100-Seiten-Bücher – Teil 11
Thomas Mann: »Der Tod in Venedig« (1912)

Solingen, 12. August 2011, 07:04 | von Bonaventura

Der ältliche Schriftsteller Gustav Aschenbach, nobilitierter Dichter und Urenkel der deutschen Klassik, lässt sich für einen Moment gehen und weicht einer Schreibblockade aus, indem er in Urlaub fährt. In Venedig angekommen, verliebt er sich in einen 14-jährigen polnischen Knaben. Zwar versucht er dem Wieland’schen Rezept für Verliebte zu folgen und so rasch wie möglich fortzulaufen, auch eine Sublimierung ins Geistig-Platonische wird probiert, letztlich hilft aber nichts gegen den einmal ausgebrochenen Mangel an »Zucht« und Aschenbach bleibt auf der Strecke: Mit einem letzten Blick auf das Rückenstück des göttlichen Knaben erliegt er der Cholera, die er sich im unmoralischengesunden Klima Venedigs zugezogen hat.

Das Erstaunliche an den Texten Thomas Manns ist immer wieder, dass es ihm gelingt, aus dem dünnen Fädchen seines persönlichen Erlebens und Empfindens Erzählungen von bemerkenswert artifizieller Dichte zu stricken. »Der Tod in Venedig« ist, was Ornatus, Motivik, Vorausdeu­tung, Spiegelungen und Ringstrukturen angeht, eine Perle traditionel­ler Erzählkunst. Der Wechsel von ausgewogensten Satzungeheuern und kürzesten Sentenzen verleiht dem Erzähler – bei aller inhaltlichen Schwülstigkeit und Überfrachtung des Erzählten – gerade genügend ironische Distanz, um ihn nicht unerträglich werden zu lassen. Wenn irgend ein deutscher Schriftsteller mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Schneide eines Rasiermessers hat tanzen können, dann war es wohl Thomas Mann.

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen. – Ausgaben:

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. München: Hyperion-Verlag Hans von Weber 1912.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Novelle. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2007.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

3 Reaktionen zu “100-Seiten-Bücher – Teil 11
Thomas Mann: »Der Tod in Venedig« (1912)”

  1. Bonaventura » Blog Archive » Thomas Mann: Der Tod in Venedig

    […] (Die zweite Hälfte dieser Besprechung ist auch in der Reihe 100 Seiten beim Umblätterer erschienen.) Teilen:FacebookE-Mail Tags: Belletristik, Digitale Ausgaben, 20. Jahrhundert, Bürgertum, Deutsche Literatur, Erzählungen, Krankheit, Novelle, Schriftstellerei, Sexualität, Venedig […]

  2. Klaus

    „Ornatus, Motivik, Vorausdeu­tung, Spiegelungen und Ringstrukturen“
    Huch? wasesnichallesjiebt. Werd‘ mich gleich mal drum kümmern.

  3. johannes

    „Die Bügelfalte als Stilprinzip.“ Alfred Döblin über Thomas Mann.

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