Mit Siegfried Kracauer auf dem Weihnachtsmarkt

Konstanz, 28. November 2010, 13:50 | von Marcuccio

Kracauers Feuilleton »Weihnachtlicher Budenzauber« erschien in der »Frankfurter Zeitung« vom 24. Dezember 1932. Witzigerweise ist der 24. inzwischen ein Datum, an dem Weihnachtsmärkte, die Ende Oktober öffnen, schon lange wieder abgebaut sind. Mag auch sein, dass es 1932 noch keine Lebkuchen ab Ende August gab. Aber ansonsten hat sich wenig geändert:

Andrang

»eine unübersehbare Menschenmenge (…) bildet Knäuel, die zergehen, wälzt sich weiter und entschwindet wieder (…). Es ist, als sei das Gewimmel ein notwendiger Bestandteil der hölzernen Stadt.«

Lichterterror

»Hier in der Budenstadt wagt sich das Gelichter vollständig an den Tag. Es kriecht aus Ritzen und Schlupfwinkeln hervor und freut sich des Passierscheins, den man ihm in Erwartung der Feiertage gegeben hat. Solange sie dauern, währt seine Herrschaft.«

Weihnachtsmarktartikel

Kracauer beobachtet das klassisch zweigeteilte Angebot. Einerseits die sinnlosen »Dinge, die unserer Laune so sehr zu Willen sind, daß sie auf den leisesten Druck durch den Hohlraum der Feiertagszeit hüpfen«. Zum Beispiel Aufziehspielzeug:

»Die Katze lupft ein Bein, der Esel streckt Zunge und Schwanz raus, und die graue Maus, der ›Schrecken der Damenwelt‹, huscht pfeilgeschwind über den Boden. Es muß schön sein, wenn die Damen quietschen und sich hinterher alles in Wohlgefallen auflöst.«

Daneben jede Menge »Puppengeschöpfe« und »Dämonen, die sich das ganze Jahr über nicht austoben dürfen« – etwa dieser Arcimboldo aus Kurzwaren:

»Seine Gliedmaßen sind Garnspulen und -rollen, und das ganze Gestell wird von einem Seidenstern gekrönt. Wehe, wenn ihn einer abwickelte. Dann verschwände die drollige Schrecklichkeit, und das Fadenmännchen wirkte zu unserem Verderben wieder hinter den Kulissen.«

Andererseits »handfeste Waren«, die man eigentlich das ganze Jahr kaufen könnte:

»Seifen, Krawatten, Parfümerien, Schals (…), die sich über ihre nichtsnutzige Nachbarschaft erhaben dünken. Sie liegen in Koffern zur Schau, die so billig sind wie sie selber, und fordern seriöse Beachtung. Aber wenn sie auch noch so wichtig tun, gehören sie darum doch nicht minder zur Bagage ringsum. Man hat sie aus den Geschäften vertrieben, und nun führen sie in der Budenstadt dieselbe Vagabundenexistenz wie das übrige Gelichter und die Verkäufer an Ständen und Tischen.«

Mit keinem einzigen Wort erwähnt wird, was vielleicht für einen versöhnlicheren Rundgang gesorgt hätte: Glühwein.
 

Regionalzeitung (Teil 39)

Leipzig, 24. November 2010, 10:37 | von Paco

 
  191.   trifft den Nerv einer ganzen Generation

  192.   warten dort auf Entdeckung

  193.   sind bei weitem keine Unbekannten mehr

  194.   die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren

  195.   ein unbequemer Denker
 

(Thx to Isabel Bogdan und Malte Herwig.)
 

Notiz über Henning Ritter

Konstanz, 22. November 2010, 15:41 | von Marcuccio

Die »Notiz über Kitsch« war einer unserer Lieblinge im Feuilletonjahr 2007. Unter anderem gefiel uns, wie anlassfrei es dieser Text in die FAS geschafft hatte. Passend zum Thema und zu den neulich im Berlin Verlag erschienenen »Notizheften« steuerte Eckhard Fuhr nun eine »Welt«-Notiz über Henning Ritter bei:

»Ritter und ich fingen etwa zur selben Zeit bei der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ an, er im Feuilleton, wo er die Seite ›Geistes­wissenschaften‹ erfand, ich in der politischen Nachrichtenredaktion, wo ich das journalistische Handwerk lernte. Wir trafen uns fast jeden Tag in geselliger Runde dort am großen Kühlschrank, um nach getaner Arbeit ein Fläschchen Binding Römerpils zu trinken.«

