Allegorie und Anarchismus

Tel Aviv, 12. Januar 2008, 12:59 | von Paco

Am 22. August 1999 schrieb Lorenz Schröter unter der schönen Überschrift »Emails und die Detektive« einen Beitrag für das mittlerweile verschwundene Gruppenblog »pool«, in dem es um die Techniken des modernen Erzählens geht. Darin:

»Das Überflüssige wegschneiden, schneller beschreiben. Wir sind ja nicht in ›Die Zeit‹. (Man kann bei Artikeln in Die Zeit eine Zigarettenschachtel auf den ersten Absatz legen und landet dann dort, wo der Artikel beginnt. Falls wirklich was drinsteht.)«

Tobias Rüther hat in der heutigen F-Zeitung einen Artikel stehen, der sich einreiht in die Besprechungen der vorgestrigen Diskussion »Regeln oder Anarchie? – Journalismus im www« beim DJV.

Und in Rüthers Text ist es der erste Absatz, den man mit der berühmten Zigarettenschachtel hätte zudecken können. Da er bei seiner allegorischen Einführung den Fehler begeht, die ›Lady‹ mit der ›Mrs.‹ Astor zu velwechsern, hat Don Alphonso leichtes Spiel, seinen Beitrag nicht anhand der Argumentation, sondern anhand seiner schiefen Vergleiche zu verreißen. Zum Inhalt muss Don Alphonso gar nichts mehr sagen, der verreißt sich dann von selbst, das ist die ganz hohe Schule.

Dabei geht Alphonsos Text wie immer unlektoriert ins Netz: »zertritten« steht da statt »zerstritten«, und »Blösdsinns« statt »Blödsinns«. Was widerum für Zeitungen mit Schlussredaktion ein Angriffspunkt wäre, wenn dieser legasthenische Effekt nicht gerade zu Alphonsos Style gehörte und zum auch stilistischen Anarchismus, der sich in Blogs entwickelt hat. Dieser ist überhaupt bei der zunehmenden Blog-Berichterstattung noch nie als konstitutiv beschrieben worden, und so bleibt es dabei, was hier schon vor einem Monat mal stand:

»Ich habe noch in keiner gedruckten Zeitung oder Zeitschrift einen Artikel gelesen, in dem auch nur ansatzweise etwas Wahrhaftiges über die »Webloggerey« (Dietmar Dath) stand.

Was heißt es, Don Alphonso zu lesen? Was heißt es, Rechtschreibprobleme von Kommentarschreibern freudig hinzunehmen? Was heißt es, BILDblog nicht mehr deswegen zu lesen, weil man sich über die »Bild«-Zeitung aufregen will? Was heißt es, wenn man sich bei den Techies von F!XMBR besser über die Lage der SPD informiert fühlt als in den Kommentarspalten der Zeitungen? Usw.

Nichts davon im Feuilleton. Dabei ist es das einzige Zeitungsgenre, das sich erlauben dürfte, so einen Wahnsinn mal adäquat darzustellen.«

Und dann gerne mit ein paar barocken allegorischen Anfangsabsätzen, die von Musen und Erinnyen handeln.

Science Fiction fürs Regal

Hamburg, 10. Januar 2008, 14:03 | von San Andreas

Heute beantworten wir wieder Leserbriefe. Gabi aus Bad Salzdetfurth möchte wissen, ob es neben »Blade Runner« noch andere tolle Science-Fiction-Filme gibt. Ja, Gabi, es gibt sie.

Das Genre ist freilich schwer zu greifen, vor allem weil SciFi häufig lediglich den Hintergrund bildet für Geschichten, die eher dem Horror- oder Actionfilm, der Komödie oder dem Drama zuzuordnen sind.

Was all diese Filme jedoch eint, ist das spekulative Element – sei das eine bestimmte Technologie oder Fähigkeit, ein alternativer Verlauf der Geschichte, die Erkundung unbekannter Welten oder der Kontakt mit fremden Lebensformen.

Beschränkt man sich auf solche Filme, die tatsächlich derlei Elemente als prominente Aufhänger haben, ergibt sich folgender – freilich unvollständiger – Reigen hervorragenden SciFi-Kinos.

Oldtimer (3) | Meilensteine (6) | Moderne Klassiker (3) | Erwähnenswert (5)

OLDTIMER

»Metropolis« (Fritz Lang, 1927). Der deutsche Expressionismus als Geburtshelfer des SciFi-Films – der Einfluss dieses Werks ist kaum zu überschätzen. Botschaft und Schauspiel sind nicht eben subtil, man sehe den Film tunlichst durch die historische Brille; aber selbst durch diese sind die Bauten und Effekte schier überwältigend.

