Kurzes Interview zum 100-Seiten-Marathon

Hamburg, 18. Mai 2011, 16:36 | von Dique

Richard Deiss ist leidenschaftlicher Zahlenfresser, Sammler und Books-on-Demand-Fanatiker. 20 seiner Bücher sind dort bereits erschienen, darunter Sammlungen von Städte-, Stadtteil- und Gebäudebeinamen. Ein weiteres Faible sind Buchladentouren, bei einer haben wir ihn letzten August begleitet (Teil 1, Teil 2, Teil 3). Nach diesem Wochenende zeigte sein Pedometer 222.222 Schritte an, wie er uns später per E-Mail mit­teilte. Als Richard von unserem Kanon hundertseitiger Bücher erfuhr, fing er sofort zu lesen an.

Der Umblätterer: Richard, du hast jetzt einfach mal so ein paar Dutzend 100-Seiten-Bücher gelesen.

Deiss: Ja, ich bin ja Geograph, lese meistens nur Sachbücher und habe leider nicht Literatur studiert, bin also ein bisschen hinterher mit der Literaturlektüre, da nehme ich als Listenfan solche Kanonsachen immer ganz gern als Anlass, Bildungslücken abzubauen.

In den Weihnachtsferien habe ich Fritz J. Raddatz’ »Tagebücher 1982–2001« gelesen, was mein Interesse für Literatur geweckt hat, und ich habe mich daran erinnert, dass Raddatz damals diese ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher herausgegeben hatte. Dieser blaue Suhrkamp-Band war in den 1980er Jahren meine Kanon-Bibel. Ich kam bis zum 25. Buch, und mich reute es in späteren Jahren immer, dass ich nicht weitergemacht hatte.

Da ich mit den Raddatz-Tagebüchern am 1. Januar durch war und diese Lektüre wie gesagt sehr anregend war, kam es zum Neujahrsvorsatz, in diesem Jahr pro Woche zwei Bücher zu lesen, also nicht nur Hundertseiter, auch längere Bücher, aber das Pensum ist natürlich mit ein paar kurzen Texten dazwischen viel realistischer. 27 Hundertseiter aus eurem 100-Seiten-Kanon habe ich inzwischen durch, also um die 2.700 Seiten (plus 13 Bücher des Kanons, die ich schon vorher gelesen hatte). Deshalb schaue ich immer wieder auf eure Liste, ein Schatz­kästlein der Literatur, das mich einen Edelstein nach dem anderen entdecken lässt.

Der Umblätterer: Zum Beispiel?

Deiss: Begonnen habe ich mit Melvilles »Bartleby«, das hat mich gleich umgehauen. Und ich hatte die Hoffnung, dass sich unter den ausstehenden 100-Seiten-Büchern noch weitere »Bartlebys« finden. Beeindruckt hat mich dann auch »Leutnant Burda« von Ferdinand von Saar. Ich kannte den Autor vorher gar nicht. Der Text liegt gerade ausgedruckt auf meinem Schreibtisch, und immer, wenn ich draufschaue, spricht die Schlüssigkeit der Geschichte mich gleich wieder an, sie ist stimmig erzählt und sehr spannend bis zu ihrem tragischen Schluss.

Der Umblätterer: Du hast den Text zum Lesen ausgedruckt, aus dem Internet?

Deiss: Ja, viele eurer Hundertseiter sind ja online, im Projekt Gutenberg oder bei zeno.org.

Der Umblätterer: Sind das dann zuverlässige Textversionen, oder gibt es da reihenweise Tipp- und OCR-Fehler?

Deiss: Soweit ich es beurteilen kann, ist die Qualität okay, Tipp- oder Scanfehler sind mir bisher eigentlich keine aufgefallen. Ich versuche natürlich trotzdem, möglichst viele der Hundertseiter in traditionellen Buchläden, die es ja weiterhin geben sollte, zu kaufen.

Der Umblätterer: Was ist dir sonst noch in Erinnerung?