Man beachte auch den hübschen Nachsatz:

»Ritter war einer der wenigen Feuilletonisten, die regelmäßig aus ihren Redakteursstübchen in den Nachrichten-Maschinenraum der Zeitung hinabstiegen.«

Die Raummetaphorik ist jedenfalls mal wieder evident, semiotisch mindestens so gefällig wie wenn Matussek seine »Spiegel«-Sekretärin »runter in die Dokumentation« schickt (vgl. das legendäre rebell.tv-Video). Innerredaktionelle Ressorthierarchien im Spiegel ihrer vertikalen Gebäudebelegung. Wäre mal eine schöne Seminararbeit für alle Organisationspsychologen.

Ritter und das Römerpils

Laut Fuhr konnte Ritter das Römerpils, »welches zwar Nieren- und Blasentätigkeit ungemein stimuliert, nicht unbedingt aber die intellektuelle Spannkraft«, auch deswegen so gut ab, weil er seine Notizen hatte. Weil Ritter sich praktisch überall und pausenlos Notizen machte, hatte er seine Notizenscheune immer gut gefüllt. Frei nach Montesquieu, auf den sich Ritter am Ende seiner »Notizhefte« beruft, sind Notizen

»Einfälle, die ich nicht weiter vertieft habe und die ich aufbewahre, um bei Gelegenheit über sie nachzudenken.«

Mehr Mut zu Montesquieu, sagt nun Fuhr:

»Wenn man es so betrachtet, macht man als Journalist sein Leben lang nichts anderes als Notizen. Nur bewahren wir unsere Einfälle nicht auf, um später in Ruhe über sie nachzudenken, sondern wir werfen sie sofort dem Publikum zum Fraß vor.«

 

Besuch bei Wezel

Leipzig, 18. November 2010, 19:13 | von Paco

Beckers Wezel-Buch (1799), Ausschnitt TitelseiteAm 13. September 1798 trifft (der hier neulich schon erwähnte) Johann Niko­laus Becker in Sondershausen ein. (Nebenbei, im selben Jahr erscheinen die Bände 2 und 3 seines megalomanischen Reichsverfassungskritik-Mammut­werks, dazu und zu Becker selbst ein ander­mal.) Er hat extra einen Umweg genom­men, um Johann Karl Wezel besuchen zu können, den Autor des Romanhits »Belphegor« (1776), der 1786 aus Leipzig zurück in die thüringische Pro­vinzstadt gekommen war, geistig ausgelaugt und leicht wahnsinnig.

»In Sondershausen selbst kannte man Wezels Thorheiten nur, Nie­mand hat seine Schriften gelesen, Niemand vermag ihn zu schätzen«, berichtet Becker. Er begibt sich zur Frau des Hofsilberdieners Bär, wo Wezel seit seiner Rückkehr untergekommen ist. Sein mitgebrachtes Geld hatte für die ersten neun Jahre gereicht, danach habe er laut Auskunft der Wirtin nichts mehr gezahlt.

Allerdings sorge inzwischen der Sondershausener Hof mit 5 Groschen täglich für Wezels Unterhalt, nachdem die Reiseschrift »Durchflüge durch Deutschland, die Niederlande und Frankreich« von J. L. von Heß (Band 1, 1793, S. 190–194) auf die Lebensumstände dieses großen Sohnes der Stadt (um mal eine Regionalzeitungsfloskel zu benutzen) hingewiesen hatte.

Von Wezels Wirtin erfährt Becker dann die Basics: Wezel lebe zurück­gezogen in seinem Zimmer, verlasse das Haus nur selten, dann aber immerhin in den schönsten Ausgehsachen. Sein Lieblingsessen: abgebrühte Kartoffeln. »Brodt hat er 9 Jahre lang nicht gegessen.«

Seine Sonderbarkeit sei zunehmend in puren Menschenhass umgeschlagen. Ab und zu unternehme er einen Spaziergang querfeldein ins Umland, bis es ihm irgendwo gefiel und er dort blieb, »bis ihn der Hunger wegtrieb. So hat er einst 3 Tage und 3 Nächte ununterbrochen auf einem nackten Felsen gelegen und die Sonne und den Mond angestarrt.«

Zuweilen brüllt er lateinische Reden zum Fenster hinaus

Wenn ehemalige Freunde oder Bekannte sich zum Besuch anmelden, lasse er sie ausnahmslos abweisen. Seine Mutter, die ab und zu aus Weimar herübergekommen sei, verleugne er. Nur einmal habe er einen jungen Mann willkommen geheißen, einen Venezianer namens Lorenzo, »aber Niemand verstand sie, denn sie sprachen italiänisch«. Ansonsten scheine Wezel ununterbrochen zu schreiben.

