Archiv des Themenkreises ›Buchbuch‹


100-Seiten-Bücher – Teil 151
Assia Djebar: »Die Zweifelnden« (1957)

München, 7. März 2019, 10:15 | von Josik

Nadia, die Ich-Erzählerin in Assia Djebars superstem Roman »La soif« (in dieser Ausgabe hier sehr frei als »Die Zweifelnden«, in einer anderen deutschen Ausgabe korrekt als »Durst« übersetzt), besucht gerne die Kinos und Kasinos in Algier, hört Jazz, hält sich in lauten Cafés auf, mag Überraschungspartys und liebt es, an Autorennen teilzunehmen, bei denen sie ihre Haare im offenen Cabrio flattern lässt, sie ist jung und flippig. Umso mehr sticht ein einzelner Satz im sechsten Kapitel hervor, auf den im ganzen Roman weder davor noch danach wirklich Bezug genommen wird, und nun bitte ich alle, sich kurz hinzusetzen und sich gut festzuhalten, denn dieser Satz lautet also wie folgt: »Ich übersetzte beschwingt einen Aufsatz Senecas über die Mäßigung« (S. 53).

Nun kann man von Seneca ja halten, was man will, aber es steht fest, dass er durchaus zum Austicken neigte. So berichtet er in einem seiner Briefe (Epistulae morales, 56), wie er mal für kurze Zeit über einer Badeanstalt, also über einem römischen Fitnessstudio, gewohnt hat, und er ist sich tatsächlich nicht zu blöd, sich über den Lärm, den die dort herumturnenden Kraftprotze, Masseure, Saunierenden, Wasserplantscher, Kuchenbäcker, Würstelverkäufer, Ballspieler und Achselhaarausrupfer veranstalten, lang und breit zu mokieren. Nur, wo bitteschön sollen Kraftprotze sich denn sonst aufhalten, wenn nicht in einem Fitnessstudio? Seneca und Mäßigung, ach komm, hör mir auf.

Länge des Buches: ca. 190.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Assia Djebar: Die Zweifelnden. Roman. Aus dem Französischen von Rudolf Kimmig. Deutsche Erstausgabe. München: Heyne 1993. S. 5–124 (= 122 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 150
Leonora Carrington: »Unten« (1973)

München, 5. März 2019, 20:42 | von Josik

Der Titel eines Berichts der supersten Künstlerin Leonora Carrington, »Unten«, hebt sich wohltuend ab von so prätentiösen Titeln wie Günter Wallraffs »Ganz unten« oder Christian Wulffs »Ganz oben – ganz unten«. Leonora Carrington beschreibt eingangs, wie sie sich immer wieder übergeben musste: »Ich hatte das Erbrechen bewußt herbeigeführt, indem ich das Wasser von Orangenblüten trank« (S. 10). Orangenblütenwasser­produktionsfirmen empfehlen eigentlich: »Orangenblütenwasser zur Gesichts- und Körperpflege auf die Haut sprühen«, und nicht: »Orangenblütenwasser trinken, um Erbrechen herbeizuführen«.

Sowieso würde ich von jenen Methoden, mit denen man Schriftsteller*innen zufolge sich oder anderen schaden kann, grundsätzlich eher abraten. So würde ich z. B. auch davor warnen, jene Suizidmethode zu praktizieren, die Elfriede Jelinek im Interview mit André Müller geschildert hat: »[M]ich umzubringen … ich könnte es nur mit Tabletten machen … Man muß die Tabletten, damit man sie nicht auskotzt, mit Apfelmus mischen … und vorher noch zusätzlich Valium schlucken.«

Leonora Carrington berichtet des Weiteren, wie ihr zur Lösung der politischen Probleme in den 1940er-Jahren eine Verständigung zwischen Spanien und England als die beste Lösung erschienen sei: »Ich begab mich deshalb in die englische Botschaft und sprach mit dem Konsul. Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß der Weltkrieg geführt werde, weil eine Gruppe von Leuten die Menschen hypnotisiere: Hitler und Co. … und daß es genüge, sich dieser hypnotischen Kräfte bewußt zu werden, um sie zu besiegen, um den Krieg zu beenden und die Welt zu befreien« (S. 26). Und daraufhin kam Leonora Carrington also für kurze Zeit in eine Nervenheilanstalt, nur weil sie, wie jeder normale Mensch, aufgrund der politischen Lage vorübergehend verrückt geworden war.

