Leben stimmig sei. Dann ja. Es war zuvor nie so richtig wie in den letzten Jahren. Aber das hat weder mit Essenspics oder der FAZ zu tun.

Der Umblätterer: Einen Scoop gab es ja noch. 2008 folgte, wiederum in der FAZ, die Aufdeckung der »Gärten und Straßen«-Varianten. Jünger hatte eine Version seines Tagebuchs für die Zensur präpariert. Was kommt von dir als Nächstes in Sachen Jünger-Forschung?

Wimbauer: Solche Treffer lassen sich ja nicht unbedingt planen. So etwas wie die »Burgunderszene« entsteht aus einem Aha-Moment heraus, für anderes ist die Zeit einfach richtig. Den Celan-Brief hatte ich schon seit ’97 oder ’98 in der Schublade und hatte ihn ja auch schon in Artikeln zitiert. Dass das dann in der FAZ diskussionsträchtig wurde und auch noch ein – gleichwohl recht schwaches – Buch als Gegenreaktion zeitigte, war freilich nicht abzusehen.

Ähnlich dann bei den »Gärten und Straßen«-Varianten. Ich wüsste noch das ein und andere, das sich gut verpacken und verkaufen ließe, aber im Moment ist mir nicht danach, und zum Teil braucht es noch Zeit, bis es gut durchgegoren und servierfertig ist. Jüngerianisch kommen von mir in nächster Zeit also allenfalls bibliophile Ephemera im Blog, Notizen zu Einbandvarianten und andere Quisquilien. Aber wenn mich etwas anspringt, kann es schon sein, dass ich mal wieder eine Nacht durcharbeite und anderntags einen Artikel fertig habe.

Bilderstrecke

Der Umblätterer: Wie du auf Jünger kamst, hast du ja schon mehrfach geschildert: Ein von Horst Janssen gemaltes Jünger-Porträt hat dich in der Freiburger Buchhandlung zum Wetzstein für sich eingenommen, dann hast du irgendwann das »Tigerlilien«-Stück in der 1938er Fassung des »Abenteuerlichen Herzens« gelesen und peng! Von Haus aus bist du ja aber eher anthroposophisch geprägt, dein Vater ist der einschlägige Autor Herbert Wimbauer. Wie ging das zusammen?

Wimbauer: Ja, ich komme aus einer durchanthroposophisierten Familie. Allerdings mütterlicherseits. Drei Generationen Waldorflehrer, Demeter-Berater, Biodyn-Bauern, Eurythmusen, Beuys-Kumpels. Väterlicherseits ist es nur mein Vater selbst, der einen ziemlichen Stapel anthroposophischer Bücher verfasst und unzählige Vorträge gehalten hat, der allerdings als Autor verstummt ist.

Jünger passt da ganz vortrefflich. Allein sein Blick auf das Wohlgeordnete in der Welt (Jünger nannte das ungefähr: die Einheit im Mannigfaltigen erkennen), das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte, sei es körperlich (eben nicht der Körper als Maschine, vom Geist getrennt), die Anschauung der Natur und Mitwelt, da sind sich Jünger und die Anthroposophen sehr nahe. Das unter den Anthros bekannteste Jünger-Buch ist übrigens »Lob der Vokale«. Der lautmagische Zugriff passt.

Der Umblätterer: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet insgesamt 23 Publikationen deines Vaters. Die erste ist im einschlägigen Verlag Die Kommenden erschienen, die restlichen im Selbstverlag. Hast du die alle gelesen?

Wimbauer: Nein. Ich habe einzelne gelesen, aber nicht alle. Das hängt damit zusammen, dass ich früher dachte, dass ich sie ohnehin nicht verstehen würde, oder dass mich die Themen zwischenzeitlich nicht interessierten. Und mittlerweile bräuchte ich mehr Distanz, um sie lesen zu können. Außerdem habe ich heute einen eher praktischen Zugang zur Anthroposophie, während er bei meinem Vater rein theoretisch war, ohne praktische Konsequenz für sein Leben. Es sind übrigens mehr Bücher erschienen, als die DNB verzeichnet. Er hat von einigen offensichtlich keine Pflichtexemplare eingereicht.

