Im Bus mit Erich Zann

London, 1. Oktober 2008, 13:15 | von Dique

Mir stand eine halbstündige Busfahrt bevor und mit Panik stellte ich fest, dass ich Norman Lewis, »To Run Across the Sea«, bereits ausgelesen hatte. Anstatt nun wild Artikel von Onlinepublikationen auszudrucken (wie so oft), stöberte ich auf dagonbytes.com nach einer Lovecraft-Geschichte. Diese Website ist trotz der weißen Schrift auf schwarzem Grund eine der besten Lovecraft-Quellen.

»The Music of Erich Zann« (1921 geschrieben, 1922 veröffent­licht) sprang mir gleich ins Auge, weil der Titel etwas nach Borges klingt (und mit 6 Seiten auch von der Länge her an dessen Erzählungen erinnert, hehe).

Es ist dann aber alles ganz Lovecraft und wohl auch ein bisschen Genre. Irgendein schreckliches Erlebnis in der Vergangenheit, von dem alle Spuren verloren sind, der Ort verschwunden, Papiere vernichtet. Nur im Geiste des Erzählers lebt alles weiter, und dem stehen bei der Erinnerung die Haare zu Berge.

In diesem Fall wird die Nicht-Zugänglichkeit von Referenzen nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende klargestellt. Die Erzählung beginnt mit:

I have examined maps of the city with the greatest care, yet have never again found the Rue d’Auseil.

Und endet ebenso:

Despite my most careful searches and investigations, I have never since been able to find the Rue d’Auseil.

»Lovecraft considered ›The Music of Erich Zann‹ one of his best stories, in part because it avoided the overexplicitness that he saw as a major flaw in some of his other work«, heißt es in der Wikipedia, und ich möchte dem beipflichten.

Erst kürzlich las ich außerdem »H. P. Lovecraft: Against the World, Against Life« von Michel Houellebecq, mich machte die ungewöhn­liche Combo neugierig, Houellebecq über Lovecraft, war sehr gut, und einen Vorabdruck gab es mal im »Guardian«. Könnte man sich jetzt ausdrucken und im Bus lesen.

Die FAS vom 28. 9. 2008:
Varus, Arminius, Dexter

Leipzig, 28. September 2008, 18:40 | von Paco

Millek und ich lehnten an einem Geländer in der Nähe der Theologischen Fakultät und unterhielten uns über Ptolemäus I.

An uns vorbei stiefelte ein Mann, der wie Maxim Biller aussah, und wir blickten ihm nach. Kann eigentlich nicht sein, denn der müsste ja rein rechnerisch irgendwo sitzen und Glossen schreiben. Einige Meter weiter, vor der heute natürlich geschlossenen Norma-Filiale in der Otto-Schill-Straße, standen ein paar Schüler mit Bierflaschen und riefen: Lach doch mal. Und der stiefelnde Mann kuckte kurz rüber, war aber offenbar gar nicht gemeint.

Ptolemäus I. also, aber wir waren auf Abwege geraten, denn eigentlich hatten wir heute morgen nur das sehr gute Antike-Spezial des FAS-Feuilletons gelesen, komplett gelesen.

Im Aufmacher von Peter Körte (S. 25-26) geht es um die Örtlichkeit der Varusschlacht / Hermannsschlacht / Schlacht im Teutoburger Wald. Seit dem Sommersemester 1997 schaue ich fast täglich auf der universitären Website zum Thema nach, ob es Neuigkeiten gibt. Gab es aber eigentlich nie und wird es auch nicht geben, vermutet Körte.

Die Gegend um Kalkriese steht als Gemetzelort nicht wirklich fest, ist als solcher aber wegen des dort gefundenen Schlachtfeldschrotts sehr wahrscheinlich. Das widerspricht jedoch den Angaben der (allerdings nie in Germanien gewesenen) römischen Autoren, die sich in den ersten Jahrhunderten u. Z. zur Schlacht geäußert haben.

»Schnitzel Arminius«, das ist notabene die hervorragende Überschrift zu dem Körte-Artikel, und genau so mit nur halber Ernstigkeit beschreibt er den Zweiklang der archäologisch-touristischen Bemühungen vor Ort. Seinen grandiosen Schluss leitet er mit dieser Idee ein: »Warum will man überhaupt wissen, wo es war? Niemand braucht mehr die Sinnressource Hermann« (usw., S. 26).

Inzwischen waren wir in den Clara-Zetkin-Park gegangen, wo wir andere Leute trafen, die auch alle die FAS natürlich bereits schon gelesen hatten.