Deiss: Nach »Bartleby« habe ich »Unterm Birnbaum« gelesen, auch das unglaublich spannend, und dann Aitmatows »Dshamilja« und Schnitzlers »Traumnovelle«. Alles tolle Bücher. Bei »Dshamilja« setzt Aragon in seinem Vorwort die Latte so hoch, dass man anfangs fast enttäuscht ist, doch das Buch nimmt einen dann doch mit.

Der Umblätterer: Zu welchen Gelegenheiten liest du die Bücher eigentlich so?

Deiss: »Dshamilja« zum Beispiel habe ich an einem Bahnwochenende gelesen. Ich habe an einem Tag Buchläden in drei Städten besichtigt (Trier, Saarbrücken und Ludwigshafen) und hatte ursprünglich kein anderes Buch dabei, da war es zusätzlich spannend, immer noch zu schauen, wo ich für die Bahnfahrt dazwischen schnell noch eines der Kurzbücher auftreiben konnte, denn andere Bücher mochte ich damals gar nicht lesen.

Leider landete ich dann immer in den Thalia-Filialen irgendwelcher Einkaufszentren, die alle gleich aussahen, aber dort hatten sie wenigstens einige der Hundertseiter von eurer Liste im Regal. Die Bücher hatten dann auch gerade die richtige Länge für die Fahrabschnitte zwischen den Städten. Allerdings förderte der Griff ins Kanon-Schatzkästlein auch ein paar dröge Brocken zu Tage.

Der Umblätterer: Welche denn?

Deiss: Zum Beispiel Fontanes »Grete Minde«. Da hatte ich mehr erwartet nach eurer vollmundigen Empfehlung. Schon der Anfang: Zwei Kinder sprechen herzig über Vöglein und Nestlein, es fiel mir schwer, da weiterzulesen. »Unterm Birnbaum« war viel spannender. »Grete Minde« dagegen ist eine heulsusig dahinplätschernde, für mich wenig spannende Geschichte, der am Schluss ein dramatisches Fanal aufgepfropft wird. Würde ich aus dem Kanon eher streichen, ein Fontane reicht.

Der Umblätterer: Und was noch?

Deiss: Auf jeden Fall die Sachbücher. Immer wieder ärgere ich mich bei der Lektüre, wenn ich eine spannende Geschichte erwarte und doch nur ein literaturbezogenes Sachbuch in der Hand halte. Ich würde die Liste auf genau 100 Titel begrenzen und die Sachbücher in eine eigene Liste übertragen und diese dann wiederum auf 100 ergänzen.

Der eben erwähnte ZEIT-Kanon mit 100 belletristischen Titeln wurde dann etwas später um eine Sammlung mit 100 Sachbüchern ergänzt, sehr lobenswert und auch von Raddatz herausgegeben. Bei den Sachbüchern kam ich allerdings auch nicht sehr weit, die lesen sich teilweise mühsamer als Belletristik, auch hier würde eine Liste der kurzen Werke helfen, deshalb bin ich froh, dass ich mit der Liste der Kurzwerke weitermachen kann.

Der Umblätterer: »Grete Minde« wird auf keinen Fall gestrichen, hehe.

Deiss: Schön übrigens, dass einer der ersten eurer Vorstellungstexte gleich Chamissos wirklich »wundersame Geschichte« ist, die habe ich jetzt erst am Freitag gelesen, ein wahrer Edelstein von Geschichte. Am Samstag dann noch Hemingways »Der alte Mann und das Meer«, ein wunderbares Buch, jetzt sind es, wie gesagt, mit den bereits früher gelesenen 38 aus der Liste, und ich möchte dieses Jahr noch auf 50 oder 60 kommen.

Der Umblätterer: Wie liegst du im Plan?

Deiss: Es sieht gut aus. Ich will ja nicht nur Kurzbücher lesen, aber weil ich mich in letzter Zeit darauf konzentriert habe und zum Beispiel zwischendrin dieses leseintensive Bahnwochenende hatte, bin ich meinen Leseplänen voraus, falle aber im Moment wieder ein bisschen zurück, da die Arbeitswoche hektisch ist. Zumindest den Klabund will ich aber bis morgen noch lesen, sind ja nur 45 Seiten.

Der Umblätterer: Wieder ausgedruckt?