Wimbauer hat übrigens tatsächlich eine grüne Demeter-Schürze angelegt. Inzwischen serviert er einen Schoko-Marzipan-Kuchen. Und in Abständen hagelt es immer mal wieder indoktrinierende Biofood-Reden. In der Küche hängen Lithografien und Radierungen von Kubin. Auch eine Lithografie von Arno Breker: »Da oben, die hässliche da!«

»Der Waldgegner«

Der Umblätterer: Thomas-Mann-Experten sehen meist auch aus wie Thomas-Mann-Experten. Walter-Benjamin-Forscher sind irgendwann Walter Benjamin. Von einem Ernst-Jünger-Forscher würde man eigentlich erwarten, dass er außer dem »Stahlgewitter«-Autor höchstens noch Gómez Dávila liest und Computer und vor allem Ad-hoc-Medien wie Twitter meidet. Wo ist der Zusammenhang zwischen deinen Verdiensten im EJ-Umfeld und dieser pausenlosen Twitterei? Auf deiner Ersthomepage waldgaenger.de (ein Kommentator nannte sie ja mal »blindgaenger.de«) hast du dich über Jahre vor allem deiner akribisch geführten Bibliografie gewidmet. Diese Textarbeit ist jetzt in alle möglichen Social-Media-Kanäle diffundiert. Eigentlich ja das Gegenteil des Jünger’schen »Waldgangs«.

Wimbauer: Jünger hatte am Internet Freude. Sein letzter Sekretär, Georg Knapp, hat ihm bei sich zu Hause das Netz gezeigt, und Jünger googelte (oder altavistate, oder was man ’96/’97 so machte, da gab es Google ja noch nicht) sich selbst und war kindlich vergnügt an all dem, was er von und über sich sah. Twitter ist das Echolot der Gegenwart, der verehrte Walter Kempowski hätte seine wahre Freude daran gehabt, die ungefilterte Gleichzeitigkeit vom twitternden Afghanistansoldaten bis hin zur Familienfeier in Kleinsonstwasnochhausen. Übrigens, »blindgaenger.de« ist mir neu, wer sagte das denn?

Der Umblätterer: Das haben wir vor geschätzten zehn Jahren mal in deinem Gästebuch gelesen und als in weiten Teilen berechtigt angesehen, hehe.

Wimbauer: Ich hatte mal eine ernsthaft empörte Mail von einem Kunden: Sich »Waldgegner« zu nennen, sei doch unerhört!

Ernst Jünger beim Heckeschneiden

Der Umblätterer: Du zitierst in deinen Texten und Äußerungen häufiger aus deinem Tagebuch. Inzwischen hast du diese täglichen Aufzeichnungen eingestellt. Wann hast du eigentlich damit angefangen und wann und warum damit aufgehört?

Wimbauer: Ich habe mit 18 oder 19 die Tagebücher der Jahre davor gelesen und verbrannt, und das war gut so. Ich habe dann ab dem Monat, in dem ich zur Bundeswehr kam, konstant Tagebuch geführt. Das verebbte erst so 2007, als ich nur noch sporadisch Zeit dafür hatte, weil mich das Antiquariat so in Beschlag nahm. Danach kommen nur noch statistische Notizen.

Der Umblätterer: »Statistische Notizen«? Was soll das sein?

Wimbauer: Stimmt, das klingt jetzt wie ein Werk aus dem OULIPO-Umfeld, ist aber ganz unliterarisch gemeint: Umsatz, Bestandszahlen, Sportzeiten und Gewicht.

Der Umblätterer: Haben Twitter und Facebook, haben deine verschiedenen Blogs das Tagebuch komplett ersetzt? Stilistisch ist das ja ein himmelweiter Unterschied.