»Things to Come« (William Cameron Menzies, 1936). H. G. Wells adaptierte seinen Roman höchstpersönlich, eine ausladende Vision über den Fortbestand der Zivilisation. Prophetisch wie Jules Verne, aber eher auf die nüchterne, idealistische, didaktische Art.

»The Day the Earth Stood Still« (Robert Wise, 1951). Eine rühmliche Ausnahme unter den haarsträubenden Invasionsszenarien der 50er Jahre. Ein kluges Script, eine zeitlose Botschaft, dazu der herrliche Score von Bernard Herrmann. Klaatu barada nikto!

Oldtimer (3) | Meilensteine (6) | Moderne Klassiker (3) | Erwähnenswert (5)

MEILENSTEINE

»2001: A Space Odyssey« (Stanley Kubrick, 1968). Kein Film, ein Ereignis. Ein Epoche machendes Kunstwerk, ein Trip kosmischen Ausmaßes, mysteriös und kontemplativ. Bilder von ausgesuchter Schönheit paaren sich mit einem ätherischen Soundtrack, erzielen schier außerweltliche Wirkung. Kein Kinowerk ist weiter über sich selbst hinausgewachsen – damals nicht, heute nicht.

»Solaris« (Andrei Tarkovsky, 1972). Die russische Antwort auf »2001«, so liest man gerne. Tatsächlich eine Lem-Story von 1961, die eher den inneren als den äußeren Kosmos thematisiert. Schwer meditativ, teils kryptisch. Während der endlosen Sequenzen horche man tief in sich hinein – begegnet einem eine große Leere, teste man vielleicht Soderberghs destillierte Remake-Version.

»Close Encounters of the Third Kind« (Steven Spielberg, 1977). Fraglos ein großes Stück Kino, das den Widerstreit zwischen Rationalem und Rätselhaftem anregend auf die Leinwand bringt. Ein immenser künstlerischer Erfolg für Spielberg, von Truffaut geadelt.

»Star Wars« (George Lucas, 1977). Lucas‘ Sternenepos ist nicht so gut gealtert wie »Encounters«, entwickelte sich jedoch mit all seinen Sequels/Prequels zu einer kulturellen Institution. Eine globale Mythologie, deren Helden nicht der Literatur entspringen, sondern direkt von der Leinwand stammen: erst mal nachmachen.

»Alien« (Ridley Scott, 1979). Meisterhafter Horror-SciFi-Thriller, dunkel poetisch, atmosphärisch dicht und ultimativ Angst einflößend. Das Raumschiff kein blinkendes High-Tech-Vehikel, sondern ein dreckiger Industrie-Koloss, die Insassen echte Menschen. Scotts geniale Choreographie steigert subtile Bedrohung in blanken Terror.

»Blade Runner« (Ridley Scott, 1982). Visionärer Überfilm, dessen differenzierte Metaphorik dem Premierenpublikum nicht auffiel. Heute gilt er vielen als der beste. Die Ästhetik arg düster, eine Spur prätentiös gar, aber in ihrer Konsistenz entwaffnend, gerade adäquat für profunde Fragen um menschliche Insolenz und Identität.

Oldtimer (3) | Meilensteine (6) | Moderne Klassiker (3) | Erwähnenswert (5)

MODERNE KLASSIKER

»The Matrix« (Andy & Larry Wachowski, 1999). Durch seine Sequels ein wenig in Misskredit geraten, bleibt »The Matrix« dennoch ein fulminanter Meilenstein des modernen Kinos. Ein berauschender Genre-Mix, berstend vor kinetischer Energie und innovativ im Stil. Was steckt hinter der ganzen Ästhetik? Substanz, wer hätt’s gedacht.

»Minority Report« (Steven Spielberg, 2002). Ein pulsierender, intelligenter future-noir-Thriller, der wie »Blade Runner« eher pessimistisch in die Zukunft blickt: Es lügt der Mensch, solang er strebt. Einfallsreich im Visuellen, nervenzerrende Spannungsspitzen, famos inszeniert. Kein Whodunit, sondern ein Whowilldoit!

»Children of Men« (Alfonso Cuarón, 2006). Dieses Juwel kam überraschend: eine ungeschminkte, vielschichtige Dystopie über eine infertile, desolate Zivilisation. Perfekt die Regie: Dramatische Plansequenzen bringen ein beispielloses Level an Authentizität.

