Archiv des Themenkreises ›Buchbuch‹


100-Seiten-Bücher – Teil 132
Agatha Christie: »Das Geheimnis von Greenshore Garden« (1954/2014)

München, 17. Dezember 2018, 08:55 | von Josik

Agatha Christies Hundertseiter »Das Geheimnis von Greenshore Garden« wurde unglaublicherweise erst 38 Jahre nach ihrem Tode veröffentlicht. Es geht da um eine Art Krimi-Dinner, welches von einem Upper-Class-Engländer ausgerichtet wird, der für die Ausarbeitung der Einzelheiten die berühmte Krimi-Autorin Ariadne Oliver engagiert. Der allerdings kommt irgendwann irgendwas komisch vor, weswegen sie ihren alten Buddy Hercule Poirot herbeiruft.

Die Story ist auch eine Art Metaroman, denn Mrs Oliver sagt einen Vortrag ab, in dem sie hätte darlegen sollen, wie sie ihre Bücher schreibt: »[W]as kann man schon darüber sagen, wie man seine Bücher schreibt? Ich meine, erst denkt man sich etwas aus, und wenn man es sich ausgedacht hat, muss man sich zwingen, sich hinzusetzen und es zu schreiben. Mehr ist das nicht!« (S. 102f.)

Hochsympathisch von Agatha Christie finde ich, dass sie den eingebildeten Schnösel Hercule Poirot als jemanden darstellt, der genau genommen jetzt nicht so der große Checker ist. Zum einen hat er halt einfach immer Glück, weil praktisch alle, denen er über den Weg läuft, ihm sofort – und ohne dass er sie überhaupt danach gefragt hätte – ihre komplette Lebensgeschichte reindrücken. Zum anderen löst er in diesem Buch den Fall durchaus nicht unverzüglich, sondern erst zwei Monate nach der Tat und sogar das erst, als ein Typ von der Polizeidienststelle, die im Gegensatz zu ihm offiziell mit den Ermittlungen betraut ist, ihn besucht, um mit ihm zu plaudern.

Zu diesem Zeitpunkt, also wie gesagt zwei Monate nach der Tat, gerüchtet Poirot zwar, dass er »es schon seit einiger Zeit weiß« (S. 107), aber gut, das kann man jetzt glauben oder nicht.

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Agatha Christie: Das Geheimnis von Greenshore Garden. Ein Fall für Hercule Poirot. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Hamburg: Atlantik 2015. S. 13–123 (= 111 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 131
Clara Zetkin: »Erinnerungen an Lenin« (1924/1926)

München, 16. Dezember 2018, 10:55 | von Josik

Karl Ove Knausgård hat vor einiger Zeit den wohl dümmsten Text seit »Mein Kampf« veröffentlicht: »Gibt es einen guten Schriftsteller, der einen Hund hat?«, fragt dort der ehemalige Hundehalter Knausgård und beantwortet seine Frage gleich selbst: »Flaubert hatte keinen … Kafka hatte keinen Hund, Hamsun hatte keinen Hund, Sandemose hatte keinen Hund. Tor Ulven hatte keinen Hund … Ibsen, hatte er einen Hund? Nein.« Usw. usw. Es lohnt sich wirklich nicht, auch nur eine Sekunde länger bei diesem Hundeunsinn zu verweilen. Reden wir lieber über Katzen.

Denn Clara Zetkin wartet in ihren »Erinnerungen an Lenin« mit sehr süßem Cat Content auf. Sie berichtet u. a., wie sie Lenin in seiner Privatwohnung im Kreml besucht habe, der Hausherr allerdings erst kurz nach ihr eingetroffen sei: »Als Lenin kam und etwas später, von der Familie aufs freudigste begrüßt, eine große Katze erschien, die dem ›Schreckensführer‹ auf die Schulter sprang und es sich dann auf seinem Schoß bequem machte, hätte ich wirklich wähnen können, daheim zu sein oder bei Rosa Luxemburg und ihrer für die Freunde geschichtlich gewordenen Katze ›Mimi‹.« (S. 14)

Wie Lenins Katze hieß, erfährt man leider bis zum Schluss des Buches nicht. Das ist aber nicht so schlimm, denn glücklicherweise treten in diesem Buch noch viele andere Säugetiere auf, zum Beispiel Ernst Reuter, nach dem bekanntlich der schönste Platz Berlins benannt ist.