Wimbauer: Twitter und Facebook sind kein Tagebuchersatz. Das sind zwei Kommunikationsplattformen für uns, auf denen wir mit Freunden, Lesern und Kunden in Kontakt bleiben. Und wieso reibt ihr euch so an meiner Twitterei, ich hab doch weitaus schlimmere Sachen gemacht.

Der Umblätterer: Richtig! Auf YouTube hüpfst du zu Wagnerklängen mit dem Spaten durch den Rosengarten oder mit dem Kochlöffel in die Küche. Ist das einfach ein »I don’t care« deinerseits, eine Aufforderung zum Fremdschämen?

Wimbauer: Haha. Beides. Vielleicht ein »Fuck you« in Richtung einer bestimmten Erwartungshaltung. Fremdschämen, ja mei, das Rosenhüpfvideo ist schon dämlich, haha. Beides ist eigentlich eine Spätfolge des »Jünger beim Heckeschneiden«-Videos.

Der Umblätterer: Du hattest da euern ehemaligen Nachbarn beim Heckeschneiden gefilmt, und der sah dann am Bildschirm genau wie Jünger aus.

Wimbauer: Das Ganze habe ich dann mit Fragezeichen versehen ins Netz gestellt: »Ernst Jünger beim Heckeschneiden?« Und rasch kamen Mails von zum Teil prominenten Jünger-Spezialisten, dass das ja gar nicht Jünger sein könne, weil es in Wilflingen an der Oberförsterei ja gar keine Rotbuchenhecke gebe. Als ich dann aufklärte, dass das ein Jux war, löste das Heiterkeit aus. So verbissen gehe man an so etwas ran. Als ob es von irgendeiner Relevanz wäre, ein Video zu kennen, in dem Jünger 20 Sekunden lang eine Hecke schneidet.

Aliens in Sachsen-Anhalt

Der Umblätterer: In der SZ hat Marc Felix Serrao neulich berichtet, dass im Zuge der Sarrazin-Debatte ein kleines Heft des neurechten Instituts für Staatspolitik zum Amazon-Bestseller geworden ist. Du hast ja ein paar Monate als Vorstandsmitglied am Institut verbracht, auf einem alten Rittergut in Schnellroda. In der ersten Nacht auf dem Rittergut hast du von Aliens geträumt, die aus Kühlschrankeiern schlüpfen, wie du in deinem Band »Lagebericht« berichtest.

Wimbauer: Dieser Traum ging noch weiter. Die Aliens hatten nämlich prächtige Vaginas im Gesicht.

Der Umblätterer: Was wäre eigentlich, wenn du heute immer noch beim Institut für Staatspolitik wärst?

Wimbauer: Wenn ich heute noch beim IfS wäre? Ich hätte mich auf der Querfurter Platte schon totgesoffen. Vielleicht, keine Ahnung. Es hätte mir jedenfalls nicht gut getan.

Der Umblätterer: Warum bist du eigentlich ursprünglich da hingegangen?

Wimbauer: Da muss ich ein bisschen ausholen. Wir hatten das IfS gerade gegründet, mit dem Arbeitstitel »Reemtsma-Institut von rechts«, die von mir benachwortete Ausgabe von Mohlers Jünger-Buch »Die Schleife« war eben bei Antaios erschienen, soweit also die äußere Lage.

In Freiburg war ich völlig im Eimer. Die Universität machte mich halb irre, es ist nicht so angenehm, in Riesenvorlesungen zu sitzen und seinen Soziophobien nachzuhängen. Da gab’s von mir mehr Vermeidungsstrategien als Stundenplan. Ich konnte damals nicht damit umgehen und habe in der Regel destruktiv reagiert, und es war ein Nullpunkt erreicht gewesen. Ich musste mir auch eine neue Wohnung suchen, und das ist in Freiburg eine teure Sache.

Das Studium zu schmeißen, war rasch entschieden (und damit ging es mir richtig gut). Ich hatte mich dann in Berlin bei der »Jungen Freiheit« als Redakteur beworben und gleichzeitig mit Götz Kubitschek über eine Perspektive in Verlag und Institut gesprochen. Er redete mir die JF aus, und so zog ich nach Schnellroda.