Oldtimer (3) | Meilensteine (6) | Moderne Klassiker (3) | Erwähnenswert (5)

ERWÄHNENSWERT

»THX 1138« (George Lucas, 1971). Eine orwellsche Vision unserer Zukunft, kühl, minimalistisch und spröde, das komplette Gegenteil des Star-Wars-Pomp. Auch mal angenehm.

»Contact« (Robert Zemeckis, 1997). Gerne übersehen: feinsinnige, ruhige Verfilmung der Geschichte des großen Carl Sagan, die auch die Debatte Wissenschaft vs. Religion nicht scheut.

»Pi« (Darren Aronofsky, 1998). Aronofskys Debüt, so befremdend wie der frühe Cronenberg, so anspruchsvoll wie Nolan, so sperrig wie Lynch, so originell wie … wie Aronofsky.

»Primer« (Shane Carruth, 2004). Außergewöhnliche Low-Budget-Produktion um profitables Zeitreisen. Faszinierend authentisch gefilmt, gleichwohl inhaltlich beinahe unzugänglich. Für Mitdenker.

»War of the Worlds« (Steven Spielberg, 2005). Spielberg hält das Genre am Leben. Das eindrucksvolle Remake verleiht Wells’ politischer Parabel aktuelle Bezüge, setzt visuell neue Maßstäbe.

Oldtimer (3) | Meilensteine (6) | Moderne Klassiker (3) | Erwähnenswert (5)

Die Rules of Cuteness und der neue »Spiegel«

Tel Aviv, 9. Januar 2008, 13:25 | von Paco

Es ist ein Fernziel des Umblätterers, einmal ein cuteoverload.com-würdiges Foto zu komponieren, und da kommt es gelegen, dass der Haushund Shweps so ein Feiner ist:

Shweps and me

Millek trainierte den Feinen mit einigen hebräischen Kommandotönen und schon bald war er in der Lage, ihm die unterschiedlichsten Dinge zu apportieren, etwa den alten »Spiegel« (1/2008), und wenn das nicht cute ist, was dann:

Shweps bringt den Spiegel

Hier werden folgende Rules of Cuteness befolgt:

#28: Your head looks down, but your eyes look up
#34: If your tail curls up, it’s cute
#37: If you tilt your head to a side, it’s cute

Ok, das Heft war danach etwas angenässt, aber das ist der Preis der Cuteness. Millek las den letzten ungelesenen Artikel (und damit doch noch das Langley-Interview), dann verließen wir Tel Baruch Zafon Richtung Steimatzky @ Dizengoff, denn der neue »Spiegel« (2/2008) war längst erschienen.

Wir erwischten das letzte vorrätige Exemplar, steuerten gewohnheitsmäßig das »Aroma« an und zerrissen diesmal ohne viel Federlesens das Heft in der Mitte.

Ich bekam die hintere Hälfte, Handke und Havemann, was will man mehr.

»I Am Legend«: Alter Schinken mit Will Smith

London, 8. Januar 2008, 16:09 | von Dique

Viel zu früh zum Essen verabredet, schon um sieben. Zu bald waren wir schon fertig und saßen satt und auch sitt (hehe) herum. Gleich nebenan ein Kino und jemand machte den launigen Vorschlag hineinzugehen, die Zeit passte gerade und dann so nach dem Essen etc. Ich weiß nicht, ob wirklich alle Lust hatten, aber es gab ein großes »why not« und »I don’t mind« um den Tisch herum, auch meinerseits, und so gingen wir in »I Am Legend«.

Ich hatte im Voraus keine Informationen über den Film, nur viele Plakate gesehen, auf denen man Will Smith auf sich zukommen sieht. Nach einer Minute weiß ich Bescheid, ein Neuaufguss des »Omega Man« (old-school Science Fiction mit Charlton Heston in der Hauptrolle). Hier nun Will Smith in der Rolle des Charlton Heston, hehe.

Als Ulknudel und aufgezogene Quasselstrippe mag Will Smith vielleicht funktionieren, aber hier steht er auf verlorenem Posten, völlig verkrampft müht er sich damit ab, Emotionen zu transportieren. Ganz allein, begleitet von seinem Hund, seit nun schon fast drei Jahren, zieht er tagsüber durch das leere New York und verzieht sich gen Abend in sein zur Festung umfunktioniertes Haus, wo er die Stadt dem durch einen Virus extrem aggressiv wie lichtempfindlich gewordenen Rest der Menschheit überlässt.