Anhang:
Lenin mit Katze auf dem Arm (Wikimedia Commons)

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin. Mit einem Anhang – Aus dem Briefwechsel Clara Zetkins mit W. I. Lenin und N. K. Krupskaja. Berlin: Dietz 1961. S. 3–99 (= 97 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 130
Annemarie Schwarzenbach: »Lyrische Novelle« (1933)

München, 15. Dezember 2018, 11:25 | von Josik

Weil ich demnächst mal wieder in die Schweiz fahre, lieh ich mir im Gasteig zur Vorbereitung auf diese Reise die »Lyrische Novelle« der Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach aus. Das Exemplar, das im Magazin der Münchner Stadtbibliothek vorrätig ist, endet auf Seite 114, und zwar mit folgendem Satz aus dem angehängten Essay von Roger Perret: »Kein Wunder, dass die Mutter gegenüber den Büchern von«. Nanu?

Da ich nicht annehme, dass es sich bei diesem Essay um ein literaturhistorisch irgendwie bedeutsames kryptoromantisches Fragment handelt, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass in dieser Ausgabe einfach ein paar Seiten fehlen. Dafür sprechen zwei Gründe: Erstens, dass das besagte Exemplar total zerfleddert ist und im Grunde nur noch aus lauter einzelnen losen Seiten besteht. Zweitens, dass diese Ausgabe laut den Angaben der Deutschen Nationalbibliothek nicht 114, sondern 147 Seiten dünn ist.

Nun aber endlich zu der supersten und stilistisch eigentümlich flirrenden »Lyrischen Novelle« selbst. Eigentlich finde ich Spoiler nicht gut. Hier muss ich aber eine Ausnahme machen. Nachdem das Buch erschienen war, bezeichnete Annemarie Schwarzenbach als den »Hauptfehler« der Geschichte nämlich Folgendes: »Der zwanzigjährige Held ist […] kein Jüngling, sondern ein Mädchen – das hätte man eingestehen müssen« (S. 100).

Also, Leute, wenn ihr demnächst die »Lyrische Novelle« lest, dann stellt Euch bitte keinen Ich-Erzähler vor, sondern eine Ich-Erzählerin!

Vielen Dank.

Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Annemarie Schwarzenbach: Lyrische Novelle. Mit einem Essay von Roger Perret. Basel: Lenos 1988. S. 5–97 (= 93 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 129
Irmgard Keun: »D-Zug dritter Klasse« (1938)

München, 14. Dezember 2018, 17:43 | von Josik

Gegen Ende der Lektüre dieses Buches fiel mir wieder dieses Lied ein, das ich vor mehreren Jahrzehnten, als Kind, ein paarmal im Fernsehen gehört hatte: »Augen auf, Ohren auf, Helmi ist da.« An den Inhalt der Helmi-Sendungen habe ich merkwürdigerweise keine Erinnerung, aber dieses Augen-auf-Ohren-auf-Helmi-ist-da-Intro ist das wahrscheinlich eingängigste Lied, das jemals komponiert wurde, und man kriegt es einfach nie wieder aus dem Kopf raus. Bei der mehrsekündigen Recherche zu diesem Text hier habe ich zu meiner Überraschung soeben festgestellt, dass es die Helmi-Sendung immer noch gibt, und krasserweise hat Helmi mittlerweile sogar einen eigenen YouTube-Kanal mit momentan 76 Abonennt*innen.

Das Ganze fiel mir also wieder ein, weil in Irmgard Keuns hinreißendem Roman »D-Zug dritter Klasse« kurz vor Ende eine Figur auftaucht, die Helmi Kanister heißt. Man fragt sich ja oft, was Autor*innen reitet, ihren Figuren die und die Namen zu geben, but, I mean, »Helmi Kanister«! Das ist ja wohl der superste Name in der deutschen Literatur überhaupt! Und der Name passt zu diesem Roman wie die Hülle vom iPhone 7 Plus auf das iPhone 7 Plus, denn Irmgard Keun erzählt so spritzig, so witzig, so hintergründig, so untergründig, dass es eine götterfunkende Freude ist.

Und fragte mich jemand, welche von hundert Hundertseiterinnen ich ganz besonders empfehlen würde, so antwortete ich, ohne zu zögern: diese!