Der Umblätterer: Wieso bist du dann recht schnell wieder da weg?

Wimbauer: Aus unterschiedlichen Gründen. Es war zunächst mal schwierig, aus einer, sagen wir mal: Freundschaft auf Augenhöhe in ein Arbeitsverhältnis zu treten. Und als sich dann irgendwann die Frage stellte, ob Silvia ihre Arbeit in Hagen aufgeben und nach Schnellroda ziehen soll, wo, freundlich formuliert: der Arbeitsmarkt überschaubar ist, oder ob ich nach Westfalen zu ihr ziehe, war das rasch entschieden.

Der Umblätterer: Was hast du damals erwartet beim Umzug nach Sachsen-Anhalt?

Wimbauer: Erst mal weg von Freiburg. Ich hab das vor anderthalb Jahren im Blog mal formuliert: »Auf der Suche nach ein/zwei Daten in alten Tagebüchern festgelesen, die Bände 1998 bis 2001 quergeblättert. Das Gesuchte nicht gefunden, viel aber wiedererkannt und mit einem Frösteln fremd gefunden. Diese merkwürdigen Freiburger Zustände, die vielen Fragezeichen, das Blindtasten, die Unruhe. So sehr mein Herz an Freiburg hing, so froh war ich, als ich die Kisten packte und mit einem gemieteten klapperigen LKW mit all den Büchern und Habseln aufbrach.« Die Frage nach der Erwartung muss ich also mit einer Richtung beantworten: nicht zu etwas hin, sondern von etwas weg.

»Sein altes Vorurteil gegen Schiller«

Der Umblätterer: Gunther Nickel hat ja seine Besprechung der Neuausgabe des »Personenregisters« verbunden mit dem Vorwurf »erheblicher Wissensdefizite« und dem Ratschlag: »Vielleicht (…) hätte er sein Studium doch besser beenden sollen.«

Wimbauer: Ja, haha.

Der Umblätterer: Du hast dann in Wuppertal einen zweiten Anlauf genommen und eine Weile weiterstudiert, was denn genau?

Wimbauer: Neuere deutsche Literaturwissenschaften, Sprachwissenschaften des Deutschen und Soziologie.

Der Umblätterer: Allerdings wieder nicht bis zum Abschluss. Statt jetzt aber mit einer Suggestivfrage zu kommen: Was fandest du am nicht beendeten Studium richtig gut?

Wimbauer: Das Studium war mir kein Bedürfnis. Ich dachte nur: Wenn ich schon Silvia auf der Tasche liege, kann ich wenigstens einen Doktor machen. Was ich da richtig gut fand? es gab in den Seminaren von Rüdiger Zymner richtig gute Diskussionen, etwa zu Paul Celan. Ich habe bei Klaus Lichtblau und Martin Endreß einige Texte kennen gelernt, die mir nach wie vor welterklärend wichtig sind. Und ich habe mein altes Vorurteil gegen Schiller überwunden, der war mir von der Schule versaut worden, und da las ich alle Dramen wieder – und fand die ziemlich gut.

Der Umblätterer: »Dort überwand er sein altes Vorurteil gegen Schiller«, gute Güte, ein Satz wie aus einer ZDF-Doku.

Wimbauer: Richtig, darunter mach ich’s ja nicht. Übrigens, zur zitierten Besprechung von literaturkritik.de muss ich noch was Lustiges anmerken. Anfangs wurden die Bücher, an denen ich irgendwie mitgewirkt habe, auf literaturkritik.de lückenlos besprochen, zum Teil sehr positiv. Als ich später nicht mehr für die »Junge Freiheit« und ähnliche Organe arbeitete, habe ich dann selbst auf literaturkritik.de publiziert, aber nachdem ich mich in einem Interview von meiner politischen Vergangenheit distanziert hatte und klarstellte, dass ich heute kein Rechter mehr bin, gab es plötzlich auf literaturkritik.de einen Rezensionsstopp.