Länge des Buches: ca. 105.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Leonora Carrington: Unten. Aus dem Französischen von Edmund Jacoby. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. S. 5–87 (= 83 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 149
Carmen Boullosa: »Die Wundertäterin« (1993)

München, 22. Februar 2019, 00:44 | von Josik

Wir waren mitten in der Nacht aufgestanden, denn der ICE 886 fuhr bereits um 6:16 Uhr am Hauptbahnhof los. Als Reiselektüre hatte ich Carmen Boullosas Roman »Die Wundertäterin« eingepackt. Schon kurz nach Nürnberg musste ich anfangen zu lachen. Wie der von der Gewerkschaft angesetzte Privatdetektiv die Wundertäterin beschattet und für diese Aufgabe aber völlig untauglich ist! Alles wird immer abgefahrener, irgendwann kommt sogar der Präsidentschaftskandidat Morales ins Spiel. Das alles wird so rasant erzählt, und ich konnte mich irgendwann überhaupt nicht mehr zurückhalten und musste einfach laut loslachen. Doch je mehr ich lachen musste, desto mehr merkte ich, wie die Mitreisenden mir böse Blicke zuwarfen. Es war mir ja auch irgendwie unangenehm, aber was sollte ich machen?

Im Kopf überschlug ich kurz, dass ich aufhören könnte weiterzulesen. Aber sogleich wurde mir klar, dass diese Idee unsinnig war, denn dann hätte ich die ganze Zeit an das denken müssen, was ich gerade gelesen hatte, und dann hätte ich also wieder loslachen müssen. So gesehen war es viel effizienter, wenn ich weiterlas und über Stellen lachte, die ich noch nicht kannte. Einen kurzen Moment dachte ich auch daran, dass meine Mitreisenden ja nicht wissen konnten, worüber genau ich so lachen musste, und ich überlegte, ob ich ihnen aus Höflichkeit das Buch einfach von vorne vorlesen sollte. Das wäre aber in diesen frühen Morgenstunden bei den mich umgebenden Schlafmützen sicherlich nicht gut angekommen. Ich las also weiter, und lachte und lachte.

Länge des Buches: ca. 220.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Carmen Boullosa: Die Wundertäterin. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. S. 3–133 (= 131 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 148
Louise Welsh: »Tamburlaine muss sterben« (2004)

Eutin, 20. Februar 2019, 15:53 | von Josik

Christopher Marlowe, der Autor des 1587/1588 verfassten Theaterstücks »Tamburlaine the Great«, ist derjenige, den Louise Welsh ganz kurz vor seinem Tod den hier vorliegenden Bericht an die Nachwelt verfassen lässt. Dort ist u. a. von seinem Schauspielerfreund Thomas Blaize die Rede, einem der Hauptdarsteller in einer Inszenierung des »Tamburlaine«: »Am Premierenabend hatte er in genau der Sekunde bemerkt, dass sich in seiner Pistole scharfe Munition befand, als er abdrückte. Er riss den Arm gerade noch herum und konnte seine Schauspielerkollegen verschonen, wirbelte aber […] mit dem Lauf zum Publikum hin« (S. 58) und erschoss versehentlich eine schwangere Zuschauerin.