Nach dieser Einführung wird Becker darauf vorbereitet, dass Wezel gleich herunterkommen und seinen 18-Uhr-Schnaps einnehmen werde. »Reden Sie ihn lateinisch an. Diese Sprache scheint er sehr zu lieben, denn er singt gewöhnlich lateinisch und brüllt auch zuweilen lateinische Reden zum Fenster hinaus.«

Bei Wezels Erscheinen tritt ihm Becker in den Weg und versucht es wirklich auf Lateinisch, aber der Angesprochene schreit wütend herum – »Stultissimorum stultissime!« – und flieht hinauf in sein Zimmer. Becker steht vor verschlossener Tür und hört ihn minutenlang laut fluchen. Er will es daraufhin eigentlich nicht noch mal versuchen, aber die Wirtin hält ihn dazu an. Die beiden gehen ein zweites Mal hinauf.

Wezel will sich wieder nicht anreden lassen und spricht Drohungen aus. Becker reagiert darauf berechnend, er lässt seinerseits einige Beleidigungen los, eine unerwartete Gegenrede, die Wezel sehr zu irritieren scheint. Der Irritierte lässt sich dann tatsächlich auf den Schlagabtausch ein, er bezeichnet sich dabei als »Gott« und »Gott der Götter«, und nach ein wenig gespielter Unterwürfigkeit vonseiten Beckers lässt er diesen tatsächlich in sein Zimmer!

Die schönen Bankzettel!

Johann Karl Wezel (Kupferstich von Christian Gottlieb Geyser, 1780)Becker zählt 32 Bücher auf dem Tisch (darunter Robinsons »Geschichte der Regierung Kaiser Karls V.«, Gedichte von Bürger, lose Blätter aus Wezels eigenem »Belphegor«, ein italienisches Wörter­buch, Werthers Leiden). Außerdem liegt ein riesi­ger Manuskriptstapel herum, der den Vermerk trägt: »Opera Dei Vezelii ab anno 1786 usque huc.« Ein Gespräch von 2 Stunden schließt sich an, das zunächst sehr abseitig ist, dann aber relativ normal wird. Es geht um Wezels Zeit in Wien, von der ihm vor allem die schönen Bankzettel in Erinnerung sind:

»Bezahlt man in Wien noch mit Bankzetteln? (…) Sieh, das ist eine so schöne Sache. Aber die dummen Menschen hier in Sondershausen haben es nicht gewollt. Ich habe Ihnen auch Bankzettel gemacht, aber sie haben sie nicht annehmen wollen.«

Dann geht es um Literatur, um Wezels »Belphegor« (»Er hält ihn für sein wohlgelungenstes Werk, wahrscheinlich, weil er darin seinen hohen Unmuth gegen das Menschengeschlecht so recht erschöpft hat.«), aber er fragt auch nach Wieland, Goethe, Blumauer, Ramler, Klopstock.

Außerdem fragt er, ob Becker neue deutsche Literatur dabei habe. Ja, hat er, den ersten Theil des »Wilhelm Meister«, den er Wezel übergibt (und nie wiedersieht, ebenso wenig wie seine Tabakspfeife). Er berichtet ihm noch kurz von der Guilletonierung des französischen Königspaars (»war ihm neu, aber nicht unerwartet«).

Der Manuskriptstapel

Dann fragt Becker noch nach den Manuskripten im Zimmer. So wie anderthalb Jahrhunderte später Unseld von Koeppen erhoffen sich auch Wezels Zeitgenossen von ihrem Autor endlich das ausstehende Meisterwerk:

»Begieriger war ich auf das, was er seit seines Aufenthalts in Sondershausen gearbeitet hatte. Er war aber nicht zum Vorzeigen zu bewegen. So viel versicherte er mir aber, daß diese Schriften die Bewunderung der Welt auf sich ziehen würden.«

Mithilfe der Wirtin und eines Barbiers, »die von außen zugehört hatten«, schreibt Becker anschließend das Gespräch nieder. Er hat sich mit Wezel für den Folgetag verabredet, aber da lässt er ihn schon nicht mehr an sich heran, er kommt auch nicht mehr seinen Schnaps holen, und nach zwei Tagen reist der Besucher ab.