Der Umblätterer: Kann es nicht sein, dass die das abgelehnt haben, weil du inzwischen selbst Autor bei denen warst?

Wimbauer: Na ja, der »Lagebericht« und die Neuausgaben meiner Jünger-Bücher wurden gegenüber den Rezensenten mit genau dem lustigen Argument abgelehnt, dass ich ja mal Autor der »Jungen Freiheit« war.

Der Umblätterer: Die Gründe für deine frühere Laufbahn hast du ja letztes Jahr im sogenannten »Samenstau-Interview« beschrieben: »Es wäre albern, wenn ich leugnete, dass ich eine Rechtskurve hingelegt habe damals, aber es wäre ebenso albern, das heute noch richtig zu finden. Mit Anfang zwanzig ist die Mischung aus Größenwahn, Samenstau und grandios überzogenem Konto ein politischer Beschleuniger, und mit Anfang zwanzig ist wohl jeder irgendwie radikal, oder nicht?« – Das Ganze findet sich auch umfassend abgebildet in dem Wikipedia-Eintrag über dich. Übrigens ist der Künstler Erik Niedling ein Bewunderer dieses Artikels, wie er uns neulich sagte. Und zwar deshalb, weil man merke, dass du ihn nicht selber geschrieben hast.

Wimbauer: Am Interessantesten ist aber die Diskussionsseite, deren Länge die des eigentlichen Artikels um ein Vielfaches übertrifft.

Wimbauer und die Popliteratur

Der Umblätterer: Dort wird vom Benutzer »Hoch auf einem Baum«, einem Wikipedia-Urgestein, schon sehr früh verwundert festgestellt, dass du eine »gewisse Ader« für Popkultur hast, für Max Goldt und Houellebecq-Gedichte zum Beispiel. Das allgemeine Staunen setzte sich dann fort, als 2008 deine Erzählung »Lagebericht« erschien. Eigentlich hätte man ja etwas Jüngereskes erwartet oder zumindest ein Oswald-Spengler-Zitat als Motto. Stattdessen ist die Story, die locker im Antiquariatsmilieu angesiedelt ist, die reine Kolportage, ohne große sprachliche und stilistische Ambitionen. Dein Protagonist, der Ex-Schöngeist Manuel, gibt sich auf, kündigt alle Verlagsverträge usw., kokst sich die Birne weg und hat, um Angela Merkel zu zitieren, »nicht sehr hilfreiche« Gewalt- und Erotikfantasien.

Wimbauer: Das Buch hat kaum jemanden interessiert. Wir haben 19 Stück mehr verkauft als Gordon Brown von seinem letzten Buch, aber das waren ja auch nur 32 Exemplare. Die Veröffentlichung hatte trotzdem ein paar Folgen. Zwei Menschen, die ich zu meinen engsten Freunden zählte (ich bin mit dem »Freundesbegriff« sparsam umgegangen, seitdem erst recht), sind ziemlich übel über mich hergefallen, warfen mir »Verrat an Jünger« vor und zeterten: »So etwas darf nicht veröffentlicht werden!« und dergleichen mehr.

Das war sehr lehrreich. Beide waren mehr oder minder Förderer und wenigstens einseitig Vertraute, in ständigem Austausch. Im Rückblick sortiert sich das. Es gab dann noch Absurditäten mit schriftlichem Entduzen und anderen Sperenzchen. Das Lustige ist, dass beide all die Texte im Buch schon lange kennen konnten, aber nicht kannten, sie hatten die Privatdrucke und Manuskripte jeweils von mir bekommen. Der eine Bekannte zum Beispiel habe meine literarischen Texte stets weggeworfen, um, wie er wörtlich schrieb, damit »unseren Briefwechsel nicht zu belasten«.