Während der alte Schinken mit Heston noch eine Menge Charme hat, wie er da am Tage bei Sonnenschein im Sportwagen durch die leere Stadt rauscht und beim »Einkaufen« mit den Schaufensterpuppen Smalltalk hält, entbehrt die Krampfdarbietung von Will Smith jeglicher Komik. Pure Langeweile, unterbrochen von Spannungsmomenten, wenn er auf die zombiehafte Restbevölkerung trifft, die sich als übercomputeranimierte, fauchende Viecher gerieren und vollkommen unrealistisch wirken, sodass man sich vor denen nicht wirklich erschrecken muss.

Dann verliert er seinen Hund an den Zombiefeind, muss ihn selbst töten und trifft schließlich doch noch zwei menschliche Wesen. Die Reaktionen auf die anderen Überlebenden sind nicht etwa Freude oder tausende Fragen, nein, der Protagonist zeigt sich bockig und verstört und klatscht schließlich einen Teller mit Rührei gegen die Wand, und man fragt sich, warum da niemand am Set oder im Schnittraum gesessen und einfach mal eingegriffen hat, um uns diese peinlichen Momente zu ersparen.

Hätte ich mir mal ein bisschen mehr Zeit für die Tom Ka Ghai Suppe gelassen.

In Herzliya

Tel Aviv, 6. Januar 2008, 14:07 | von Paco

Bei Eitan Mehulal hoch oben in den Ackerstein Towers in Herzliya. Der in Israel obligatorische schöne Meerblick aus dem Konferenzraum. Kurze Verzögerung, wir warten mit den Coffeetable-Books und durchblättern das schöne Ankuck-Buch »פורטרט ישראלי« (»Israelische Porträts«).

Darin auch eine Aufnahme von David Grossman, dem Verfasser des grandiosen Sticker-Songs, vertont von Hadag Nachash. Dann geht es kurz um den Song, dann aber auch gleich wieder um viele andere Dinge.

Um die Mittagszeit gehen wir hinunter ins Joya in der Rehov Shenkar. Irgendwie scheinen da gerade ein paar Kundengespräche zu laufen, das Restaurant ist auch auf den ersten Blick sehr geeignet für Kundengespräche, und wir erinnern uns an eine frühe Episode der US-Version von »The Office«, Folge 2.13: »The Client«. Weil Michael wegen eines Kundengesprächs nicht im Office ist, findet Pam zufällig seinen unfassbaren Drehbuchentwurf für einen Hollywood-Actionfilm mit dem schönen Arbeitstitel »Threat Level: Midnight«. Er wird mit verteilten Rollen gelesen, ein großes Highlight der zweiten Staffel!

Das Essen im, wie gesagt: Joya, sieht so aus, dass ich auf einmal weiß, warum Henryk M. Broder bei seinen Restaurantbesuchen in aller Welt manchmal frisch servierte Tellerladungen fotografiert. Genau, lass uns jetzt auch anfangen, Essen zu fotografieren, sagt Millek, aber uns ist klar, dass wir hinter der Ästhetik von Broders Essensbildern immer zurückstehen müssen. Was wir dagegen gut können, sind völlig indiskutable, anti-touristische, verwischte und prinzipiell motivlose Handybilder von Kaffeehäusern, hehe.

Wir gehen noch ein paar Alex-Rühle-Artikel durch, außerdem ein paar Zeitungstexte zum Urteil in Sachen »Esra«, und halten vor allem die von Heribert Prantl (SZ, 13. 10.) und Remigius Bunia (FAZ, 13. 10.) gegeneinander.

Während der Rückfahrt nach Tel Baruch Zafon kommt ein Anruf aus dem Institut. Milleks Postkasten ist über und über mit Zeitungen gefüllt, ob sie die entsorgen sollen. Millek fragt zurück, ob da jemand wahnsinnig geworden sei, Zeitungen bitte im Office zwischen­speichern, wie eigentlich abgesprochen. Usw.

Der Silvestertaucher:
Zwischen den Jahren in den Feuilletons

Konstanz, 3. Januar 2008, 18:26 | von Marcuccio

Hatte ich mich eben noch geärgert, die Weihnachts-FAS samt Sibylle Bergs Artikel über St. Moritz beim Snowboarden ebenda verpasst zu haben, konnte ich nach der Beinahe-Begegnung mit Putin auf der Piste und Ahmadinejacket in der Loipe nur feststellen: Das war noch längst nicht die ganze Bescherung, im Gegenteil. Und deshalb ein kleiner Rückblick auf allerlei Feuilleton-Bräuche zum Jahreswechsel.