Aus seinem Erlebnis macht Becker dann ein Buch, aus dem hier gerade auch zitiert wurde: Wezel seit seines Aufenthalts in Sondershausen. Erfurt 1799. – Google Books hat übrigens die Ausgabe der Bayer. Staatsbibliothek gescannt, im Einband – »Ex donat. Molliana« – steht in Kurrentschrift die Notiz: »Sehr merkwürdig!«

Sie wie auch Becker waren andere Wezel-Freunde der Meinung, dass sich sein Zustand heilen ließe, wenn es denn nur jemand richtig versuchte:

»Der hohe Genius, der in jüngern Jahren dem deutschen Vaterlande so vortreffliche Werke geschenkt hat, ist keineswegs gelähmt; er regt sich immer noch mit mächtigen Flügelschlägen. (…) Bei mir ist kein Zweifel, daß die Behandlung eines geschickten Arztes in wenigen Monaten fähig ist, den so trefflichen Mann der Welt wieder zu schenken.«

Das ist dann kurz nach Erscheinen der Schrift auch vom Homöopathie-Hahnemann persönlich versucht worden, während zweier Monate des Jahres 1800, erfolglos. Er kam mit dem aggressiven Wezel einfach nicht zurecht und schickte ihn recht schnell von Hamburg zurück nach Sondershausen.

(Ach ja #1: Als sofortistische Anschlusslektüre geeignet sind der Wezel-Artikel in der ADB, die Zeittafel auf der Website der Wezel-Gesellschaft und das Sondershausen-Kapitel der »Südharzreise«.)

(Ach ja #2: In Christoph Neuberts Wezel-Dissertation (2004/2008) wird übrigens Beckers Glaubwürdigkeit angezweifelt. Der Bericht über seinen Besuch bei Wezel sei »aller Wahrscheinlichkeit nach frei erfunden, doch deshalb nicht weniger folgenreich« (S. 166). Also immerhin! Der Becker-Bericht hat in der Wezel-Rezeption tatsächlich schnell Epoche gemacht, von ihm gehen zig Verzweigungen aus wie überhaupt die Wezel-Story sehr komplex ist. Hier ging es nur um diesen einen Bericht, also auch um Becker selber, dessen Autor. Demnächst mehr von JNB.)
 

Achtung, Prominente dieser Welt:
Fragen Sie Reich-Ranicki jetzt!

Konstanz, 16. November 2010, 09:27 | von Marcuccio

Vorgestern in der FAS stellte Handke-Biograf Malte Herwig persönlich eine Handke-Frage an MRR. Das ist einerseits natürlich paratextuelles Branding, andererseits vorschriftsmäßig unterhaltsam (die feinen Unterschiede eben mal wieder). So wie wenn Christoph Poschenrieder Schopenhauer-Verballhornungen sammelt.

Es gab in den letzten Wochen übrigens einen richtigen Promi-Stau beim Literaturpapst. Trendsetter scheint auch hier mal wieder »der alte Schirrmacher« (Matussek) gewesen zu sein (26.08.2007, 01.06.2008). Seit der Sommerpause traten dann diese Personen als Fragesteller auf:

Iris Berben (19.09.2010)
Claudia Roth (26.09.2010)
Bernd Neumann (03.10.2010)
Jürgen Flimm (31.10.2010)
Malte Herwig (14.11.2010)

›Reich-Ranicki-Fragesteller‹: ab sofort also ein stark distinktiver Gruppierungsbegriff wie ›Leute, die mit Goethe speisten‹, ›Kellner, die Thomas Mann bedienten‹, ›Politiker, die Ernst Jünger aufsuchten‹.
 

Kaffeehaus des Monats (Teil 57)

sine loco, 14. November 2010, 20:59 | von Marcuccio

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

fyal central, Karlsruhe, ultrafurchtbares Foto, wie in dieser Reihe üblich :-)

Karlsruhe
La Cultura del Caffè in der Waldstraße 10
(nicht weit von der Kunsthalle).

(Ein deutscher Barista mit NZZ im Zeitungshalter und
Piemont-Schokoladen auf dem Tresen. Einfach die
Kaffeebar zur aktuellen Schau »Viaggio in Italia«.)