Ich komme aber unterm Strich gut weg: Ich habe zwei Geschäftspartner verloren, die beiden aber einen Freund. Ich habe nicht ergründen können, worin der »Verrat an Jünger« bestand. Dass ich Eigenes publiziere? Schlimmer wäre doch gewesen, ich hätte Erzählungen geschrieben, die im Jünger-Sound raunen würden, so ein Marmorklippenwohlklang wie bei den Parodisten: »Zwischen den Zähnen eine Faser vom Blumenkohl. Brassica oleracea botrytis. Gedanke: So tragen wir alle die Vergangenheit in uns.« Das wäre doch absurd gewesen und peinlich.

Der Umblätterer: Der Rezensent der »Jungen Freiheit« hat dich als Popliteraten beschimpft, und ein Hang zu einem gewissen Anspielungstrash ist ja nicht zu verleugnen, von Böhse-Onkelz-Anklängen über eine Rimbaud-Allusion bis hin zum Schopenhauer-Zitat findet sich ja so einiges an. Und am Ende war alles nur eine Art »Truman Show«. Wenn man es positiv formulierte, wäre das eine Karikierung von Profilierungsversuchen durch Namedropping, und wir hoffen mal, dass das so gewollt war, hehe. Auf jeden Fall ist »Lagebericht« das Gegenteil von Jünger’schem Epigonentum, von dem bei dir offenbar alle und jeder, wir ja auch, ausgegangen sind.

Wimbauer: Nun ja, ich bin keine Litfaßsäule und also geht das mit dem Verrat an Jünger ins Leere. Zumal ich ja nie ein kritikloser Jünger-Propagandist war, obwohl das offensichtlich bei einigen so rübergekommen ist. Eins haben die beiden bei mir jedenfalls versaubeutelt: Mein Begriff von Freundschaft ist völlig desolat geworden. Das verüble ich ihnen ebenso sehr wie all die Energie, die ich in den Austausch gesteckt hatte. Vielleicht eins noch. Über das Europareisebuch von Mark Twain schreibt Helmut Wiemken, Twain schreibe über »Europa, um Europa zu überwinden«. Vielleicht ist das mit meinen Jünger-Studien ja ähnlich. Inzwischen kann ich ihn – nach einem ziemlichen Overkill vor einigen Jahren – aber wieder lesen. Und finde ihn ganz großartig.

Inzwischen ist es Zeit fürs Abendessen geworden: vegetarische Lasagne mit Béchamelsauce. Wimbauer vergisst beim Reden fast die übliche Biofood-Dokumentation und kann nur noch ein Reststück fotografieren. »Jede Hauptmahlzeit wird getwitpict«, sagt er. Wenn einmal ein Bild aus der Foodporn-Kollektion ausbleibe, werde sofort protestiert: »Wo bleibt das Essenspic!«

Der Umblätterer: Als wir vor kurzem begonnen haben, das Drehbuch für einen Dokumentarfilm »Ernst Jünger in Leipzig« zu schreiben, haben wir dich gefragt, ob du eventuell als Experte auftreten würdest. »In den nächsten Jahren komme ich aber wohl kaum nach Leipzig, sodass wir die Idee auf ziemlich später verschieben müssen«, hast du zurückgemailt. Verreist du generell nicht mehr, ist der Waldhof Tiefendorf das Endziel der diogenesischen Suche nach Autarkie?

Wimbauer: Wir verreisen höchst ungern. Es ist meist auch organisatorisch schwierig. Ein paar unserer Katzen müssen mehrmals täglich Medizin bekommen, dazu bedarf’s schon einiger Übung. Dann kostet mich jede Fahrt sonstwohin das Dreifache an Zeit mit Nacharbeit im Antiquariat und es geht eben ganz viel wertvolle Zeit mit Fahrerei flöten, die man mit Arbeit verbringen könnte, oder auch nur einem Spaziergang, mit Rosenschneiden oder, ganz abwegig, mit der Lektüre eines Buches. Hinzu kommt, dass man in Hotels oder Pensionen nie bequem liegt, die Kissen komisch sind, und auf die Qualität der Lebensmittel hat man nur mit Umständen Einfluss. Anders gesagt: Urlaub ist eine Stunde im Garten. Wir fahren einmal im Jahr zum Jünger-Symposium, das reicht. Kleine Ausflüge machen wir: Wir besuchen gern die Konzerte von bestimmten Künstlern, wenn sie in der Gegend sind. Aber nichts, wo wir nicht in derselben Nacht wieder daheim wären.