Malen nach Zahlen bei den Perlentauchers

Es war schon ein historischer Augenblick, als am 29. 12. die erste Perlentaucher-Presseschau mit Gemälde ans Netz ging. Ob sich der Perlentaucher für diese Aktion vom »Holy Family Set« (FAS vom 2. 12.) inspirieren ließ? Ob Thierry Chervel dieses eventuell sogar eigenhändig ausgemalt und eingesandt hat, um ein FAS-Jahresabo 2008 zu gewinnen und (unserem Pilotprojekt folgend) endlich den Sonntagstaucher zu starten? Wir können nur spekulieren und warten gespannt, was wird.

Bleigießen mit der S-Zeitung

Eher Konventionelles, nämlich eine bewährte Mischung aus Rückblick und Ausblick boten die »zehn Ideen, die uns bleiben« in der S-Zeitung vom 29. 12.: »Monopol« und »Monocle« wählten München zur City of the Year, der Klimawandel forderte ebenso seinen Tribut wie Damien Hirst sein Stück vom Diamantenschädel … Am Ende hätten wir uns das ziemlich genau so gedacht, aber na gut, wenn solche Trends auch nur einigermaßen repräsentativ sein sollen, bleiben sie für uns Halbwelt-Junkies notgedrungen im Rahmen des Erwarteten. Typisch nur, dass die S-Zeitung dann mal wieder übers Ziel hinausschießt und aus ihren zehn Ideen online gleich redundante 19 Vignetten macht – wieder eine ihrer berüchtigten »unsinnigen Klickstrecken«.

Chinaböller im »Spiegel«

Was man da mit der Silvester-Ausgabe als »KulturSpiegel« für Januar frei Haus bekam, war wirklich ein Rohrkrepierer: 16 Seiten Statements, »warum Künstler Olympia so lieben« – nein danke. Nachdem schon die gelben Spione so peinlich waren, muss man auf echte neue »Spiegel«-Kracher aus dem Reich der Mitte wohl weiterhin warten. Derweil lese ich doch lieber nochmal Ulrich Fichtners unvergessene Reportage über Shenzen: »Die Stadt der Mädchen« (6/2005).

Sündenablass bei der F-Zeitung

Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern: Am 28. 12. verpuffte die Meldung, dass der Tod eines Kritikers jetzt verjährt und Martin Walser Ein liebender Mann ist, der ab Februar in der F-Zeitung vorabgedruckt wird. Am 31. 12. folgte als Schirrmacher-Chefsache ein ganzes Schreibschulden-Register, in dem die Feuilletonredaktion Altlasten in eigener Sache abtrug. Und Gerhard Stadelmaier scheint in diesem Zusammenhang bekennen zu wollen: Verantwortlich für den sprichwörtlichen Tort eines Kritikers muss gar nicht immer ein Spiralblock, es kann auch der eigene Fingerknöchel sein.

Limonaden-Countdown im Deutschlandfunk

31. 12., 23:05 Uhr: Gepflegte Unterhaltung prickelt über den Äther, wenn sich zur letzten Radiostunde des Jahres die drei »Büchermarkt«-Redakteure Hajo Steinert, Hubert Winkels und Denis Scheck zusammensetzen, um bei einem Glas Limonade das literarische 2007 Revue passieren zu lassen. In munterer Silvesterlaune plaudert Denis Scheck dann auch schon mal ein Betriebsgeheimnis aus, so etwa ab Minute 4:27: »Also, ich darf der Wahrheit Ehre geben. Ich habe ganz sicher keine Limonade vor mir stehen.«

0:00 Uhr in der FAS: »Endlich Gegenwart!«

Das Jahresend-Spezial der FAS war eine exzellente Zündung, auf die Tel-Aviv-Koinzidenz hat Cobalt ja schon verwiesen. Ich ergänze an dieser Stelle weitere ungeahnte Korrespondenzen zwischen dem Umblätterer und der FAS (Fusionsgerüchte dementieren wir indes entschieden):

Johanna Adorján hat also auch eine Tagesschau-Tante, und um die herum entfaltet sie den herrlichen Beitrag »Mensch und Maschine: Moderne Kommunikation« (S. 29). Ein astreiner Epilog auf die Rituale einer letzten Generation ohne Google, Handy usw. Ganz nebenbei erweitert sich hiermit auch das von Paco ins Leben gerufene Rubrum Software & Erinnerung um die nicht unbedeutende Dimension der Hardware (Stichwort Wählscheibe).