Sonntags im Clara-Park

Jemand regte sich darüber auf, dass Stefan Niggemeier die gerade auf RTL 2 anlaufenden erste Staffel von »Dexter« nicht gut fand (S. 34). Seine Gründe: »Plädoyer für die Todesstrafe«, außerdem zu unkomplex und zu unvielschichtig. Ich bin zumindest bei den letzten Punkten anderer Meinung, meine damit aber vor allem die 2. Staffel.

Und außerdem ist es doch gut, dass jemand der ungehinderten »Dexter«-Begeisterung mal den Spiegel vorhält. Es kam zu einem kleinen Disput, der sich aber zwischen allen irgendwie verlief, Themen wurden gewechselt, die Sonne schien, und irgendwann lief ich wieder neben Millek, und wir setzen unser Gespräch über Ptolemäus I. fort.

Regionalzeitung (Teil 9)

Leipzig, 27. September 2008, 19:11 | von Austin

 
  41.   war für jeden etwas dabei

  42.   ging es munter weiter

  43.   begeisterten ihr Publikum mit

  44.   eine gekonnte Darbietung verschiedener

  45.   ernteten dafür den verdienten Applaus
 

Pocahontas was her name

London, 24. September 2008, 23:08 | von Dique

Gestern in Gravesend, Kent. Und im Zug geht es mir durch den Kopf:

On Gravesend’s shores lie the bones of an Indian squaw …

Das ist der Anfang eines Stücks von Thee Headcoats, einer Band von Billy Childish, welches ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört habe. »Pokerhuntus was her name« heißt der Song, und, wie man sich denken kann, geht es um Pocahontas.

In 1595 at the dawn of the white invasion
That girl child was born in the heart of the Powhatan nation
Pokerhuntus was her name, daughter of the Chief Powhatan

Ihre Gebeine liegen nicht mehr in Gravesend, denn bei einem Kirchenumbau wurde das Grab des Mädchens, welches zum Zeitpunkt ihres Todes Rebecca Rolfe hieß, zerstört.

Auf der Website der Powhatan-Indianer schreibt Chief Roy Crazy Horse, dass sie eigentlich Matoaka hieß, Pocahontas war nur ein Spitzname. Sein kurzer Text über die berühmteste Tochter der Powhatans ist eine Reaktion auf den verklärenden Disneyfilm, der ihren Namen trägt. Ich habe ihn nicht gesehen.

Aber ich habe »The New World« von Terrence Malick gesehen, und ich frage mich, ob Crazy Horse darüber ein milderes Urteil fällen würde.

Nun stehe ich vor der Pocahontas-Statue in Gravesend, und wie ich lese, ist das eine Kopie des Originals von William Partridge, welches seit 1922 in Jamestown, Virginia, steht. Ich habe immer noch keinen iPod, erinnere mich aber an einige weitere Zeilen.

In the contract of peace a marriage was agreed
She sailed with her husband from the bay of Chesapeake
And with tears in her eyes she couldn’t bring herself to speak

Pocahontas starb 1617 in Gravesend, kurz nach dem Aufbruch zu ihrer Rückreise nach Virginia. Im gleichen Jahr steckte ein anderes Mädchen Tangermünde in Brand, schreibt jedenfalls Fontane in seiner Novelle »Grete Minde«. Usw.

Kaffeehaus des Monats (Teil 41)

sine loco, 24. September 2008, 16:23 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Buenos Aires, Don Julio

Buenos Aires
Das Don Julio in der Guatemala 4691.

(»Te conozco, vos sos Oliver Bierhoff,
¡entrá, entrá, por favor!«)

Die FAS vom 21. 9. 2008:
»Ich dachte, es würde draußen schneien«

Leipzig, 22. September 2008, 18:57 | von Paco

Потому что в данный момент вышла новая советская книга Кристиана Крахта мне очень хочется обобщить вчерашнею »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« по-русски – к сожалению, швейцарский я не знаю!

Это новое произведение »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« обсуждает на первой странице в фельетоне Фолькер Вейдерманн. Он в особенности подчеркивает одну из типичных фраз Крахта: »Ich dachte, es würde draußen schneien.« (»Я думал, что на улице будет падать снег.«)

И ужасно интересно был неудачный интервью, что взяла Иоганна Адорьян у Роберта Дауни-младшего.

В кратком эпилоге она пишет: »Dies, beschließe ich, ist mein letztes Interview mit einem Schauspieler.« (»Это, я решила, был мой последний интервью с актерами.«)

Но кто же, если не она, тогда должен это делать!