Länge des Buches: ca. 220.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Irmgard Keun: D-Zug dritter Klasse. Roman. Ungekürzte Ausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990. S. 3–100 (= 98 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 128
Natalia Ginzburg: »Anton Čechov. Ein Leben« (1989)

München, 11. Dezember 2018, 12:05 | von Josik

Die meisten Biografien sind ja viele hunderte, wenn nicht sogar tausend oder noch mehr Seiten dick, aber Natalia Ginzburg hat vorgemacht, dass es auch elegant geht: Ihre herrliche Čechov-Biografie hat auf fast genau hundert Seiten Platz, ist also etwas länger als ein durchschnittlicher Wikipedia-Eintrag, liest sich freilich viel literarischer als ein Wikipedia-Eintrag, und das Büchlein ist sogar noch garniert mit sehr schönen Fotos.

Im Paratext der deutschen Ausgabe steht: »Die Originalausgabe erschien 1989 als Vorwort der von der Autorin herausgegebenen Ausgabe Anton Čechov. Vita attraverso le lettere bei Guilio [sic!] Einaudi editore in Turin.« Nun ist es ja bei sehr vielen Büchern so, dass man das tolle Vorwort als eigenes Buch herausbringen und sich den Rest des Buches einfach sparen sollte, aber hier wurde diese Idee, zack, einfach mal in die Tat umgesetzt.

Natalia Ginzburg hat übrigens nicht nur eine fantastische Lebensbeschreibung von Čechov verfasst, sondern auch eine wunderbare Todesbeschreibung:

»Am 1. Juli erwachte er nachts und sagte zu Olga, sie solle einen Arzt holen (…). Doktor Schwoerer kam um zwei Uhr morgens (…). Der Arzt gab ihm eine Kampferspritze. Dann wollte er nach einer Sauerstoffflasche schicken. Čechov sagte: ›Es ist sinnlos. Bis sie sie herbringen, bin ich schon tot.‹ Da ließ der Arzt Champagner kommen. Čechov nahm das Glas, das man ihm anbot, und sagte: ›Ich habe so lange keinen Champagner mehr getrunken.‹ Er leerte das Glas und drehte sich auf die Seite. Kurz darauf atmete er nicht mehr.« (S. 103f.)

Einfach noch mal ein Gläschen Champagner trinken und dann sterben – das ist doch eine superste Todesart, die hiermit unbedingt zur Nachahmung empfohlen wird.

Länge des Buches: ca. 110.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Natalia Ginzburg: Anton Čechov. Ein Leben. Aus dem Italienischen von Maja
Pflug. Berlin: Klaus Wagenbach 2009. S. 3–103 (= 101 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 127
Ulla Berkéwicz: »Über die Schrift hinaus« (2018)

München, 9. Dezember 2018, 18:50 | von Josik

Es war so. Bei der Nachbereitung zu meiner neusten Ulla-Berkéwicz-Lektüre hatte ich mich heillos in die IMDb verstrickt und in der Folge eine lange Epistel über Berkéwiczʼ Filmrollen von den Sechzigern bis Achtzigern verfasst, über Rollennamen (Ödipa!), Querverbindungen zwischen Regisseuren (Michael Kehlmann!) und Mitschauspielerinnen (Barbara Sukowa!), über die Musik zu all den Filmen (Udo Lindenberg!), quasi eine kleine Filmbiografie der Dichterschauspielerin.

»Was the fuck soll das?«, hatte mir das Lektorat ungewöhnlich unfreundlich an den Rand meines Manuskripts geschrieben, und ich hatte geantwortet, dass das doch der verdammte Sinn dieser Reihe sei, über Hundertseiter zu schreiben, ohne deren Inhalt überzubewerten.

Jedenfalls, im ersten Teil ihres neuen Buches »Über die Schrift hinaus« geht es Berkéwicz um nicht weniger als darum, Paranormalität auf eine rationalistische Grundlage zu stellen. Was nach einem ambitionierten, komplexen, ja schier unmöglichen Unterfangen klingt, erweist sich aber als verblüffend überzeugend: »Glaubt denn ein einziges liebes Lieschen noch, daß es in Cyberräumen keine Gespenster gibt?« (S. 17). Natürlich nicht, Jens Friebe hat sogar ein Lied darüber geschrieben.