Etwas nicht ganz so Tragisches, aber doch Vergleichbares ist 2008 z. B. im Burgtheater tatsächlich passiert. Gegeben wurde Schillers »Maria Stuart«, und die Requisite hatte vergessen, das Messer stumpf zu machen – so dass der Schauspieler Daniel Hoevels in der Rolle des Mortimer, nachdem er sich während der Vorstellung das scharfe Messer über die Kehle gezogen hatte, blutend von der Bühne wankte. Hoevels hat glücklicherweise überlebt. Die Frage aber bleibt, warum Theater als ein Ort der Kultur, des Geschmacks, der Zivilisation, der Lebensart gelten. Über den Finanzskandal, zufälliger­weise ebenfalls am Burgtheater, haben wir ja noch gar nicht gesprochen, aber wer realismusaffin durch die Welt geht, muss doch sehen, dass die Theaterbranche ein Ort der fahrlässigen Körperverletzung, der Beweis­mittelfälschung, der Geldwäsche, der Verderbtheit ist.

Wacht auf!

Länge des Buches: ca. 180.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Louise Welsh: Tamburlaine muss sterben. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. München: Antje Kunstmann 2005. S. 3–137 (= 135 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 147
Carson McCullers: »Die Ballade vom traurigen Café« (1943)

Eutin, 19. Februar 2019, 14:03 | von Josik

»The Ballad of the SAD café« sollte man lesen, um das Wort »SAD« mal wieder mit jemandem zu assoziieren, der nicht Donald Trump ist, in diesem Fall also mit der supersten Carson McCullers. Okay, in der deutschen Übersetzung fällt das wahrscheinlich nicht so auf, I mean, wohl die wenigsten denken beim Titel »Die Ballade vom TRAURIGEN Café« an @realDonaldTrump, oder? Die deutsche Übersetzung, die ich in der Hand hatte, stammt aus dem Jahr 1961 und ist eine wunderbar saturierte Übersetzung. So taucht im Original dreimal das Wort »chitterlins« auf, und das wird hier mit »Gekröse« wiedergegeben, oder genauer gesagt: Zweimal wird es mit »Gekröse« (S. 8, S. 49) übersetzt, einmal mit »Eingelegtem« (S. 73).

Die Worte »a Nehi« hingegen werden mit »ein Nehi« (S. 36) wieder­gegeben – das ist nachvollziehbar, denn ein Nehi ist eine Art Cola, nur dass es eben keine Cola ist, sondern ein Nehi. Aus »the hunchback, who had been eating sweet snuff all the day« wird »der Bucklige, der den ganzen Tag an seinem süßen Priem gelutscht hatte« (S. 68), und das klingt auch nowadays doch noch relativ knorke, doesn’t it? Auch »sweet snuff« kommt im Original insgesamt dreimal vor, wird hier überraschenderweise dann allerdings auch jedes Mal mit »süßer Priem« übersetzt (S. 32, S. 68, S. 104). Es gibt in diesem Buch natürlich noch viel, viel mehr zu essen (jaja, okay, Priem isst man natürlich nicht, es sei denn, man ist bescheuert oder aber man möchte ihn eben gerne essen), z. B. »a pecan«, also »eine Hickorynuss« (S. 104).

Usw.!

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Carson McCullers: Die Ballade vom traurigen Café. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack. Zürich: Diogenes 1971. S. 3–116 (= 114 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 146
Marie NDiaye: »Selbstporträt in Grün« (2005)

Eutin, 18. Februar 2019, 11:25 | von Josik

Der Vater der Ich-Erzählerin ist inzwischen mit deren »ex-besten Freundin« (S. 38) verheiratet; Cristina ist eine »Freundin« (S. 19) der Ich-Erzählerin; Marie-Gabrielle und Alison hingegen sind »nur gute Bekannte« (S. 20). Okay, bis hierhin haben wir also Bekannte, Freund*innen und ex-beste Freund*innen. Man könnte die ganze Umgebung sicherlich noch weiter ausdifferenzieren: »entfernte Bekannte«, »zweitbeste Freund*innen« usw. usw. Ein Problem aber bleibt: Wie nennt man Leute, mit denen man irgendwann mal befreundet/bekannt war, zu denen man aber schon seit langer Zeit überhaupt keinen Kontakt mehr hat?

Manchmal ergibt es sich ja, dass man über genau solche Leute irgend was erzählt, und wenn man grade im Flow der Erzählung ist, möchte man diese Leute doch nur ungern als »Leute, mit denen ich mal befreundet/bekannt war, zu denen aber schon vor langer Zeit aus Gründen, die ich jetzt nicht ausführen kann, weil das sonst zu weit führen würde, der Kontakt abgerissen ist« titulieren? Das würde den Redeflow doch erheblich stören.