Auf derselben Seite, links neben Adorján, serviert uns Nils Minkmar »Mensch und Margarine: Kapitalismus als Passion«. Ein schöner Review zum Lekr-Markt an der Ecke Hufeland-/Bötzowstraße in Berlin und nach dem (verpatzten) Auftakt durch Alexander Marguier das, wie ich meine, erste wahre Supermarkt-Feuilleton.

Das war sie denn auch schon fast, die feuilletonistische Bescherung zum Jahreswechsel. Folgt nur noch ein schöner Brauch: Unsere Bekanntgabe der Best of 2007.

»Elizabeth – The Golden Age« im Dizengoff-Kino

Tel Aviv, 2. Januar 2008, 00:54 | von Paco

Lazy Sunday, wake up in the late afternoon,
Call Parnell just to see how he’s doin‘.
Hello? – What up, Parns? – Yo Samberg, what’s crackin‘?
You thinkin‘ what I’m thinkin‘? – Narnia! – Man, it’s happenin‘!

(Samberg & Parnell, SNL, 17. 12. 2005)

Ok, war zwar nicht Sonntag heute, aber dafür lazy Neujahr, und wir sahen vorhin nicht die »Narnia«-Verfilmung sondern – und man muss sagen: leider – den neuen »Elizabeth«-Film von Shekhar Kapur.

Es ging im Jahr 1585 los und dauerte zwei Stunden. Im Saal 4 des Top-Floor-Kinos im Dizengoff Center raschelten schon bei unserem Eintreten die Popcorntüten und knisterten die Bonbonbeutel. Das veranlasste noch vor Beginn des eigentlichen Films die Ersten in den vorderen Reihen, sich rumorend umzudrehen und um Ruhe zu bitten.

Es folgten französische Schimpfwörter, hebräische und US-englische Entgegnungen. Es war Stimmung im Saal, der Film lief längst, und vor uns nieste ein Italiener ständig mit halber Rechtsdrehung seine neben ihm sitzende Begleiterin voll. Die schien das nicht zu stören, aber das dauernde krachende Hatschi nötigte Millek schließlich ein »Fucking hell!« ab, und auch ich spürte die Bazillen herüberwabern. Der Italiener verschwand auf Nimmerwiedersehen, einige klatschten ihm den Weg nach draußen.

Nachdem sich die Soap-Ideen des Drehbuchs bereits beträchtlich vermehrt hatten, schrie jemand endlich »Drecksfilm!«, und zwar auf Deutsch, und zwar kurz nachdem die coole Elizabeth angeblich selber Deutsch gesprochen hat mit diesem nervösen habsburgischen Erzherzog. Bei dem Kostümwahn, den der Film exerziert, wirkte das bestürzend grottig, um eine Lieblingsvokabel unseres Lieblings-DLF-Filmkritikers Hans-Ulrich Pönack zu verwenden, genau wie das Spanisch, das am spanischen Hof gesprochen wird, ganz unliebevoll ist das alles gemacht, anders als die Russifizierung neulich in »Eastern Promises«.

Noch bis zum Filmende kamen übrigens Leute in die Vorstellung, die Tür blieb dabei meist offen, sodass von vorne links ständig ein unangenehmes Licht von der Leinwand ablenkte. Die Forderungen nach Schließung der Türe zogen zwar einige Bestätigungsrufe nach sich, aber niemand stand etwa auf, im Gegenteil: Die Rufe wurden schön belacht, als Antwort flogen außerdem leere Tüten durch die Reihen, und der Spaß steigerte sich, als die einzig gute Szene im Film kam, die Kartoffelszene, bei der während einer Audienz der Queen einige Erdäpfel aus der Neuen Welt als rohe Delikatessen verspeist werden.

Bei dieser Szene kicherte es auch von hinten, wo vorher und nachher eine aufgeweckte Israelin ihrem unaufgeweckten Nachbarn ununterbrochen erklärte, wer gleich noch mal Mary Stuart war. Als kurz darauf der Name Heinrichs VIII. mehrmals fiel, geschah das so laut, dass sich einige entfernte Sitznachbarn (gegenüberliegendes Ende der Reihe) bemüßigt fühlten, zu widersprechen.

Der Historikerstreit in den hinteren Reihen ebbte erst ab, als es endlich 1588 war und die spanische Armada eintraf. Zeit wurde es, ein Amerikaner schrie, »I hope the Spaniards kick their lazy butts!«, und genau, nach so viel eigenwilliger Geschichtsverfilmung schien selbst ein Sieg des watschelnden Philipp II. möglich, wir alle hofften, ein Hapoel-Fan münzte einen Fan-Song um auf die Spanier, einige gröhlten mit, der Text passte sehr gut.

