Don’t Be Such a Tourist

London, 14. Dezember 2008, 20:14 | von Dique

Letzten Sonntag wie immer die FAS gekauft und dann nicht ein Stück davon gelesen, weil ich »Brideshead Revisited« von Evelyn Waugh nicht aus der Hand legen konnte.

Ein mindestens wundervolles Buch, und Waugh schreibt einfach superst. Es geht um eine Jungen-/Männer-Freundschaft in Oxford, der eine aus einer noblen Familie und der andere einfach nur normal wohlhabend. Es spielt Anfang 19.20. Jahrhundert und beschreibt den langsamen Verfall der Upperclass-Familie des einen Burschen. Es gibt aber verschiedene Zeitebenen und handelt in aller Welt, es ist also kein lahmes Oxford-Burschen-Drama.

Ok, lange Rede und extremst kurzer Sinn, eigentlich wollte ich nur meine Freude über dieses Zitat teilen:

»Oh, Charles, don’t be such a tourist.«

Das sagt Sebastian, als Charles bei seinem ersten Besuch auf Brideshead Castle wissen will, ob irgendein Dach der Familienkapelle zur gleichen Zeit wie das Gebäude erbaut wurde.

Mir passierte noch ein kleines Verhör-Malheur à la »Der weiße Neger Wumbaba«. Es gibt nämlich »Brideshead Revisited« als BBC-Serie (von 1981) und ich schaute mal in die erste Folge rein. Das sah alles sehr gut aus, Jeremy Irons spielt Charles Ryder, und auch Anthony Andrews als Sebastian Flyte scheint gut getroffen. Ich hielt es nur nicht lange durch, weil die Dialoge und auch der Off-Kommentar direkt dem Buch folgen, es also mehr oder weniger eine Bebilderung des gerade Gelesenen für mich bedeutete.

Jedenfalls dachte ich irgendwie, dass die nicht Brides–head sagen, sondern Bride–shead, und ich habe das einfach mal geglaubt. Bis ich dann später ein paar Leute traf, die gerade vom Christie’s Preview kamen. Sie hatten sich den 36-karätigen Blauen Wittelsbacher angesehen, der dort zur Versteigerung anstand.

Ich erntete jedenfalls ungläubige Lacher, als ich behauptete, dass es Bride–shead heißt und nicht Brides–head, und das war peinlich, zumal ich erst neulich mehrfach »Vril« verstanden hatte, wo doch einfach von »Drill« die Rede war.

Der Blaue Wittelsbacher kam dann ein paar Tage später unter den Hammer, für ca. 16 Millionen Pfund, das beste Ergebnis für einen Naturstein ever, und ich hoffe, wenigstens das stimmt jetzt so wie von mir behauptet.

Heute Morgen habe ich dann natürlich wieder die FAS gekauft, und auch diesmal wird sie wohl nicht so richtig gelesen werden können, denn die Konkurrenz ist auch heute gut, ich lese gerade endlich mal Lottmanns »Zombie Nation«, wegen dessen steigender literaturhistorischer Bedeutung.

Moritz Baßler und der Schoko-Igel

Konstanz, 13. Dezember 2008, 09:00 | von Marcuccio

Dass Kracht seine S.S.R. als grandiose Spielzeug- und Modelleisenbahn-Kulisse aufbaut, ist das eine. Das andere ist der Schoko-Igel auf S. 46! Der ist natürlich ganz große Deko in Krachts Suisse en miniature.

Ich habe mich, nun ja, tierisch gefreut, dass wenigstens Moritz Baßler das Utensil in seiner Kracht-Besprechung für die letzte »Literaturen« erwähnte. Unter anderem wegen Baßler kann und soll man ja mindestens immer dann, wenn ein neues Kracht-Buch erscheint, mal in die »Literaturen« schauen. Baßler spricht von einem »Roman für Spurensucher«, der eine akribische Lektüre lohnt:

»Viele Anspielungen (…) sind wahrscheinlich nur für Schweizer zu decodieren.«

Und als wollte er genau das beweisen, nennt er im nächsten Satz »die Schoko-Igel aus ›Es geschah am hellichten Tag‹«. Aber versteht sich der eine Igel, den der einbeinige Soldat an den Kommissär verkauft, nicht vielmehr als Reminiszenz an die Expo 1964 in Lausanne?

Damals präsentierte sich die wehrhafte Schweiz als Nation, die sich im Ernstfall nach innen zusammenrollt wie ein Igel. Was für ein Symbol für den Mythos Réduit!

Dass das Einigeln als Verteidigungsstrategie im wirklichen militärischen Klammergriff mindestens so zusammengeschmolzen wäre wie ein Schokoladen-Igel in der Hand, ist natürlich so »niedlich« wie das gleichnamige Klischee, das von den Schoggi-Beuteln der Migros bis zur Swissminiatur in Melide schweizweit verkauft wird.