Hier ein Vorschlag: Ich selber nenne solche Leute »ehemalige Bekannte«. Für diese widersinnige Bezeichnung werde ich zwar oft ausgelacht, aber von allen kompakten Bezeichnungen für das betreffende Problem scheint mir diese doch die beste zu sein. In Marie NDiayes »Selbstporträt in Grün« geht es eigentlich um was völlig anderes, aber die oben zitierten Stellen boten sich eben an für diese kleine Meditation.

Zum »Selbstporträt in Grün« möchte ich noch sagen, dass ich schon lange nicht mehr ein dermaßen superstes Buch durchgeschmökert habe. Lest es!

Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Marie NDiaye: Selbstporträt in Grün. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Zürich/Hamburg: Arche 2011. S. 3–119 (= 117 Textseiten).

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Abstecher nach Vladimir und Updates aus Moskau

Moskau, 16. Februar 2019, 10:12 | von Baumanski

Sonntagsausflug mit Vladimir Vladimirovič nach Vladimir. Kaum angekommen, suchen wir den Busbahnhof, um von dort in einem etwas klapprigen Siebzigerjahremodell zum Südrand der Stadt zu fahren. Nach knapp zehn Kilometern auf der Überlandstrasse Ausstieg beim Friedhof Bajguši. Hier liegt Vasilij Vital’evič Šul’gin begraben, der russische Nationalist aus Kiev, der 1917 in einem Eisenbahnwagen bei Pskov die Abdankung des letzten Zaren entgegengenommen hat.

Šul’gin war gut zehn Jahre in der Politik und hat danach 55 Jahre lang Memoiren geschrieben, bis er 1976 eben in dieser Provinzstadt starb, wo ihm die sowjetische Regierung nach der Entlassung aus dem Gefängnis eine Wohnung zugeteilt hatte. Von seinen Memoiren sind über 3000 Seiten publiziert – grad letztes Jahr hat ein russischer Verlag noch mal zwei Bände rausgehauen – und mindestens noch mal so viel liegt unpubliziert als Manuskript in den Archiven.

Der Eingang zum Friedhof ist nirgends zu sehen, aber zum Glück treffen wir einen fröhlichen Datschagänger, der uns durch den Tiefschnee vorausstapft und zu einer Hintertür bringt. Ausserdem hält er uns einen wolfsähnlichen Hund vom Leibe, der uns übergelaunt ankläfft. Rein also in den Friedhof, zwischen Birken und Tannen bis zur Hauptallee, ein Stück abwärts, beim Denkmal der berühmten Lokaljournalistin Inessa Sinjavina nach links und dann den Hügel hoch, wo wir das eingeschneite Marmorkreuz der Šul’gins finden. Kurz die Inschrift vom Schnee befreit, ein paar Erinnerungsfotos und schon sind wir auf dem Rückweg.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle ist uns etwas kühl und zum Aufwärmen gebe ich ein paar Šul’gin-Anekdoten zum Besten. Etwa wie er aus dem Parlamentssaal verwiesen wurde, weil er am Rednerpult die sozialistischen Abgeordneten fragte, ob einer von ihnen eine Bombe in der Tasche trage. Oder wie er eine Affäre mit der Frau seines Bruders hatte und dann zwei Jahre später eine Beziehung mit der Frau seines anderen Bruders anfing. Oder wie er sich 1914 freiwillig zur Armee meldete, aber nach zwei Stunden an der Front verwundet wurde, sodass der Arzt ihn sofort ins Hinterland zurückschickte. Oder wie er 1926 inkognito in die Sowjetunion reiste, danach ein Buch darüber veröffentlichte und ein paar Monate später herausfand, dass die ganze Reise von der OGPU organisiert war.