Der letzte »Economist«

London, 20. September 2008, 19:52 | von Dique

Den »Economist« kaufe ich nur noch bei besonderen Gelegenheiten. Ich suche ihn auf wie einen weisen Freund, den man viel zu selten sieht und an den man sich wendet, wenn man von keinem anderen mehr erwartet, brennende Fragen beantwortet zu kommen. Das ist ein bisschen wie in dem besten und wohl einzigen sinnvollen filmischen Beitrag zur Artus-Sage, »Excalibur« von John Boorman.

Am Ende des Films vereinen sich die Ritter der Tafelrunde zur letzten Schlacht gegen Mordred, den bösen Sohn von Artus und dessen nicht minder bösartigen Halbschwester Morgana. Am Vorabend der Schlacht steigt Artus auf einen Hügel mit Monolithen und spricht zum verschwundenen Merlin (Morgana hatte ihn zuvor mit seinem eigenen Zauberspruch verhext), um den er sich seit Jahren nicht gekümmert hat. Er kehrt zurück und erhofft sich Beistand.

Nichts anderes erwarte ich vom »Economist« nach dem Massaker an den Finanzmärkten in der letzten Woche. »The Economist« erscheint am Freitag, und ich ging heute (Samstag) morgen bei meinem Newsagent vorbei. Normalerweise gibt es die gerade aktuelle Ausgabe die ganze Woche lang bis Donnerstag, bevor dann am Freitag die neue in die Geschäfte gelegt wird.

Ich stand nun vor dem Regal mit den News-Magazinen und konnte ihn einfach nicht finden. Dabei hatte ich das Cover-Bild genau im Kopf, nachdem ich schon im Netz das Inhaltsverzeichnis abgescannt hatte: ein reißender Strudel, in dem die Logos großer Finanzwerte hinabgerissen werden.

Vielleicht lag er an der Kasse. Fehlanzeige. »I don’t seem to find The Economist«, sagte ich dann zu meinem Newsagent, welcher mich schelmisch angrinste. »I have only one copy left«, sagte er und holte unter einem kleinen versteckten Papierstapel noch ein Exemplar hervor. »The best newsagent, hehh?«

Jedenfalls bin ich also nicht der einzige Leser, der sich, wenn die Kanonen donnern, auf die sachlichen Lageberichte dieses Blattes besinnt.

War bis eben aber noch gar nicht zum Heft gekommen, denn im FT Weekend Magazine gibt es eine Warren-Buffett-Biografie, »A billionaire in the making«, und die las sich ganz prima zum Kaffee.

Aber nun endlich zum »Economist«, direkt in den Leader auf Seite 13, bei dem ich mich besonders über diesen humorvollen Satz freue:

»Some will argue that the Federal Reserve and the Treasury, nationalising the economy faster than you can say Hugo Chávez, …«

Was es heißt, Grass zu lesen

Leipzig, 17. September 2008, 16:32 | von Paco

»Die Zeit« hatte die äußerst gute Idee, das neue autobiografische Günter-Grass-Buch »Die Box« von jemanden besprechen zu lassen, der vorher noch nie ein Buch von Grass wirklich gelesen hat, und zwar von dem Autor Andreas Maier. Der so entstandene Artikel »Und Vater fand endlich Ruhe« war vor drei Wochen Aufmacher des Literatur-Teils (Nr. 36/2008, S. 53/54) und ist ein heißer Kandidat für unsere Feuilleton-Top-Ten 2008.

Maier hatte davor lediglich in Grass‘ »Treffen in Telgte« mal reingelesen. Auch die »Blechtrommel« hat er kurz mal aus dem Regal eines Bekannten hervorgezückt: »Ich hatte eine Viertelstunde Zeit und las den Anfang.« Immerhin: »Er schien mir kraftvoll, ich musste an Max Frischs Stiller denken.«

Das Experiment der »Zeit« erinnert an ein ähnliches Experiment der »FAS«. Sie hatte den letzten »Harry Potter«-Band von Jochen Schmidt (sagen wir mal:) rezensieren lassen, obwohl er die 6 Vorgängerteile gar nicht kannte (und sich darüber in der Wikipedia informierte).

Damals wie heute geht es also darum, ob man Bücher überhaupt lesen kann, die am Ende eines Œuvres stehen, ohne dass man die etlichen Vorgängertexte zur Kenntnis genommen hätte.

Ebenso wie Schmidt liefert Maier einen souveränen Text ab, der eben dieses Problem implizit mitdenkt. Nur weil er noch nie ein Grass-Buch gelesen hat, kann er im folgenden ganz unvorein­genommen mal beschreiben, was es überhaupt heißt, Grass zu lesen.