Eine erboste Mädchentruppe mit Hadag-Nachash-T-Shirts verließ geschlossen den Saal, als Cate Blanchett wie ein Schluck Wasser in ihrer Ritterrüstung hing und vom Pferd herunter ihre Tilbury-Brandrede hielt. Selten dürfte Pathos so danebengelungen sein, diese Szene war wirklich dermaßen schlecht, dass es einem die berühmten Schuhe auszog.

Am Ende brannte das Bild, na gut, wir waren versöhnlich gestimmt, es war ja vorbei, Elizabeth und England haben nach einem schlechten Spiel gewonnen, dann gab es noch ein paar Abspannsätze über die Nachgeschichte, und diese groß tönenden Abspannsätze waren wieder unterste Kanone, die letzten »What the fuck!«s des Abends erklangen, das Licht ging an, alle sahen sich nach den anderen um, ein schönes Filmerlebnis da oben im Dizengoff-Center, aber empfehlen können wir »Elizabeth« natürlich nicht, hehe.

Kaffeehaus des Monats (Teil 21)

sine loco, 1. Januar 2008, 21:50 | von Millek

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Boké, Kankan

Kankan
Das Boké.

(Einfach ins Zentrum und dann fragen.)

In den Azrieli Towers

Tel Aviv, 31. Dezember 2007, 19:10 | von Paco

Heute morgen bei den Jungs von Waves Audio im 32. Stock des Triangle Towers, dem schönsten der Azrieli-Skyscraper. Unsere Lorbeerverteilung für die 10 besten Feuilletonartikel der letzten 12 Monate rückt näher, Millek am Telefon mit Marcuccio, im Hintergrund ein wenig Stadt und mit etwas Phantasie das Meer:

Sicht aus dem Triangle Tower

Währenddessen: In der Kantine liegt die Kostenloszeitung »Israel Ha’Yom« umher, kurz reinblättern, der tägliche Sticker zum Ausschneiden trällert heute den Abgesang aufs alte Jahr:

2007 endlich zuende

»Alpaim ve’sheva sofsof ha’sof«, »2007 endlich zuende«, diese Sicht deckt sich mit der von Oliver Gehrs, der gerade meinte, dass 2007 auch für den »Spiegel« »ein ganz ganz fieses Jahr« gewesen sei.

Hält uns natürlich nicht davon ab, hinunter in die Azrieli-Mall zu gehen, zu Steimatzky, und den heutigen »Spiegel« zu holen. Damit wir die Zeitschrift nicht wieder gleich zerreißen müssen, sacken wir noch eine »Vanity Fair« ein, die amerikanische natürlich, January 2008.

Vor dem Steimatzky

Dann eine Etage höher, in eine Aroma-Espresso-Bar-Filiale. Lektürewahn. Schere, Stein, Papier, ich verliere wie immer (absichtlich, hehe) und kriege die VF.

Schon beim Editorial von Graydon Carter merkt man, dass das keine deutsche Zeitschrift ist, das ist ein knallharter Diss Richtung GWB und Giuliani, etwas wohlfeil vielleicht, aber meinungsstark. Genau das, was deutsche Herausgeber-Vorworte nicht sind – dazu kurz an Julia Enckes FAS-Artikel von neulich erinnern. Sie schrieb damals, dass Helmut Markwort der einzige worthwhile Leitartikler ist, bloß merkt das eben kaum jemand, weil das im »Focus« passiert.

Dann gleich weiter zu einem der Coverartikel, »Into the Valley of Death«, Sebastian Junger über eine Einheit des 503. Infantrieregiments, die im Korengal-Tal fightet (S. 86-95 und 146-147). Ein sehr guter Frontline-Artikel, der Mikro- und Makrosicht einbezieht. Mehrere Abschnitte beginnen mit »ich«, es liest sich gleich viel besser, wenn die Situation des Schreibers ab und zu klar dargelegt wird.

Millek isst Sandwich um Sandwich, damit er sein Kampfgewicht erreicht (»endlich«), und liest dabei den »Spiegel«:

Die Aroma-Filiale in der Azrieli-Mall

Welche Artikel bis jetzt: »Der Schlächter von Monrovia« (S. 98), den generellen Artikel zu Privatisierungen staatlicher Unternehmen auf S. 58 und den Bhutto-Aufmacher (S. 82, noch nicht ganz fertig). Und ganz zu Anfang und vor allem das Interview mit Joachim Latacz auf S. 125. Tja, vorgestern war Millek noch Schrottianer, nachdem er die Lektüre der vier Homer-Seiten von vorletztem Samstag nachgeholt hat. Jetzt will er auf den nächsten Pro-Schrott-Artikel warten, um wieder umzuschwenken.