Deiss: Ja, von Wikisource aus auf A4 ausgedruckt, da werden aus den 100 Seiten eben 45, die Textmenge bleibt natürlich hoffentlich die Gleiche. Aber vielleicht liest man schneller, wenn man im Hinterkopf die Zahl 45 hat und denkt, dass das ja nicht so viel ist.

Der Umblätterer: Kannst du vielleicht kurz erklären, was ein Hundertseitenbuch ist, in Abgrenzung zu anderen Textmengen?

Deiss: Also für mich ist es nur wichtig, dass es kurz ist, damit ich mit meinem 100-Bücher-Projekt vorankomme, die Abgrenzung auf eurer Liste habt ihr ja selbst definiert, ich glaube es sind Bücher mit zwischen 50.000 und 150.000 Zeichen oder so ähnlich.

Der Umblätterer: Das Maß ist 100.000 bis 225.000, durch lange Experimente bestimmt, unter Zuhilfenahme einiger Arno-Schmidt-Formeln! Was wirst du tun, wenn du hundert Hundertseiter gelesen hast?

Deiss: Durch die Liste bin ich zum Schnitzler-Fan geworden. Letzte Woche habe ich »Leutnant Gustl« gelesen, das war wieder mal großartig. Ich möchte unbedingt alle seine Werke lesen. Wenn ich damit fertig bin, möchte ich die 100 wichtigsten/besten Reisebücher lesen. Eine entsprechende Liste habe ich bereits erstellt und vor fünf Jahren auch schon mit dem Lesen angefangen, kam allerdings auch da erst bis Buch 25. Der Grund war, dass ich zu diesem Zeitpunkt begann selbst Bücher zu schreiben und keine Zeit mehr hatte. Da ich mein eigenes Veröffentlichungsprogramm Ende 2010 abgerundet habe, kann es mit dem Lesen wieder weitergehen, aber wie gesagt, im Jahr 2011 habe die Kurzbücher Vorrang.

Der Umblätterer: Welche drei Titel von der Liste fallen dir jetzt gerade spontan noch ein?

Deiss: Ok, also Stifters »Abdias«, ganz nett zu lesen, aber irgendwie fehlt der Spannungsbogen. Flex’ »Der Wanderer zwischen beiden Welten« …

Der Umblätterer: Flex, was? Wer hat den denn auf die Liste gesetzt! Ach so, ja, das war irgendwie als Ausgleich zu Christa Wolfs »Kein Ort. Nirgends« gedacht, wenn wir uns recht erinnern.

Deiss: Also wieso, ich fand Flex beeindruckend sprach- und bilderstark. Und »Frühstück bei Tiffany« hab ich auch noch lebhaft in Erinnerung, viel besser als der Film und im englischen Originaltext mit tollen Ausdrücken (»I’m the top banana of the shock department«). Aber was rede ich hier lang und breit herum, statt des Interviews hätte ich jetzt eigentlich schon wieder fünf Seiten lesen können.

Ende des Gesprächs. Inzwischen hat uns Richard wissen lassen, dass er nun auch mit »Tonio Kröger« durch sei. Habe ihn trotz unserer ausdrück­lichen Empfehlung wenig angesprochen, die Erzählung. Er stelle sie auf eine Stufe mit »Grete Minde«. Ansonsten werde er nächste Woche seinen 1000. Buchladen besuchen und habe sich dafür den »25books« in Berlin ausgesucht. Warten wir also auf neues Zahlenmaterial vom Pedometer.
 

Eine Reaktion zu “Kurzes Interview zum 100-Seiten-Marathon”

  1. Matthias

    Ich hatte zwar nicht die ehrgeizige Zahlenvorgabe, wollte aber streng von oben runter gehen. Prompt bin ich stecken geblieben, der Aira liest sich so belanglos wie selbstverliebt, gekünstelt wie beliebig. Ich schreibe jetzt einen Satz, der weder für einen Hundertseiter noch für Weltliteratur je gelten sollte, nämlich: Ich hoffe, da kommt noch was. Andernfalls stelle ich gern eine Rezension zur Verfügung; mit dem Tenor, dass das Beste am Buch der Klappentext war.

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