 

»Heute schon das Feuilleton gescannt?«
Mit Andreas Bernard durch die »jetzt«-Jahre

Konstanz, 12. November 2010, 10:46 | von Marcuccio

Wer für die »Tempojahre« (Maxim Biller) zu jung und für »Neon« viel­leicht schon bald zu alt war, der hatte in jedem Fall »jetzt« (1993–2002) – die Santo-Subito-Jugendbeilage der SZ. »jetzt:« war jung, frisch, faszinierend – der sprichwörtliche Doppelpunkt für jeden, der in der zweiten Hälfte der 1990er feuilletonistisch lesen lernen wollte, sich dabei aber möglichst nicht so totalitär belehrt fühlen mochte. »jetzt« gehörte in die Zeit wie »Faserland«, MTV oder die AOL-Werbung mit Boris Becker (»Bin ich jetzt schon drin?«).

Das Lebensgefühl der »jetzt«-Jahre gibt es jetzt zum Nachlesen, in einem schönen Roman von Andreas Bernard, in dem das »jetzt«-Magazin »Vorn« und der Protagonist Tobias Lehnert heißt.

Das Buch wurde von den Feuilletons dieses Frühjahrs erstaunlich lieblos durchgewinkt, Sandra Kerschbaumer in der FAZ fand es sogar »ermüdend, wie Müttern auf dem Sandkistenrand oder Kleingärtnern beim Fegen ihrer Wege zuzuhören«.

Das »jetzt«-Feeling

Vielleicht ist meine »jetzt«-Erinnerung auch deswegen so mythisch überladen, weil ich der notorisch verhinderte »jetzt«-Leser war: »jetzt« war für mich zuallererst das, was ich als studentischer FAZ-Abonnent montags gern auch noch mit dabei gehabt hätte. Das zusätzlich Fiese war, dass »jetzt« selbst im Urlaub nicht funktionierte. Da kaufte man sich in Italien schon mal eine SZ vom Vortag und freute sich mit der Cover-Ankündigung auf ein knutschendes Pärchen im Meer bzw. ein »jetzt«-Magazin zum Thema: »Und wie war dein Sommer?«, und dann stand da prompt und kleingedruckt:

»Liegt nicht der Auslandsauflage bei«

Wie ich diesen Satz hasste. In der alten »Zweigstelle 1« der Uni-Bibliothek Leipzig war der Begriff Beilage indes richtig räumlich gemeint. »jetzt« lag dort tatsächlich immer im Separee, hinter dem eigentlichen Zeitungslesesaal. In einem gammeligen Schuhkarton, der irgendwann meine Schatzkiste wurde. Ganze »jetzt«-Jahrgänge hab ich in dem miefigen Kabuff rückwirkend gehoben, umgeblättert, verschlungen. Mehr zum Feeling muss ich nicht sagen, Bernard selbst hat »jetzt« im taz-Gespräch gegenüber dem Vorgänger »Tempo« und dem Service-Nachfolger »Neon« klug abgegrenzt.

Vom Leser zum Schreiber

»Vorn« feiert aber nicht nur das »jetzt«-Lese- und Lebensgefühl. Es ist vor allem auch ein wunderbarer Journalisten-Bildungsroman. Erzählt wird, wie aus einem Magazin-Fan ein Magazin-Schreiber wird. Was passiert, wenn einer den Sprung von der Rezeption zur Produktion von Lebensgefühl wagt. Wie sich der erste eigene gedruckte Text in der Zeitung anfühlt. Und wie man tickt, wenn man leibhaftige Redakteure im Büro besucht:

»Er versuchte (…) diejenigen zu identifizieren, deren Geschichten ihn am meisten begeisterten, sich zu überlegen, welches Gesicht zu welchem Namen passen könnte.« (S. 16)

Auch ein Typ wie Tom Kummer geistert mal kurz als Phantom durch Bernards Buch, auf S. 17: Er »sah sehr lässig aus; er hatte schwarze lockige Haare und wirkte fast ein bisschen südländisch«. Tobias trifft ihn auf der Einweihungsfeier der neuen Redaktionsräume. Später heißt es:

»Den dunklen, lockigen Typen von damals sah er in all den Jahren kein einziges Mal mehr, und als er Robert später einmal darauf ansprach, welcher Autor oder Fotograf das gewesen sein könnte, wusste der nicht einmal, von wem Tobias sprach.« (S. 17/18)

Redaktionssport Scannen

Der eigentliche Plot ist das private Leben von Tobias Lehnert, namentlich seine alte Beziehung, die sich zunehmend konträr zu seinem Redakteursleben voller Listen-Journalismus, Tischritualen im »Schumann’s« und den Girlie-Kategorien verhält (»Julias sind immer gut!«).