Dass die Verteidigung der Schweiz zudem auf Black Power setzt, macht den Kracht-Schoko-Igel zur zartesten Versuchung, seit es Cover-Versionen literarischer Symbole gibt.

Der Eisenbahner Christian Kracht

Konstanz, 11. Dezember 2008, 18:00 | von Marcuccio

Ich kann es ja immer noch nicht glauben, aber angeblich macht die nächste Nummer der Zeitschrift »Loki« mit Christian Kracht auf. Irgend so ein Freak von den Schweizer Modellbahnfreunden scheint nämlich Krachts letzten Roman nachgebaut zu haben. Also die ganze Kulisse der Schweizerischen Sowjet-Republik (S.S.R.), mit Neu-Bern, Meiringen, beleuchtetem Réduit, e tutti quanti. Im selben Zusammenhang war irgendwo auch die Rede von einer Kracht-Lesung in der SWR-Sendung »Eisenbahn-Romantik«.

Also: Ist Kracht, unser Christian Kracht, in Wahrheit ein Fetisch-Künstler für die Szene? Haben wir da irgendwas verpasst? Der Umblätterer hat einmal nachgecheckt, was an den Gerüchten dran ist und wer denn da wie auf seine Kosten kommt:

Kracht für –

    – Modellbahnbauer
    – Streckenwärter
    – Bergbahnfahrer
    – Eisenbahn-Ethnografen
    – Anschlussreisende

*

Kracht für Modellbahnbauer

Man kann sagen, was man will, aber »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ist durch und durch eisenbahnsemantisch codiert. Schon die Ausgangskonstellation: »Stell dir vor, Lenin hätte den Zug verpasst …« Und gleich auf den ersten Seiten wird klar, dass Kracht hier nicht einfach eine Gegenwelt, sondern ein Modellbau-Spektakel par excellence zelebriert:

»Der Weg zum Bahnhof schien jeden Morgen wie eine Theaterkulisse, erst ging es an mit Rauhreif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter, Bäume, immer wieder schwarze Vögel, die gerade so aufflatterten, als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister an einem Bindfaden durch die Szenerie.« (S. 13)

Spielt da einer Hitchcock im H0-Maßstab? Auch später im Buch wirken die Häuser immer so, als ob »die jemand dort hingeschoben oder -gezogen hatte«. Und interessanterweise baut die S.S.R. nicht aus Glas & Stahl, sondern aus »Glas & Eisen, modern und vor allem mit menschlichen Zügen und Proportionen« (S. 26).

Schließlich wird klar, dass das hier alles Teil einer großen Vision für große Jungs ist, die sich zum Spielen am liebsten in ihren Hobbykeller (vulgo: Réduit) zurückziehen.

»Über den neuen Ring, Eidgenosse, (…) wird eine silberne Schienenbahn fahren, rund um die Uhr. Und am Steuer werden unsere zuverlässigen Bruder-Freunde sitzen, sie werden jedem Fahrgast salutieren.« (S. 27)

Salutierende Bruder-Freunde am Steuer? Schaut ganz so, als ob auch Krachts Modellbahnwelt den Beresina-Alarm kennt. Wie überhaupt so manche Elemente aus dem Film »Beresina oder die letzten Tage der Schweiz« die S.S.R.-Deko stellen: Sowohl die Wegzeiten-Beschilderung aus dem Réduit-Stollen wie auch die Jagdhütte hat Kracht – Modellbahnerehre! – filigran eingearbeitet. Vielleicht hätten sich Scheck und Kracht neulich – statt in einer Kaverne der Kölner Kanalisation – also auch gut unter den Kulissen des Hamburger MiWuLa gemacht.

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Kracht für Streckenwärter

Schon »Faserland« war – trotz HaFraBa – ganz schön eisenbahnig. Und zwar nicht nur in Form des berühmt-berüchtigten Bord-Bistros, an das jetzt alle denken, mit Recht denken. Da war vor allem auch das Ding mit der Eisenbahn-Hochbrücke, von der die Exkremente runterplumpsen, weil die Zugklos ja früher wirklich offen auf die Strecke entleerten. Was das für darunterliegende Häuser und Gärten bedeutet hat, lässt dieser YouTube-Clip erahnen.