Der Bus zurück nach Vladimir kommt dann bald; die Kontrolleurin ist untypisch gut gelaunt und trällert für uns ein russisches Poplied mit, das im Radio läuft. Es ist schon zwei Uhr und nach ein paar altrussischen Kirchen und Pelmeni sitzen wir am Abend wieder im Schnellzug nach Moskau.

Zwei Tage später, die Temperatur ist unterdessen auf fast minus zwanzig gefallen, treffe ich mich mit Paco im Gorki-Park zum Eislaufen. Das heisst, eigentlich kann ich das gar nicht, aber Paco besteht darauf, also rutsche ich ihm hinterher und es macht ja auch Spass. Nach ein paar Runden gehen wir, ohne die Schlittschuhe auszuziehen, in eines der Restaurants, die zu diesem Zweck vorsorglich mit Gummimatten ausgelegt wurden. Paco ist mal wieder – zweimal Suppe und Boeuf Stroganoff, bitte! – bestens informiert über russische Formalisten, aktuelle Feuilletonskandale und die Geschehnisse auf der Plattform des Kurznachrichtendienstes Twitter. Bei der Verabschiedung in der Metrostation unten lädt er mich noch zur Finissage einer Ausstellung des mir zuvor unbekannten, aber durchaus nachahmenswerten Malers Georgij Nisskij ein; dann springen wir beide in unseren jeweiligen Zug.

Am Mittwochmorgen setze ich die fizkul’tura im Bad Čajka fort, wo man auch im tiefsten Moskauer Winter unter freiem Himmel schwimmen kann. Die Sonne scheint und das Wasser dampft und die Bademeister tragen Skianzüge und überhaupt ist alles sehr gut, obwohl die kürzlich erfolgte Renovierung den 50s-Groove fast völlig beseitigt hat. In der Banja hält ein Typ, Bauchansatz und Halbglatze, einen Vortrag über Herrscherinnen in der koreanischen und russischen Geschichte und über die Schrecken des Matriarchats in manchen Kulturen. Ein anderer, klein gewachsen, ausgedünnter Pferdeschwanz, hält im Namen des Universalismus dagegen, die Probleme mit der Schwiegermutter seien doch in Moskau genau die gleichen wie in New York oder Tel Aviv. Das Ende dieser spannenden Debatte bekomme ich leider nicht mit, weil es mir bei hundertzehn Grad irgendwann doch zu warm wird.

Beim Ausgang fällt mir ein grosses Wandgemälde auf, das Ivan Turgenjev mit seinem Hund darstellt. Das erinnert einen natürlich sofort an Josiks altbekannte These, derzufolge schriftstellerisches Talent mit Hundeliebe korreliert (Koni, Kraus, Fontane и прочая и прочая), und ich mache kurz den Test für Turgenjev: Hundeliebe? Check. Superster Schriftsteller? Check.

Von Turgenjev komme ich wiederum schnell zurück auf Vasilij Šul’gin, der sich 1952 im stalinistischen Gefängnis derart langweilte, dass er zweihundert Seiten (in allerdings ziemlich grosser Handschrift) über seinen Jugendhund Mars und über andere Köter vollkritzelte. Nachzulesen ist das alles im Russländischen Staatlichen Literatur- und Kunstarchiv (RGALI) unter dem Titel »Vot gde zaryta sobaka« – »Da also liegt der Hund begraben«.

Nun hatte Vasilij Šul’gin allerdings auch eine Katze, die er (wohl nach sich selbst) Vas’ka nannte und ein Lieblingspferd, das ebenfalls Vas’ka hiess und auf dem er 1906 durch die Wälder Wolhyniens ritt, um Priester und Bauern davon zu überzeugen, bei den nächsten Wahlen doch bitte für die Monarchisten zu stimmen. Was dann auch erstaunlich gut klappte und die Basis für ebenjene politische Karriere legte, die er danach jahrzehntelang memoiristisch ausweidete.