Für jüngere Literaturkritiker ist jedes neue Grass-Buch ja immer wieder die Aufforderung, die eigenen Verriss-Künste zu proben. (Mir fällt da spontan der Sundermeier-Text zum »Krebsgang« ein, der das rezensierte Buch inhaltlich und stilistisch locker in den Schatten stellt.)

Maier dagegen hat seine Beobachtungen ganz nüchtern hingeschrieben, fern jeder Polemik. Am deutlichsten scheint ihm die Diskrepanz zwischen einfachem, chronologischen Inhalt und formaler, stilistischer Verkomplizierung: »Aus dem formalen Aufwand schließe ich, dass der Autor dem einfachen Text, der zugrunde liegt, nicht traut«, schlussfolgert Maier. Den titelgebenden Hauptkniff, die »Box«, nennt er dann aber sogar »einen schönen Einfall«.

Letztlich ist Maiers Beschreibung natürlich doch ein Verriss. Er hat das neue Grass-Buch »recht beflissentlich, aber (…) ohne einen Funken Begeisterung« gelesen, wie der Perlentaucher zusammenfasst.

Arno Schmidt hat ja mal extrapoliert, dass man in seinem Leben höchstens 3.150 Bände lesen kann, und »die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!« Mit Maier hat also einmal mehr jemand exemplarisch festgestellt, dass man von Grass Abstand halten und eine Ausnahme nur machen soll, wenn man von der »Zeit« dazu beauftragt wird.

[Dank an Artificios für den Hinweis!]

Regionalzeitung (Teil 8)

Leipzig, 16. September 2008, 13:52 | von Austin

 
  36.   ließen sie sich die gute Laune nicht verderben

  37.   waren wieder in Bestform

  38.   öffneten sich die Pforten für den alljährlichen

  39.   ein Sprung ins kühle Nass

  40.   eine tolle Mischung
 

Der Rilke-Panther unter den Geysiren

Konstanz, 13. September 2008, 09:25 | von Marcuccio

»Unbedingt vermeiden«: Die aus »Ferien für immer« bekannte Rubrik für alle, die unterwegs sind, bekommt heute mal einen neuen Eintrag: den »Brubbel«.

Brubbel ist ein Kaltwassergeysir, der einzige des europäischen Festlandes. Heißt es. Und also für jeden Wanderer in der Gegend eine Reise wert. Dachten wir. Weil man bei Geysiren ja immer gern an Island und Naturgewalten denkt, eventuell auch an Erdspuk und Gespenster von Judith Hermann.

Doch: Deutschland ist nicht Island, und Brubbel in der Vulkaneifel ist vielleicht geologisch ein Geysir; rein optisch könnte er auch ein Dorf-Springbrunnen mit Intervallschaltung sein oder, das noch viel mehr, die verdreckte Kneipptretanlage von Wallenborn.

Brubbel ist ein domestizierter Geysir, aber was für einer. So ziemlich der worst case dessen, was einem Geysir passieren kann: Eingefasst in eine kreisrunde Betonschalung mit Metallbrüstung drumherum darf Brubbel (auch bei YouTube) alle 30-35 Minuten brubbeln.

Wie wir ums Brubbel-Gitter stehen und warten, dass das passiert, gehen uns, zwei Dumme, ein Gedanke, die Lyrics nicht mehr aus dem Kopf:

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.

Natürlich, das hier ist der Rilke-Panther unter den Geysiren. Und hatte »R.M.R« nicht sowieso ein Faible für alles, was sprudelt? Fontänen? Vielleicht müssen die Philologen ja noch mal ran, und am Ende beschreibt der Panther-Knacker der deutschen Literatur gar keine Kreatur im Pariser Jardin des Plantes … all das passiert hier, im Wasser-Verlies von Wallenborn:

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf

… das ist genau der Moment (bei YouTube die Min. 0:20), in dem sich unter dem armseligen Drahtkäfig die braune Brühe hebt und anzeigt, dass Brubbel, nun ja, gleich kommt.

Und wie er das (bitte schön spritzsicher hinter dem Geländer) vor aller Augen tun muss,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

mit einem

»Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht«

Sogar der tolle Umstand, dass Brubbel, wenn er kommt, bis zu 3 Meter hoch kann, ist dann doch eine ziemliche Porno-Nummer für Touristen: Man verengte vor ein paar Jahren einfach den Durchmesser der Bohrleitung. Das erhöhte den eruptiven Druck und gibt der ganzen Geschichte sowieso den Rest, denn Brubbel kam ja nie naturgewaltig ans Licht der Welt: Er wurde, wie die örtliche Website in seltsamer Diktion vermeldet, 1933 »in seiner Einmaligkeit ›geschaffen‹«.

Wie gesagt, bitte unbedingt vermeiden.