Und auch bei Berkéwicz ist, wie überall, von Disruption die Rede: »›To disrupt‹ ist das am häufigsten gebrauchte Verb der fundamentalistisch-religiösen Welt« (S. 23). Es ist zwar nicht ersichtlich, auf Basis welcher Statistik das behauptet wird, aber eigentlich, wie gesagt, wollte ich darüber auch gar nicht schreiben.

Der Hammer aber ist der plötzliche Turn vom Populär-Quasiwissenschaft­lichen ins Jovial-Literarische. Berkéwicz schildert ihre teilweise verstorbene, teilweise noch lebende literarische Umgebung und verlegt die ganze Szene nach Wien: Friederike Mayröcker sitzt in irgendeinem Kaffééhaus, wo Berkéwicz ja auch ihren Accent aigu herhaben dürfte, und ruft Sätze wie diese: »Da von der Decken hängen rote Naserln und machen ihr langes Ätsch, die Luftballonerln sind kurz vorm Platzen, und das Konfetti weiß von nix« (S. 73). Ulla Berkéwicz fügt an: »Die Donau rauscht, es zieht, die Naserln niesen, die Schlangerln wehn, die Luftballonerln streifen durchs Gewölb, und das Konfetti stiebt« (S. 74).

Auch Grigori Perelman, Ann Cotten und Ingeborg Bachmann kommen irgendwie noch ins Spiel, und so-so herrlich wird die Szenerie beschrieben:

»›Rosebud, der Dritte Mann, nimmt alle Schuld auf sich‹, die Cotten weiß es. ›Der buckelt die Wiener Kindertotenlast von 1945, der oame Hirsch. Der fühlt sich wohl net wohl in der Gemeinde Wien, man siehts ihm an. Verzweiflungsgrade, die man nicht möcht messen müssen.‹ ›Dreinschaun tut der‹, flüstern die Bücklingskellner hinter vorgehaltner Hand, ›da hebts dirn Magen aus! Der scheißt sich in die Hosen‹, flüstern die. ›Ja, Schnecken! Der steckt doch eh schon im Kanalsystem. Wann der anstatt von seinem Panschpenicillinium in Grinzing aufm Schwarzmarkt die Judenstern verscheppert hätt, mitsamt dem Zwirn dazu zum aufs G’wand draufnähn, dann hätt der ein Geschäft gemacht. Hernach wollt jeder Jud sein, stimmts? Sogar der Jud wollts, stimmts? Und hätt für das Gehabte hernach noch draufgezahlt. Der muß auf d’Nacht noch in die Prosektur nach Simmering, oda direkt nach Hitzing, ins Leichenschauhaus, bisser saftelt, oda gleich aufn Anasiebziger, ab zum Zentralfriedhof, Tor Nummer 4, wo die, die die Stern seinerzeit aufm G’wand g’hobt hobm, jetzert Wurzeln schlagn oda net. Na servas! Und dazu blos mer aufm Fotzhobel a Halleluja oda zwa.‹« (S. 95f.).

Und in diesem herrlichen Style geht es einfach immer weiter, bis das Buch dann eben irgendwann endet. Zwei Hallelujas auf dem Fotzhobel! So-so herrlich!

Länge des Buches: ca. 160.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Über die Schrift hinaus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018. S. 5–112 (= 112 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 126
Elizabeth C. Gaskell: »Sechs Wochen in Heppenheim« (1862)

München, 7. Dezember 2018, 09:55 | von Josik

Um nicht selber nach Heppenheim fahren zu müssen, habe ich kürzlich Elizabeth Gaskells Text »Sechs Wochen in Heppenheim« gelesen. In meiner Naivität dachte ich, dass Elizabeth Gaskell (1810–1865) auf einer ihrer Deutschlandreisen mal sechs Wochen Urlaub in Heppenheim gemacht und danach eine schöne Ortsbeschreibung von Heppenheim veröffentlicht habe, und eben die hätte mich sehr interessiert. Meine Vorstellung erwies sich aber schon nach wenigen Zeilen als Irrtum, denn Gaskell hat zwar durchaus Deutschlandreisen unternommen, aber »Sechs Wochen in Heppenheim« ist ein rein fiktionaler und trotzdem superster Text.