Jedenfalls: Die Fahrt von Sylt nach Hamburg verbringt der Ich-Erzähler weitgehend auf der Zugtoilette, und da fällt ihm ein, mal gelesen zu haben, »daß sich irgendwelche Menschen bei Kassel immer beschwert haben, wenn der Zug über eine hohe Eisenbahnbrücke fuhr«. Klar: Exkremente, eklig, Beuys, Kassel – die Assoziationskette passt. Aber, liebe Eisenbahnfreunde, noch mal zum Mitschreiben: Da rattert der »Faserland«-Erzähler zwar hinter »Blindglas« (Kracht, der alte Fuchs!), aber doch wohl mit der Marschbahn über den Nord-Ostsee-Kanal und faselt was von irgendeiner hohen Eisenbahnbrücke bei Kassel!? Für einen Hagen von Ortloff muss diese Form von Streckenblindheit die gleiche »parsifalhafte Unwissenheit« haben wie für Martin Hielscher die Tatsache, dass der »Faserland«-Held Walther von der Vogelweide und Bernhard von Clairvaux als mittelalterliche Maler bezeichnet.

(Vgl. Martin Hielscher: Pop im Umerziehungslager. Der Weg des Christian Kracht. Ein Versuch. In: Johannes Pankau (Hg.): Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg: Aschenbeck & Isensee 2004, S. 105.)

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Kracht für Bergbahnfahrer

Eisenbahnsemantisch legt Krachts S.S.R. im Vergleich zu »Faserland« noch mal deutlich eins drauf, und zwar nicht nur wegen der »Kaliber-52-Krupp-Schienengeschütze« (S. 105). Das ganze Réduit ist im Grunde nichts anderes als eine bombastische Bahnanlage, »hunderttausend Werst unterirdische Schienen (…), soviel wie zweimal um den gesamten Erdball« (S. 60).

Es sind, notabene, auch nicht irgendwelche Schienen im Réduit verlegt, sondern »die Schienenstränge einer Schmalspurbahn« (S. 100). Man fährt auf »Loren« durch lange Stollen und »mit eisernen Fahrstühlen, die wie Käfige an Stahlseilen befestigt waren, tiefe Schächte hinab« (S. 104).

Die Lieblingsszene aller Bergbahnfahrer ist natürlich die, wo der Aufzug steckenbleibt und ein junger Soldat (»es war ein Welscher«) so dermaßen Schiss hat, dass er dem schwarzen Kommissär blaue Flecken in den Arm kneift. Dass Welsche in dem Buch Rassisten sind, die ihrerseits dem Rassismus der Deutschschweizer ausgesetzt sind (»Die Welschen waren einfach nicht zu erziehen!«), ist eine Nebenstrecke des Romans und natürlich mal wieder Kracht, krachtiger geht’s nicht. Dass sich in steckengebliebenen Aufzügen zeigt, was ein echter Schweizer ist, findet wie Kracht übrigens auch Sibylle Berg, weswegen ihr NZZ-Text »In der Standseilbahn« ein ganz wunderbarer Stellenkommentar zu dieser Szene ist.

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Kracht für Eisenbahn-Ethnografen

Wie jede Fantasy spiegelt sich auch Krachts S.S.R. auf Schienen an Vorbildern aus der Wirklichkeit. NEAT-Feeling weht durch die »pneumatischen Tunnelbahnen, gigantische, sich in der von knisternder Elekrizität erhellten Dunkelheit kreuzende Netze. Von Basel bis Mailand in nur sieben Stunden.« (S. 27).

Zum zivilisatorischen Netz, das die Schweizer »mit manischer Effizienz« über Ostafrika legen, gehören neben – natürlich! – Eisenbahnstrecken (S. 76f.) auch »Militärakademien, um die Afrikaner zu Soldaten zu machen und damit den gerechten Krieg, der in der Heimat wütet, endlich zu gewinnen«.

Auf alle möglichen literarischen Matritzen des neuen Kracht-Buchs wurden und werden wir ja aufmerksam gemacht. Aber kein Hinweis, nirgends, auf Isolde Schaads »Knowhow am Kilimandscharo«. Wenn Krachts »Oktoberhaut« kein Pendant zu Schaads »Fitness-Bräune« ist, dann weiß ich auch nicht. Warum reagieren die Schweizer überhaupt so diskret auf das Buch? Oder nimmt man Kracht-Interviews (»Keine Satire«) neuerdings ernst?

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Kracht für Anschlussreisende

Einen seiner Höhepunkte nimmt das Kracht’sche Eisenbahnepos, als sich der afrikanische Ich-Erzähler an die wohl wichtigste Station seiner Ausbildung erinnert: eine Manöverübung, »die uns nicht nur die Wetterverhältnisse in der Schweiz simulieren, sondern auch die Metaphysik unseres neuen Vaterlandes näherbringen sollte« (S. 61f.).