Lustig auch das metasprachliche Rudelfantasieren, dahinter steckt die Idee, sich anhand weniger Indizien Geschichten und Identitäten zu Personen, zum Beispiel auf Partys, auszudenken:

»Im Vorn sprachen sie davon, jemanden zu ›scannen‹, wobei sich diese Methode nicht nur auf das sekundenschnelle Durchleuchten und Bewerten von Menschen bezog, sondern etwa auch auf Texte in Zeitungen und Magazinen. ›Hast du heute schon das Feuilleton gescannt?‹« (S. 190/191)

Irgendwann passt die alte Freundin nicht mehr in den coolen Vorn-Kosmos, in der Geschmacksfragen so falsch sein können wie Milchkaffeeschalen, die Tobias zu Hause stehen hat. Schon bald beginnt Tobis Affäre mit einer jener Praktikantinnen, die noch eine »Handschrift mit Babyspeck« haben. Und die Krisis des Helden nimmt ihren Verlauf.

Das Geheimnis der Grafikerinnen

Bourdieu hat feine Unterschiede für das literarische Feld beschrieben, Bernard malt das Ganze für den jungen Beilagenjournalismus der 1990er aus und schildert eine Welt, in der es den »Speedtalk« und das Scannen der Textredakteure einerseits gibt, andererseits aber auch das Geheimnis der Grafikerinnen:

»Tobias bemerkte wieder einmal, dass es kaum eine andere Art von Mädchen gab, mit denen er sich im Reden so schwer tat wie mit Grafikerinnen. Sie waren immer sehr freundlich und sahen gut aus, doch Tobias hatte das Gefühl, dass ihre Zurückgenommenheit eine längere Unterhaltung fast unmöglich machte. (…) Alle Vorn-Grafikerinnen, die Tobias je kennengelernt hatte, ähnelten sich in einer merkwürdigen Trägheit, einer besonders sparsamen Dosierung der Gesten und Worte. Vielleicht waren professionelle Näherinnen vor 150 Jahren ähnlich gestimmt.« (S. 233/234)

Der langsame Niedergang beginnt mit Praktikantengenerationen, die »Praktikas« statt »Praktika« absolvieren (S. 101) und dem Merchandising, also der »schwarzen Umhängetasche mit gelbem Vorn-Schriftzug, die man seit kurzem über die Magazinadresse bestellen konnte.« (S. 229)

Mein letztes »jetzt«-Magazin, das allerletzte überhaupt, lag wieder mal keiner Auslandsauflage bei. Austin höchstpersönlich brachte es mir aus Deutschland vorbei, während es in München Sitzstreiks der Leser gab.
 

40 Doppelrufe der Kulturgeschichte

Leipzig, 10. November 2010, 12:09 | von Paco

Handeln! Handeln!   (Fichte)
Schnell, schnell!   (Baron Holstein, der Schnitzelesser)
The horror, the horror!   (Joseph Conrad)
Nach Moskau! Nach Moskau!   (Tschechow)
Lang Lang   (die Eltern von Lang Lang)

Dahin! Dahin   (Goethe)
Ei, ei! Ney, Ney!   (Friedrich Rückert)
Allein Allein   (Polarkreis 18)
Tiger, tiger   (William Blake)
(«Pallaksch. Pallaksch.»)   (Celan feat. Hölderlin)

Ja, ja; nein, nein.   (Matthäus-Evangelium)
Gute Ruh‘, gute Ruh‘!   (Wilhelm Müller/Franz Schubert)
Mein Vater, mein Vater   (Goethe)
Zu Hilfe! Zu Hilfe!   (Emanuel Schikaneder/Mozart)
Wir weben, wir weben!   (Heine)

The window! The window!   (H. P. Lovecraft)
Out, out   (Shakespeare)
So, so!   (Kurt Schwitters)
well, well   (John Lennon)
Serenity Now! Serenity Now!   (Seinfeld)

Kraweel, kraweel!   (Loriot)
Manta, Manta   (~)
schtzngrmm / schtzngrmm   (Ernst Jandl)
Vorbei, vorbei   (Henning Ahrens)
întotdeauna, întotdeauna   (M. Blecher)