Die aktuellste deutsche Übersetzung dieser Heppenheim-Geschichte stammt von der Anglistik-Professorin Maria Diedrich und ist als Band 1 in der Heppenheimer Schriftenreihe erschienen. Diese Reihe wird vom Magistrat der Kreisstadt Heppenheim herausgegeben. Wie Maria Diedrich in ihrer Einleitung schreibt, war bereits 1973 eine deutsche Übersetzung von »Sechs Wochen in Heppenheim« erschienen, und zwar angefertigt von der Heppenheimerin Erika Hammann. Maria Diedrich selbst lebt, der biografischen Notiz zufolge, ebenfalls in Heppenheim.

Das sehr ansprechend gestaltete Buch ist außerdem angereichert um einen Text von Werner Wirth mit dem Titel »Heppenheim und der ›Halbe Mond‹ zwischen 1830 und 1850«. Werner Wirth war, der biografischen Notiz zufolge, Lehrer in Heppenheim. Das vorliegende Buch »Sechs Wochen in Heppenheim« wurde auch in Heppenheim gedruckt. Gaskells Erzählung ist allerdings derart toll, dass man von der Lektüre auch dann profitiert, wenn man selber mit Heppenheim eigentlich gar nichts zu tun hat.

Alle Heppenheimer kennen diese schöne Heppenheim-Story wahrscheinlich längst, daher möchte ich sie hiermit noch ganz besonders allen Nicht-Heppenheimern sehr ans Herz legen. Ein Band 2 der damals, 1991, extra gegründeten Heppenheimer Schriftenreihe ist übrigens wohl nie erschienen.

Länge des Buches: ca. 110.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Elizabeth C. Gaskell: Sechs Wochen in Heppenheim. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Maria Diedrich. Historischer Beitrag von Werner Wirth. Heppenheimer Schriftenreihe Band 1. Herausgegeben vom Magistrat der Kreisstadt Heppenheim an der Bergstraße. Dezember 1991. S. 20–60 (= 41 Textseiten). Das komplette Buch hat 103 Seiten.

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100-Seiten-Bücher – Teil 125
Marguerite Duras: »Sommer 1980« (1980)

München, 5. Dezember 2018, 10:10 | von Josik

Marguerite Durasʼ »Sommer 1980« ist der Prototyp des Feuilletonismus: Es geht buchstäblich um gar nichts, aber das wird in einem Ton vermittelt, als ginge es um alles. Das kam so: Serge July, der Gründer der Libération, fragte Marguerite Duras, ob sie nicht Lust hätte, für seine Zeitung eine Chronik zu schreiben, »die nicht von der politischen Aktualität oder irgend etwas Aktuellem handelt, sondern von einer anderen Gegenwart, die parallel dazu verläuft, Ereignissen, die mich [= Duras] interessieren und in der normalen Berichterstattung kaum vorkommen« (S. 9). Es dauerte etwas, bis die beiden sich auf die Modalitäten einigen konnten, aber dann stand der Plan: Eine Dreimonatschronik des Sommers 1980 sollte es werden.

Die einzigen Dinge, die nun passieren, sind folgende. Erstens: Marguerite Duras verbringt den Sommer im Küstenstädtchen Trouville, das, weil grade Hochsaison ist, von Touristen überrannt wird. Zweitens: In Durasʼ Häuschen gibt es einen Fernseher, den sie manchmal einschaltet. Sonst passiert nichts. Auf diese Weise entsteht der hanebüchenste Anfang der Weltliteratur: »So schreibe ich denn für Libération. Ich habe kein Sujet. Aber vielleicht braucht es das gar nicht. Ich glaube, ich werde über den Regen schreiben. Es regnet.« (S. 12). Duras schickt also ihre zehn Berichte an Libération, schildert wie vereinbart ihre extrem unaufregenden Erlebnisse und verknust das Ganze mit ein paar Gedanken zur Lage im allgemeinen: Es regnet, Touristen kommen, die Olympischen Spiele in Moskau beginnen, in Trouville regnet’s, Sadat führt den Leichenzug des Schahs von Persien an, Touristen Touristen Touristen, Faschismus nein danke, es regnet.