Es geht zum Kilimandscharo. Aber wie! Jeder, der schon mal (once in a lifetime!) den Klassiker aufs Jungfraujoch gefahren ist (also: mit dem ICE bis Interlaken, der BOB bis Wengen, der Wengernalpbahn bis zur Kleinen Scheidegg und von dort mit der Jungfraubahn), versteht, warum Kracht die Episode so und nicht anders schildert:

»Wir bestiegen für den ersten Teil der Strecke einen Zug (…).«

Dann ist Umsteigen angesagt:

»Aus den offenen Waggons des Eisenbahnzugs ausgeladen, hatten wir kaum am Rand der Gleise unter der afrikanischen Sonne ein wenig rasten können, als ein junger schweizerischer Korporal uns schon zu einem Nebengleis führte, auf dem eine Draisine stand. Hinauf!«

Kürzeste Umsteigezeiten und immer perfekter Anschluss. Ein Swiss Travel System wie es im Buche steht. Der immer näher rückende Gipfel des Kilimandscharo dient dann unter anderem dazu, schon mal so Dinge wie das Alpenglühen aushalten zu lernen. Dann ist Endstation in Schweizerisch-Afrika: »Die Draisine wurde am Bahnhof von Moschi ordentlich auf ein Abstellgleis gefahren«, und wo es helvetisch zugeht, darf eben auch dieses Ritual bahnpostlicher Infrastruktur nicht fehlen: »wir meldeten uns alsbald beim Stationskommandanten, lieferten den mitgebrachten Postsack aus dem Nyasaland ab«.

Fantastisch! Also, ich würde mal sagen, mehr Persiflage auf die Choreografie der Schweiz geht gar nicht.

*

Niklas Maak und Werner Spies (und Baudelaire)

Dresden, 10. Dezember 2008, 08:02 | von Paco

Immer noch in Dresden. Schon seit Donnerstag (4. 12.), weil es da im Lipsiusbau eine Sternstunde des Feuilletons gab: Niklas Maak unterhielt sich mit Werner Spies, offiziell über dessen 10-bändige Werkausgabe »Auge und Wort«. Vor Ort ging es aber gar nicht um die Bände, stattdessen wurde es ein Anekdotenspektakel, bei dem glücklicherweise Publikum zugelassen war.

Maak kam etwas später, Stau auf der Autobahn, ein Kleinlaster sei umgekippt, offenbar genau der, der die erste Ladung Backsteine für das Berliner Stadtschloss bringen sollte. Vielleicht ist das ganze Schloss-Projekt also doch wieder gefährdet, hehe.

Das Gute an dem Gespräch war, dass es eben nicht um Frage und Antwort ging. Sie hauten sich die Taschen voll, im allerherr­lichsten Sinn. Spies hatte von Begegnungen mit Picasso erzählt, als Parallelaktion sprach dann Maak noch einmal über seinen Besuch bei Cy Twombly in dessen Festung aus mehreren zusammen­gewachsenen Häusern über der Küstenstadt Gaeta. Vor knapp 4 Jahren hatte er dieses Ereignis bereits schriftlich für die FAS rekapituliert (23. 1. 2005), damals allerdings noch in der unpersönlichen »wir«-Form. Die Nacherzählung legendärer Feuilleton-Artikel durch den Autor selbst ist ganz sicher der nächste große Erschließungskomplex im Zuge der aktuellen Blog-/Vlog-Offensive der FAZ.

Was sonst noch geschah:

Spies über Kahnweiler, der ihn immer vor Max Ernst gewarnt hatte.

Spies über den alten Picasso, der mal einen Kreis für ihn malte, als Beweis seiner Zurechnungsfähigkeit.

Spies über Breton & Co. und wie sie Sigmund Freud falsch verstanden.

Spies über Beckett, wie dieser einmal am Hölderlinturm Hölderlin rezitierte (die Köpfe des Publikums legten sich träumerisch schräg).

Spies über das hinter ihm hängende Gursky-Foto, das er mit Altdorfers »Alexanderschlacht« verglich, sicher die bleibendste Aussage an diesem Abend.

Und dann bezeichneten sich beide noch gegenseitig als Lieblingskollegen bei der FAZ, so also ist das.

Ich torkelte mit Millek aus dem steinsichtigen Kellergewölbe, und noch völlig frankophilisiert feierten wir, kitschig wie der rezitierende Beckett am Hölderlinturm, mit völlig unhaltbaren Argumenten verschiedene Baudelaire-Phrasen, bis sie uns zum Halse rauskamen.

Auf einmal wurde uns klar, was für ein schlechter Dichter Baudelaire doch war, zum Beispiel die Idee, Albatrosse als »vastes oiseaux de mer« zu bezeichnen. Was sollen denn »vastes oiseaux« sein? Warum nicht einfach »grands«? Ein missglückter Poetisierungs­versuch par excellence. Und so ging es weiter.