Hojotoho! Hojotoho!   (Richard Wagner)
Das Schnabeltier, das Schnabeltier   (Robert Gernhardt)
merdre, merdre   (Alfred Jarry)
Thalatta! Thalatta!   (Xenophon)
Hail, Hail   (Pearl Jam)

szara naga jama / szara naga jama   (Miron Białoszewski)
Brekekekex koax koax. Brekekekex koax koax.   (Aristophanes)
Nudge Nudge   (Monty Python)
Vera! Vera!   (Pink Floyd)
La-di-da, la-di-da   (Annie Hall)

Attica! Attica!   (Dog Day Afternoon)
Toga! Toga!   (Animal House)
Hey, Stella! Hey, Stella!   (A Streetcar Named Desire)
Sanctuary! Sanctuary!   (The Hunchback of Notre Dame [1939])
Madness! Madness!   (The Bridge on the River Kwai)
 

Listen-Archäologie (Teil 6):
Die Hitler-Titel des »Spiegel«

Berlin, 7. November 2010, 17:01 | von Marcuccio

Im letzten Raum der aktuellen Sonderausstellung des DHM haben sie eine ganze Wand mit »Spiegel«-Titeln tapeziert, sämtlichen bis 2009 publizierten 45 Heften mit Hitler auf dem Cover:

»Von dem ersten aus dem Jahr 1964 (›Anatomie eines Diktators‹) bis zu einem der aktuellsten von 2009 (›Die Komplizen‹) ist auch an ihnen der Wandel im Geschichtsbild zu erkennen.« (Spiegel 41/2010, S. 38)

Zum Teil entlarven sich die Titel auch selbst, wenn man sich mal an­schaut, wofür der berühmte »Teppichfresser« alles herhalten musste: Gefahren des Klonens? Hitler! (Nr. 10/1997)

Zwei Führer-Cover hintereinander gab’s trotz aller Dichte nur einmal, im Umfeld der Hitler-Tagebücher des »stern«: Nr. 18 (»Fund oder Fälschung?«) und 19/1983 (»Fälschung«).

Nr. 5/1964
Nr. 3/1966
Nr. 32/1966
Nr. 31/1967
Nr. 1/1969

Nr. 14/1973
Nr. 34/1977
Nr. 44/1979

Nr. 24/1981
Nr. 52/1982
Nr. 18/1983
Nr. 19/1983
Nr. 32/1986
Nr. 35/1987
Nr. 46/1988
Nr. 15/1989
Nr. 32/1989

Nr. 24/1991
Nr. 29/1992
Nr. 2/1994
Nr. 14/1995
Nr. 19/1995
Nr. 6/1996
Nr. 8/1996
Nr. 21/1996
Nr. 33/1996
Nr. 10/1997
Nr. 25/1997
Nr. 30/1997
Nr. 7/1998
Nr. 22/1998
Nr. 45/1998
Nr. 43/1999

Nr. 25/2000
Nr. 4/2001
Nr. 19/2001
Nr. 23/2002
Nr. 51/2002
Nr. 8/2004
Nr. 29/2004
Nr. 35/2004
Nr. 18/2005
Nr. 3/2008
Nr. 45/2008
Nr. 21/2009

(und Hitler-Titel Nr. 46, in der Ausstellung noch nicht mit dabei:)

Nr. 33/2010

Direkt über diese Titelbilder-Anordnung im DHM hätte man, wenn sie denn noch online wäre, die »Blattschuss«-Folge an die Wand beamen können, in der Oliver Gehrs die »Spiegel«-Verkaufskurve aufmalt und deren Peaks mit den Hitler-Titelbildern korreliert. (Diese Frage hatte ja damals auch das Hitler-Blog der taz umgetrieben.)

Außerdem aufschlussreich gewesen wäre eine Übersicht über alle einschlägigen Guido-Knopp-Sendetitel. Hitlers Hunde, Hitlers Blumen, Hitlers Witze usw. Auch da hatte man ja irgendwann den Überblick verloren.
 

Regionalzeitung (Teil 38)

Leipzig, 2. November 2010, 23:48 | von Paco

 
  186.   eine gute Nachricht für alle Fans von

  187.   merkte er selbstkritisch an

  188.   das kostet den Steuerzahler jährlich

  189.   beeilt er sich zu versichern

  190.   waltet wieder seines Amtes