Aber dann! In ihrem sechsten Bericht bricht Duras in eine unbeschreibliche Euphorie aus. Es beginnen nämlich die Streiks auf der Danziger Werft:

»Ich rufe die Auskunft an, ich erkundige mich nach dem genauen Namen der polnischen Fluggesellschaft. Sogleich antwortet ein junger Mann: LOT, gibt mir die Adresse und Telephonnummer. Er sagt: Sie werden keinen Platz in den Flugzeugen nach Danzig bekommen … Wir unterhalten uns einige Minuten lang. Er ist für den Streik … endlich kann ich mit jemandem über Danzig sprechen … Es ist ein Uhr morgens, auch er hat Lust, sich zu unterhalten … Er fragt mich: wer sind Sie, eine Journalistin? Ich sage: nein, nichts dergleichen, ich hätte nur Lust gehabt, mit jemandem über Danzig zu sprechen. Ach so. Ja, sag ich. Er sagt, es komme oft vor in der Nacht, daß die Leute reden wollten …« (S. 63f.)

Und das ist doch einfach geil, dass die Libération und der Suhrkamp Verlag drucken, wie Marguerite Duras sich dafür abfeiert, dass sie nachts um eins die Auskunft mit der Frage nach dem genauen Namen der polnischen Fluggesellschaft prankt, nur um endlich mit irgendjemandem, und sei es der Auskunftheini, über den Streik auf der Danziger Werft politisieren zu können, und let’s face it, Leute, auch daran, an dieser publizistischen Großtat, ist der Sozialismus letztlich zugrunde gegangen!

Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Marguerite Duras: Sommer 1980. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. S. 5–106 (= 102 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 124
Ingeborg Bachmann: »Frankfurter Vorlesungen – Probleme zeitgenössischer Dichtung« (1978)

München, 3. Dezember 2018, 23:15 | von Josik

Bei der Lektüre von Ingeborg Bachmanns fünf Frankfurter Poetikvor­lesungen aus dem Wintersemester 1959/60 – erstmals vollständig veröffentlicht 1978 – habe ich viel über das Schlagsahnebedürfnis der Bevölkerung nachgedacht. In ihrer ersten, am 25. November 1959 gehaltenen Vorlesung mit dem Titel »Fragen und Scheinfragen« sagt Ingeborg Bachmann: »[D]ie Leute brauchen heute Kino und Illustrierte wie Schlagsahne« (S. 21). Nun soll man zwar nicht von sich auf die Leute schließen, aber ich jedenfalls brauche Schlagsahne jetzt eigentlich nicht so dringend.

In der zweiten, am 9. Dezember 1959 gehaltenen Vorlesung, die den Titel trägt: »Über Gedichte«, gibt Ingeborg Bachmann ihrer Zuhörerschaft einen tollen Tipp: »Bekanntgemacht […] mit all den neuen Dichtern, die es gibt, werden Sie jetzt nicht – wozu sollte es führen, es gibt […] Gedichtbände, die in den Bibliotheken zu haben sind, da können Sie sich informieren« (S. 25).

Die dritte Vorlesung trägt den Titel: »Das schreibende Ich«, die vierte: »Der Umgang mit Namen«. Auch diese beiden Vorlesungen sind absolut superst. Umso befremdlicher ist es, wie schlampig die Frankfurter Uni ihrer Chronistenpflicht nachgekommen ist. Jedenfalls steht in der editorischen Nachbemerkung dieses Bandes: »Das Sekretariat des Präsidialamtes der Frankfurter Universität hat lediglich drei Vorlesungsdaten verzeichnet […]. Die genauen Vorlesungsdaten der dritten und vierten Vorlesung sind nicht mehr festzustellen« (S. 97).

In ihrer fünften, am 24. Februar 1960 gehaltenen Vorlesung mit dem Titel »Literatur als Utopie« gibt Ingeborg Bachmann, auf Seite 92, die beste Definition von »Literatur« ever: Literatur, schreibt sie, sei ein »mehrtausendjähriger Verstoß gegen die schlechte Sprache«. 🤣

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen – Probleme zeitgenössischer Dichtung. München: Piper 1980. S. 5–95 (= 91 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 123
»Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« (1949/2017)

München, 3. November 2018, 20:55 | von Josik

Kleinen Kindern und Deutschlernenden sollte man zum Deutschlernen nicht unbedingt das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« in die Hand drücken. Denn sowohl in der Präambel als auch in Art. 1 Abs. 2 heißt es: »das Deutsche Volk«. Das Adjektiv ist großgeschrieben! Für diese Großschreibung kann man gewiss historische, ideologische und Pipapo-Gründe anführen, aber das ändert natürlich nichts daran, dass diese Schreibweise falsch ist. Adjektive werden im Deutschen nun mal kleingeschrieben.