Das fiel mir gerade wieder ein, und es war natürlich grober Unsinn, was wir da zum Thema aufgeblasene Lyrik verbrochen haben. Natürlich ersetzt Baudelaire nicht »grands« durch »vastes«, sondern verschiebt das normalerweise auf »mer« bezogene Attribut und bezieht es auf »oiseaux«. Die »mer« ist mächtig »vaste«, ergo sind es auch die Vögel.

Überhaupt ist die französische »mer« im Allgemeinen dergestalt »vaste«, dass der französische Strindberg-Übersetzer es für nötig gehalten hat, den eher schlichten Titel »I Havsbandet« mit »Au bord de la vaste mer« zu übertragen. Es ist schließlich nicht von irgendeiner Pfütze die Rede, sondern von der vâââste mer.

Ob das abgedroschene Bild bei Baudelaire durch die Erkenntnis des selber auch reichlich abgedroschenen Tricks irgend besser wird, keine Ahnung. Wäre vielleicht eine gute Publikumsfrage für Werner Spies gewesen. Stattdessen hatte nämlich ein beschwingter Heimatmensch lieber gefragt: »Herr Spies, wie sehen Sie Dresden heute?«

Usw.

Die Wahrheit über Joachim Lottmann

Dresden, 8. Dezember 2008, 10:30 | von Paco

Die sicherste Weise, einen Stammplatz in der Literaturgeschichte abzukriegen, ist, sich mit allen Mitteln unumkehrbar mit dem Namen des größten lebenden Dichters aller Zeiten zu verknüpfen. Früher schrieb man irgendeinen belanglosen Brief an Goethe – dann wird man noch hunderte Jahre später mindestens in einer Regestausgabe namentlich erwähnt. Und, anderes Beispiel, Karl Ludwig Sand hat Kotzebue ermordet – das reicht immer noch für jedes mittlere literaturgeschichtliche Kompendium. Usw.

Und Joachim Lottmann hat als Erster überhaupt erkannt, dass Rainald Goetz, zumindest in den Jahren 2001 bis 2006, in denen er durch Nichtveröffentlichung hervortrat (ein performativer Akt, der unbedingt zum Œuvre zu rechnen ist), der Goethe unserer Zeit war. Schon vorher hatte Lottmann kaum einen Text geschrieben, ohne Goetz zu erwähnen, und das setzte er systematisch fort (zuletzt hier, hier, hier). Es hat ganz sicher funktioniert: Keine Literaturgeschichte wird je über Goetz sprechen können, ohne »Die Goetz-Rezeption bei Joachim Lottmann« unerwähnt zu lassen.

Doch dann passierte etwas. Unabhängig davon war Lottmann so eine Art guter Schriftsteller geworden, einige sagen sogar: sehr guter. Dabei hatte ihn die »Literarische Welt« ihren Lesern noch im Jahr 2003 als »Jürgen Lottmann« vorgestellt (und sich dafür entschuldigt). Die Namensvariante scheint sich allerdings langsam durchzusetzen (DeutschlandRadio Berlin, literaturkritik.de, Tivoli-Blog und noch mal die »Welt«) und zur Popularität des Autors beizutragen.

Denn spätestens seit 2004, 2005 oder 2006 wird Lottmann – vorerst noch in nicht-öffentlichen Gremien – der Klassikerstatus zugesprochen. Und Goetz musste das mitbekommen haben. Nachdem er Lottmann in »Abfall für alle« (1998/99) nur kurz und relativ negativ erwähnt hatte, kam er nun in seinem Vanity-Fair-Projekt »Klage« (2007/08) mehrfach auf ihn zu sprechen. Jedes Lottmann-Kapitel in jeder durchschnittlichen Literaturgeschichte wird nun umgekehrt auch Goetz mit nennen müssen, als Teilnehmer an der »Frühgeschichte der Lottmann-Rezeption in Europa«.

Doch dabei bleibt es nicht. In diesen Wochen und Monaten, wir alle spüren es, ist einer dieser schwer erklärbaren literaturgeschicht­lichen Synergieeffekte am Werk.

Goethe und Schiller. Grass und Walser. Goetz und Lottmann.

Voyage Voyage (Teil 3):
»Männer über fünfzig mit Digitalkameras«

Konstanz, 6. Dezember 2008, 09:48 | von Marcuccio

Arezu Weitholz: Die Tosca-Fraktion. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. Juli 2007.

Durst im Reisejournalismus, das müssen nicht zwangsläufig pointenrülpsende Geschichten aus der Biertrinkerzone sein:

»Im Prospekt steht ein Zitat aus der Zeitung: ›Intimes Musizieren – ein Festival, das die durstige Seele erfrischt.‹ Das klingt gut«, denkt sich Arezu Weitholz und fliegt spontan von Berlin in die Toskana, zum so genannten Tuscan Sun Festival von Cortona.