»Das Mädchen 125«

Der Umblätterer: Um deinen Antworten hier mal ein bisschen die epische Breite zu nehmen: ein paar Moritz-von-Uslar-Lockerungsübungen. Du hast ja auch irgendwo mal erwähnt, dass Uslar dein Lieblingsfeuilletonist ist.

Wimbauer: Ja, hab ich! Weiter!

Der Umblätterer: Zwei Lieblingsfilme?

Wimbauer: »Das Irrlicht« von Louis Malle. »Ein Herz und eine Krone« von William Wyler.

Der Umblätterer: Eine Lieblingsserie?

Wimbauer: »Die Sopranos«. Dabei hab ich wesentliche Erkenntnisse fürs Antiquariatswesen gewonnen.

Der Umblätterer: #CatContent! Wie lauten die Namen eurer sieben Katzen?

Wimbauer: Herr P., Oma Alfred, Robert, Casimir, Harald, Der Deuser, Bruno.

Der Umblätterer: Sind die nach irgendwas geordnet?

Wimbauer: Ja, wie die Bücher: nach Farbe und Größe.

Der Umblätterer: Der beste fiktionale Text von Jünger?

Wimbauer: »Ortners Erzählung«.

Der Umblätterer: Und Silvia, deine Lieblingsbücher von Jünger?

Silvia Stolz-Wimbauer: »In Stahlgewittern«, »Feuer und Blut«, »Auf den Marmorklippen«.

Der Umblätterer: Hilfe! Echt?

Silvia Stolz-Wimbauer: Ja!

Der Umblätterer: Und was geht gar nicht?

Silvia Stolz-Wimbauer: »Eumeswil« finde ich ganz furchtbar.

Der Umblätterer: Tobias, der für dich wichtigste Ernst-Jünger-Forscher?

Wimbauer: Bei Helmut Lethen hatte ich die meisten Aha-Momente.

Der Umblätterer: Dein Lieblingsschreibfehler im ZVAB?

Wimbauer: »Das Mädchen 125«. Auch immer wieder gut ist die Autorangabe »Lenin Riefenstahl«.

Der Umblätterer: Wo wurden die Fotos mit euch und Sibylle Berg aufgenommen?

Wimbauer: Wir kannten uns vom Twittern. Dann waren wir mal in Bochum bei einer Lesung von ihr und saßen danach noch zusammen.

Der Umblätterer: Und worüber habt ihr euch mit ihr unterhalten?

Wimbauer: Über Katzen und vegetarisches Kochen.

Der Umblätterer: FAZ oder SZ?

Wimbauer: Beide.

Der Umblätterer: Das gilt nicht.

Wimbauer: Doch.

Der Umblätterer: Wieso zählst du, wie oft in den Restaurantkritiken von Jürgen Dollase der Begriff »Textur« vorkommt?

Wimbauer: Der »Textur«-Zähler ist eine Hommage an den Autor. Dollase muss das übrigens mitbekommen haben. Einige Zeit war er sehr, sehr sparsam mit der »Textur«. Das hat sich dann aber bald wieder gegeben.

Der Umblätterer: Kennst du einen Ernst-Jünger-Witz?

Wimbauer: Natürlich. Was ist der Unterschied zwischen Jesus und Wilflingen?

Der Umblätterer: Keine Ahnung.

Wimbauer: Wilflingen hatte nur einen Jünger!

Der Umblätterer: Unser erster Jünger-Witz und schon so ein Kracher.

Wimbauer: Noch einen?

Der Umblätterer: Äh, lieber nicht. Erzähl doch stattdessen bitte noch schnell die Anekdote, wie Liselotte Jünger mal sauer auf dich war und zur Strafe Rolf Hochhuth deine Telefonnummer gegeben hat.

»Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier!«

Wimbauer: Ja, Liselotte Jünger war offensichtlich mal böse auf mich. Das kam schon mal vor, nach der Sophie-Ravoux-Geschichte zum Beispiel. Die Scharte hatte ich dann aber mit dem Celan-Brief wieder ausgewetzt. Jedenfalls mutmaße ich das, denn eines schönen Tages, es muss 2000 oder 2001 gewesen sein, klingelte plötzlich das Telefon und Rolf Hochhuth war dran. Ich halte nicht sehr viel von seiner Lyrik und den Dramen, aber es ist doch nicht irgendwer.

Er habe meine Nummer von Liselotte Jünger bekommen, weil er mit drei Jünger-Zitaten nicht weitergekommen sei und ich die sicherlich wisse. Und er finde mein Jünger-Register so toll und habe ein Paket mit Büchern als Dankeschön gepackt, das er mir bald schicken wolle. Das erste Zitat konnte ich ihm aus dem Stegreif sagen, beim zweiten war’s eine Briefstelle von Wolfgang Jünger, die Ernst Jünger in den »Strahlungen« zitiert, und zum dritten sagte ich ihm: »Das klingt nicht nach Jünger, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg.«

So weit, so gut. Zwei Tage später klingelte das Telefon: »Wimbauer.« – »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier, haben Sie das dritte Jünger-Zitat gefunden?« – »Ich finde ja nicht, dass das nach Jünger klingt, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg.« Nach ein paar Tagen wiederholte sich das (»Und, haben Sie das Zitat gefunden?«) und dann bin ich nicht mehr rangegangen, wenn die Nummer von Grenzach-Wyhlen angezeigt wurde.

Ein halbes Jahr später klingelte wieder das Telefon, die Nummer hatte ich nicht mehr präsent und ging also ran: »Wimbauer.« – »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier, ich bin auf der Suche nach einem Jünger-Zitat!« Und er erzählte mir abermals, wie toll er mein Jünger-Register finden würde und dass er ein Paket mit Büchern für mich dastehen habe. Das Zitat war das von vor einem halben Jahr. Also sagte ich mein Sprüchlein: »Ich finde ja nicht, dass das nach Jünger klingt, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg«.

Dann kam seine angekündigte Post. Ein Reclamheft mit Hochhuth-Porträt in Goethe-mit-Lorbeerkranz-Manier vorne drauf und einer freundlichen Widmung. Ich zog dann aus Freiburg weg und habe nie wieder von ihm gehört. »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier!« ist bei uns aber zum geflügelten Wort geworden. Das zweite Zitat fand ich dann als Motto bei einem seiner Theaterstücke gedruckt. Den gefälschten Freisler-Brief hat er wohl noch bis heute als echtes Dokument in seinen Äußerungen zu Jünger. Nun ja.

Der Umblätterer: Frau Stolz-Wimbauer, Herr Wimbauer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Könnten wir bitte noch etwas von dem Tiramisù haben?

Es geht in den vielen Stunden auch um noch ein paar andere Themen, meist angetrieben durch einen hervorgezückten Band aus den Antiquariatsregalen. Zwischendurch posiert Wimbauer mit gezogener Pistole (einer Röhm RG 9) und dem Band »Tristesse Royale«, der Biowein fließt in Strömen.

Es scheint hier also tatsächlich alles irgendwie zusammenzupassen. Jünger und Twitter. Antiquariat und Popliteratur. Biokost und Stahlgewitter.

Tristesse Royale!
 

Vossianische Antonomasie (Teil 16)

Leipzig, 1. Dezember 2010, 18:08 | von Paco

 

  1. der Heiner Geißler der Popmusik*
  2. der vietnamesische Feridun Zaimoglu
  3. der Karl-Heinz Köpcke der islamischen Mystik
  4. der Mount Everest der Masturbation
  5. der Mario Barth der gebildeten Stände

*Mit Dank an Dirk Diggler.