Art. 7 Abs. 6 lautet: »Vorschulen bleiben aufgehoben.« Die betreffenden Gesetzeskommentare erläutern, dass hiermit nicht jene Vorschulen gemeint sind, die wir alle besucht haben, sondern irgendwelche anderen Vorschulen. In Art. 12 Abs. 3 steht etwas für eine Demokratie so Selbstverständliches, dass man sich wundert, dass dies überhaupt aufgeschrieben wurde. Nämlich: »Zwangsarbeit ist […] verboten.« Sorry folks, das war natürlich ein Scherz. In Tat und Wahrheit steht in Art. 12 Abs. 3 selbstverständlich das genaue Gegenteil: »Zwangsarbeit ist […] zulässig.«

Art. 26. Abs. 1 legt fest: »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, […] die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.« Wie der Generalbundesanwalt festgestellt hat, ist »[n]ach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift […] nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar«. Bei Angriffskriegen, die nicht vorbereitet wurden, kann man also beruhigt schlafen.

Meine Lieblingsworte im Grundgesetz sind: »Kauffahrteischiffe« (Art. 27), »Jagdscheine« (Art. 72 Abs. 3), »Sprengstoffrecht« (Art. 73 Abs. 1 Nr. 12), »Spielhallen« (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11), »Bergarbeiterwohnungsbaurecht« (Art. 74 Abs. 1 Nr. 18), »Vergleichsstudien« (Art. 91d), »Machtvollkommenheit« (Art. 104 Abs. 2) und »Biersteuer« (Art. 106 Abs. 2 Nr. 4). In Art. 143b Abs. 2 stehen drei Begriffe, die freilich von ganz besonderer Wichtigkeit sein müssen, denn es sind die einzigen drei Worte im Grundgesetz, die in Versalien geschrieben sind. Es sind die Worte »POSTDIENST«, »TELEKOM« und abermals »POSTDIENST«.

Die Quatschwendung »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« hat es leider auch ins Grundgesetz hineingeschafft, nämlich in Art. 96 Abs. 5 Nr. 2. Eigentlich sollte sich inzwischen ja herumgesprochen haben, dass es sich hier um einen etwas niedlichen false friend handelt und »crimes against humanity« korrekterweise mit »Verbrechen gegen die Menschheit« zu übersetzen ist. Hannah Arendt hat in »Eichmann in Jerusalem« (10. Aufl., Piper 2014, S. 398f., Hervorhebungen im Original) schon alles gesagt, was dazu zu sagen ist: »Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Londoner Statut hat […] die ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ als ›unmenschliche Handlungen‹ definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ geworden sind – als hätten es die Nazis lediglich an ›Menschlichkeit‹ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.«

Insgesamt liest sich das Grundgesetz in kürzester Zeit weg, vor allem dank der erfreulich vielen Leerzeilen zwischen den ganzen Artikeln. So ungefähr in der Mitte scheint das Grundgesetz kurz an Spannung zu verlieren und ein bisschen dröge zu werden, aber dieser Schein trügt. Beispielsweise in Art. 61 geht’s darum, dass das Bundesverfassungsgericht den Bundespräsidenten des Amtes für verlustig erklären kann. Es wäre doch bombe, wenn dieser Fall einmal IRL eintreten würde. Da könnten Tom Tykwer und seine Buddys dann auch gleich ne superste Serie draus machen: »Babylon Karlsruhe«.

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen. – Ausgaben:

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe mit Stichwortregister. Stand: Juli 2017. Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Redaktion: Dr. Birgitta Gruber-Corr, Dr. Miriam Shabafrouz. S. 3–144 (= 142 Textseiten).

[Dieses Buch erscheint anonym. Das ist logisch, da es permanent von unbekannten Gesetzgebern umformuliert wird. Die Erstfassung allerdings erstellten Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber, Helene Wessel und 61 weitere Nasen.]

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)