Erste Zweifel kommen unterwegs: »Kann eine Seele überhaupt Durst haben?« Egal.

Vor Ort dann noch mehr Irritierendes: Name und künstlerische Leitung des Tuscan Sun Festival stellt die US-Amerikanerin Frances Mayes, die Cortona schon mit dem gleichnamigen Buch und Film ›beglückt‹ hat.

Ein Festival wie ein Amazon-Algorithmus

Leute, die »Under the Tuscan Sun« gesehen/gelesen und darüber hinaus Bücher gekauft haben, die »Cappuccino zu dritt« oder »How I discovered my inner Italian« heißen – diese Leute mögen sicher nicht nur die Toskana, sondern auch Tosca (zumal das so schön toskanisch klingt), Anna Netrebko, Joshua Bell, Lang Lang usw. Warum also nicht Weinproben, Wellness und Klassik-Konzerte zu einem Paket schnüren? Warum Toskana- und Tosca-Fraktion nicht vereinigen?

Doch bevor Arezu Weitholz realisiert, in welcher Zielgruppenfusion sie da gelandet ist, kommt es schon zum Showdown in Cortona:

»Acht Uhr abends vor dem Konzertsaal. Viele Leute wirken, als kämen sie aus Baden-Baden. Oder einer Folge vom ›Traumschiff‹, kurz vorm Abendessen. Frauen mit schimmernden Lappen um die Schultern. Männer über fünfzig mit Digitalkameras. Eine Frau, die aussieht wie Nancy Reagan, kommt vom Klo.«

Kopfkino vom Feinsten!

Der Artikel hat einen Trick, mit dem Arezu Weitholz die ganze Tuscan-Sun-Szenerie vorführt. Sie sagt nämlich kein einziges Mal »ich«, sondern hält während ihres ganzen Artikels die Wellness verheißende Anrede des Festival-Prospekts durch: Die versprach, die »durstige Seele« zu erquicken. Nur: Für die meisten Festivalbesucher scheint Klassik eher das Gegenteil von Wellness zu sein:

»Alle werfen einander ernste Blicke zu. Sie haben sicher Angst vor der Musik, denkt die Seele. Als Joshua Bell zehn Minuten später die Bühne betritt, lächelt er. Dann spielt er, und sofort schließt die Seele ihre Augen und freut sich: Endlich. Doch nein. Jemand knipst. Es macht plötzlich ›ksst‹. Dann noch mal ›krscht‹. Vom Rang ein ›Pling‹. Es sind die Männer mit ihren Kameras.«

Und die Szene ist noch nicht zu Ende:

»In der Mitte vom letzten Stück (Prokofjew) reißt Bell die Bogensaite. Er zieht sie mit einer Hand sekundenschnell weg, die Männer knipsen jetzt erst recht, ›pling‹, Bell spielt unbeirrt weiter, ›Kssrt‹, doch dann unterbricht er, jetzt ist ihm auch noch der Geduldsfaden gerissen, er bittet das Publikum um Stille: ›Bitte!‹ Dafür gibt es Applaus. Er beginnt von vorn, nun sind alle leise. Am Ende bekommen er und der Pianist weiße Blumen. Die Seele hat noch immer Durst.«

So wird die Kitsch-Ansprache aus dem Prospekt zum Running Gag, und Arezu Weitholz gelingen ein paar schöne Notate über den Klassiker: die Dissonanz zwischen Katalog und Wirklichkeit beim Reisen.

Voyage Voyage (Teil 2):
Rimini revisited

Konstanz, 5. Dezember 2008, 08:58 | von Marcuccio

Weiter geht’s mit im Gedächtnis gebliebenen Reisefeuilletons:

Sönke Kröger: Ein Wiedersehen mit der Adria.
In: Welt am Sonntag, 29. Juni 2008.

In einer Serie für die WamS fuhren Reise-Redakteure diesen Sommer mal zurück an die Urlaubsorte ihrer Kindheit. Also dahin, wo sie vor vielleicht 20, 30 Jahren mit ihren Eltern die »großen Ferien« verbracht haben. Eine Idee, die auf jeden Fall zum Erzählen einlädt, denn besichtigt wird neben der touristischen auch die eigene familiäre Vergangenheit.

Sönke Kröger zum Beispiel fuhr in den Siebzigern mit Mama, Papa, Bruder immer »im weinroten Opel Rekord« an den Teutonengrill, und allein das als Bekenntnis hat für manche ja schon doppelten Outing-Charme.