Dann raus aus den Towers und rein ins Museum of Art am Shderat Shaul Hamelech. Ein paar gute Sachen aus der zweiten Reihe, schärft den Blick. Aber auch etliche schöne Pissarros, und Alfred Sisley passt zum Wetter draußen, und die »Journal«-Bilder von Juan Gris wären ja im Prinzip geeignete Logos für den Umblätterer. Usw.

Tausche »Spiegel« gegen »FAZ«

Tel Aviv, 31. Dezember 2007, 00:40 | von Paco

Nach dem Aufstehen kurz Pita, Humus, Nutella und den Wilhelm-Busch-Artikel von Elke Schmitter, sehr gut, unerwarteterweise ein Highlight der Ausgabe. Sehr interessant der Battle zwischen den drei erwähnten neuen Busch-Biografien zum 100. Geburtstag.

Frühstück

Millek liest den »Yedioth Ahronoth« von heute, das Centerfold der Entertainment-Sektion, »צו אופנה« (»tzav ofna«), ein Wortspiel. ›tzav‹ ist ›Befehl‹, im engeren Sinn der Einberufungsbefehl, ›ofna‹ heißt ›Mode‹. Man könnte das mit »Ruf der Mode« ins Deutsche übersetzen, doch für ein funktionierendes Wortspiel müsste dann jedem noch klar sein, was ein »Ruf der Pflicht« ist. Na gut, unter jedem zweiten Weihnachtsbaum dürfte der Egoshooter »Call of Duty 4« gelegen haben.

Jedenfalls geht es um US-Mädels, die Dienst in der israelischen Armee leisten. Sie werden jeweils einmal in Uniform, einmal in ihrem Freizeitstyle abgebildet und fragebogenartig vorgestellt:

Ruf der Mode

Sowas sollte »Vanity Fair« mal machen, liest sich schön zwischendurch weg und ist sozusagen mindestens genauso gut wie damals die »Monocle«-Story über die japanische Navy.

Viel mehr ist nicht zu holen in der heutigen YA, also streiten wir uns um den »Spiegel« und zerreißen ihn schließlich in der Mitte. Guter Kompromiss.

Dann zum zweiten Frühstück ins Boya am alten Hafen. Shakshuka bis zum Abwinken. Dazu das tiefblaue Mittelmeer als Kulisse und die letzten ungelesenen »Spiegel«-Artikel.

Ich habe den vorderen Teil abgekriegt, den mit der Koran-Titelgeschichte, dem Schäuble-Artikel, alles schon gelesen. Was bleibt, ist der Klaus-Brinkbäumer-Artikel über den verschwundenen Abenteurer Steve Fossett und dessen ihn vermissenden Milliardärskumpel Barron Hilton. Ein unnötig langer Artikel, würde man denken (S. 62-68), aber das ist genau die »Spiegel«-Epik, der man sich nicht entziehen kann.

Am Strand trafen wir etwas später einen Berliner Touristen, der die vorgestrigen Ausgaben der FAZ und SZ bei sich trug. Wir schlugen ihm ein Tauschgeschäft vor, unser »Spiegel« gegen die Zeitungen, aber da das Aust-Blatt schon zerrissen und erkennbar ausgelesen war, wollte er nur eine Zeitung hergeben.

Es war die Stunde der Entscheidung. Wir nahmen die F-Zeitung, denn die war auch einfach zu reichhaltig. Wann hat man schon mal einen Artikel über Klaus Heinrich im Feuilleton (diesmal Friedrich Wilhelm Graf zum 8. Band der »Dahlemer Vorlesungen«). Und dann noch Andreas Platthaus zu den »Mosaik«-Comics, anlässlich einer Hallenser Ausstellung. Was für eine gelungene Mischung, die mussten wir haben.

Dann gingen wir neues Nutella kaufen und alte Zeitungen wegbringen, und zuhause kam auf yes stars 3 zufällig die »Curb«-Folge 4.01, ein Highlight-Revival, die Karaoke-Bar, der Zwischenfall mit dem Handy-Rollstuhlfahrer, Larrys Suche nach chinesischen Vornamen, schließlich die titelgebende »Mel’s Offer«, die Larry zum Max Bialystock macht.

Usw.