Zum ersten Mal nach 30 Jahren kehrt Kröger nun also mit seiner Mutter an die Originalschauplätze zurück:

Sie nehmen die gleiche Unterkunft (»Heute wissen wir, wie man ›degli Angeli‹ korrekt ausspricht«), sie mieten die gleichen organisierten Liegestühle am Strand, und sie hören den gleichen »cocco bello«-Lockruf des Kokosnussverkäufers durch die Schirmreihen.

Ja, sie begegnen sogar den gleichen Leuten: Die Lamms aus Bayern kommen immer noch nach Rimini! Wie eh und je fahren sie samstags in der Früh los, damit sie abends im Hotel die schöne Lasagne bekommen, »die seit Jahrzehnten samstags auf dem Speiseplan steht«.

»Immer noch« oder »so wie früher« sind überhaupt Schlüsselwörter des Artikels. Dass Krögers Text trotzdem nicht in einen Generation-Golf-Reise-Remix abdriftet, liegt daran, dass neben aller Nostalgie eben auch ganz reale Gegenwart herrscht: Im Hotel haben die (wiewohl schon fast wieder hippen) Badfliesen aus den Siebzigern halt nur überlebt, weil die Hotels hier allesamt unter »Sparzwang« stehen: Neben treuen deutschen Rentnern stellen nämlich vor allem »italienisches Prekariat« und »Polen auf Schnäppchenjagd« das Gros der Gästeschaft.

›Das Gegenteil von Gentrifizierung‹ würde man wohl sagen, wenn die Destination Rimini ein Stadtteil wäre. Wer – wie Sönke Kröger – 30 Jahre nicht mehr da war, stellt Fragen: Waren die Käsenudeln im Hotel damals eigentlich auch schon so matschig? Haben wir wirklich nie was vom Hinterland gesehen?

»›Dein Vater wollte das so‹, sagt meine Mutter«, und spätestens jetzt wird klar, dass auch Krögers nicht mehr die von früher sind. Die Eltern haben sich Ende der Siebziger scheiden lassen, und man weiß nicht, wie sehr auch der Teutonengrill dran schuld war:

»Meine Mutter entwickelte sich fortan zur neugierigen Reisenden (…). Mein Vater ist dagegen dem Strand treu geblieben. Gerade war er in der Türkei, im Hotel Sandy Beach in Komköy, direkt am Meer. ›32 bis 45 Grad, Essen und Zimmer sehr gut, mehr Urlaub geht nicht‹, schrieb er.«

Voyage Voyage (Teil 1):
»The coolest thing to do in Dubai«

Konstanz, 4. Dezember 2008, 09:13 | von Marcuccio

Voyage Voyage! Endlich was über Reisefeuilletons! Ich fange gleich mal mit einem der eindrücklichsten Reisetexte aller Zeiten an:

Andreas Lesti: Dubai. Ein Wintermärchen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. Juli 2006.

Mein Lieblings-Alpin-Journalist heißt ja schon lange Andreas Lesti. Es war diese unerhörte Begebenheit, die seinen Skibericht aus dem Morgenland zur preisgekrönten Novelle (PDF) machte:

Mitten in der Wüstenhitze von Dubai liegt Schnee. In einer Skihalle. Und mitten in dieser Skihalle steht eine Skihütte, in der die von 46 Grad (Außentemperatur) auf minus zwei Grad runtergekühlte Luft (Skihalle) wieder auf 25 Grad (Hüttentemperatur) erwärmt wird.

»The coolest thing to do in Dubai« besticht durch sein durchweg surreales Setting, das Lestis Reportage phänomenal einfängt:

Da ist die Glaswand, durch die man das Schnee-Spektakel aus einer Shopping Mall heraus beobachten kann:

»Touristen in kurzen Hosen und ärmellosen Tops machen Bilder mit ihren Fotohandys. Frauen in Tschador und Burka sehen durch die dünnen Sehschlitze ihrer Kopfbedeckungen. (…) Drinnen liefern sich junge Männer in der Dischdascha, dem weißen Gewand, und schwarzen Daunenmänteln darüber eine Schneeballschlacht.«

Da sind die Wintersport-Fachgeschäfte der Wüsten-Metropole:

»›Im Sommer kann es bei uns zu bis 46 Grad haben‹, sagt er [der Verkäufer] – und verkauft aber Mützen, Handschuhe und Carvingski, weil es in der Halle fast 50 Grad kälter ist.«

Und da ist Lesti selbst, der das alles unaufgeregt und (wie man aus einer Neben-Storyline erfährt) irgendwie auch nicht richtig angemeldet für die »FA Sat« notiert:

»Ich fahre mit dem sehr langsamen Vierersessellift nach oben, an der Mittelstation könnte ich aussteigen, aber ich will auf den Gipfel von Dubai.«

Irgendwann wird es dann auch mal Zeit für einen Einkehrschwung, denn »schon während der vierten langsamen Sesselliftfahrt frieren meine Finger ab. Ich hatte auf Handschuhe verzichtet, weil ich mir draußen einfach nicht vorstellen konnte, daß es hier drinnen wirklich kalt wird.«

Aufwärmen dann im »Avalanche Café«, der eingangs erwähnten Skihütte, wo Nina aus Indonesien »die angeblich beste Heiße Schokolade im Nahen Osten« serviert. Und Lesti fühlt sich »ungefähr so, als würde man sich im Hochsommer mit Wärmedecke in die Gefriertruhe setzen«.

Inklusive der Überschrift einer der eindrücklichsten Reiseberichte aller Zeiten! Man liest jede Zeile schaudernd-fröstelnd und hat sich selten so amüsiert.

»Der Cortez«

London, 30. November 2008, 23:42 | von Dique

San Andreas lässt uns immer noch warten auf die erste weblogtaugliche Werkmonografie der Coen-Brüder. Also weiter mit den Überbrückungstexten, heute geht es um Leo Perutz, gerade gelesen, den ersten Roman, »Die dritte Kugel« (1915). Wenn man Tucholsky und der Blogosphäre glaubt, ist es ein »hübsches« und »nettes« Buch, zudem ist es auch noch, soviel nehme ich vorweg, ein wunderbares Buch.

Es passt fast schon wieder in die Alternate-History-Richtung, wenn auch nicht ganz. Es geht um ein paar Deutsche, welche schon vor Cortez im Aztekenland herumlungern. Sie werden vom Wildgrafen zu Grumbach geführt und balgen sich da mit den Konquistadoren. Sehr bizarr, wie diese Deutschen dort auf einer Bergkuppe verschanzt von Cortez belagert werden. Allein die Namen der deutschen Bauern, denn es sind Bauern, die mit dem Grumbach von Deutschland in die Neue Welt gezogen sind, haben einen wunderbaren Klang: Mathias Hundt, Peter Dillkraut, Stephan Eberlein, Melchior Jäcklein und noch einige mehr.

Historisch gesehen ist es der letzte Rastplatz der Eroberer vor dem Einmarsch in Tenochtitlán, der von Wasser umgebenen Hauptstadt der Azteken. Und just hier hat Perutz den Grumbach hingestellt, welcher den Spaniern das Leben schwer macht und das nicht mal wegen irgendwelchem Gold. Das Ganze hat auch eine magische Ebene, nicht nur weil der Grumbach in seiner Hütte den Teufel heraufbeschwört. Borges war übrigens auch Perutz-Fan oder hat ihn zumindest gelesen.

Perutz wählt eine historisierende Sprache, schreibt zum Beispiel ständig von Arkebusen statt Gewehren, und die Personen werden immer mit Artikel geführt, also »der Cortez« oder »der d’Olio« und natürlich »der Grumbach«. Das liest sich dann so:

»Thonges hol deine Klotzgeigen! Lienhard, sollst blasen auf deiner Sackpfeif‘, ich will dazu die Trommel schlagen. Jetzt springt und werft die Beine in die Höh‘, dass euch das Stroh aus den Stiefeln fliegt!« Und der Grumbach fand einen dicken Prügel in einem Winkel der Stuben, mit dem begann er wild auf einen von den tönernen Weinkrügen loszuschlagen, als hätt‘ er eine Trommel zwischen den Beinen.

Das ist alles sehr, sehr gut und, wie gesagt, wunderbar.

Erst kürzlich las ich die Rowohlt-Mono über den Cortés. Der hatte ja eine indianische Übersetzerin, welche auch seine Geliebte war, La Malinche, die eigentlich Malintzin geheißen hat. Bei Perutz kommt sie leider nicht vor, aber es gibt eine ähnliche Figur, eine junge Indianerin, Dalila, welche von Grumbach mitgeführt wird, allerdings nicht zum Dolmetschen, und wie man erfährt, kann der Grumbach die Sprache einigermaßen, denn er befindet sich schon seit zwei Jahren bei den Azteken.

Ohne die Hilfe der Malinche hätte Cortez sicher niemals die Stämme gegeneinander ausspielen können. Angeblich haben einige Indianer den Cortés sogar ›Captain Malintzin‹ genannt. La Malinche gebar dem Cortés übrigens einen Sohn, heiratete aber irgendwann einen anderen Spanier aus seiner Mannschaft und ward nie mehr gesehen.

Es bleibt spannend.

Regionalzeitung (Teil 11)

Leipzig, 27. November 2008, 11:07 | von Austin

 
  51.   die rüstigen Senioren

  52.   brachten guten Hunger mit

  53.   pilgerten tausende Schaulustige

  54.   der 35-jährige Erfolgsautor

  55.   verlebten schöne Tage