Aber zurück zu Mars und zu Josiks These, nun auf Šul’gin angewendet. Hundeliebe? Auf jeden Fall. Superster Schriftsteller? Hm. Die Memoiren lassen sich schon ganz ordentlich weglesen, aber nach einigen tausend Seiten weiss man dann genug über seine Haustiere und Cousinen.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 145
Marguerite Yourcenar: »Mishima oder die Vision der Leere« (1980)

Eutin, 15. Februar 2019, 14:05 | von Josik

Der japanische Schriftsteller Yukio Mishima (1925–1970) war, als ihr alle noch klein wart, weltberühmt, aber inzwischen scheint er langsam in Vergessenheit zu geraten, obwohl Paul Schrader sogar mal ein von Francis Ford Coppola und George Lucas produziertes Biopic über ihn gedreht hat. Die Frage, ob Mishima ein seriöser Typ war, kann man mit Marguerite Yourcenars allgemeingültigem Satz beantworten: »Das Adjektiv ›seriös‹ wirft stets ein Problem auf« (S. 60). Einerseits hinterließ Mishima eine Frau, zwei Kinder, eine unbekannte Zahl von Lovern und 36 Bände »Gesammelte Werke«, so dass er sogar mehrmals knapp am Literaturnobelpreis vorbeigeschrammt ist. Andererseits spielte er in diversen Trashfilmen mit und driftete politisch so weit nach rechts ab, dass er die »Schildgesellschaft« gründete, seine eigene, mit Fantasieuniformen ausgestattete paramilitärische Privatmiliz, die er auf englisch »Shield Society« nannte, abgekürzt: »SS«.

Mehr oder weniger das Hauptwerk von Mishima war dann aber doch das, was im Anschluss an seinen misslungenen und wohl auch misslingen sollenden Putschversuch geschah. Einen wertvollen Säbel aus dem 17. Jahrhundert im Gepäck, machte er sich am 25. November 1970 zusammen mit vier seiner Privatmilizionäre auf den Weg ins Verteidigungs­ministerium in Tokio und verschaffte sich Zugang zum kommandierenden General, unter dem Vorwand, dass er seinen supersten Säbel vom General bewundern lassen müsse. Komischerweise war das Grund genug, die fünf Burschen vorzulassen, und tatsächlich lief anfangs alles glatt. Mishima zeigte dem General seinen hinreißenden Säbel und der General bewunderte dieses fantastische Instrument. Doch gerade als er noch so am Bewundern war, wurde der General von den Privatmilizionären überwältigt und gefesselt.

Mishima verlangte, dass alle anwesenden Soldaten zusammengerufen werden, denn andernfalls werde der General hingerichtet. Also versammelten sich im Kasernenhof 800 Soldaten, vor denen Mishima dann eine Rede hielt, genauer gesagt, er langweilte sie mit einem kulturkritischen Lamento darüber, dass der Kaiser in Japan nicht mehr den ihm zukommenden Platz habe bla bla bla. Der Kaiser hatte nämlich auf seinen Rang als Sonnengottheit verzichtet, aber na ja, wie bitteschön würde es denn beim Volk ankommen, wenn jemand, der ratzingermäßig als Sonnengottheit bereits zurückgetreten ist, erklären würde, dass er aufgrund des Drucks, den ein Trashfilmer mit seinem formidablen Säbel auf ihn ausgeübt hat, nun plötzlich doch wieder eine Sonnengottheit ist.

Jedenfalls, die Resonanz auf diese Rede war niederschmetternd: Die Soldaten lachten Mishima aus. Daraufhin vollzog er zusammen mit seinem 25-jährigen Lieblingsmilizionär Morita das schon lange Zeit vorbereitete seppuku-Ritual, d. h., mit seinem sensationellen Säbel schlitzte sich Mishima regelkonform den Bauch auf, woraufhin ihm von Furu-Koga, einem anderen der herumstehenden Privatmilizionäre, die Rübe abgeschlagen wurde. Planmäßig hätte ihm eigentlich Morita die Rübe absäbeln sollen, der war dafür aber zu dösbaddelig und stichelte mit dem Säbel nur ein bisschen in Mishimas Schulter- und Nackengegend herum, so dass entgegen dem seppuku-Regularium Mishitas Kopf also immer noch genauso gut saß wie seine Frisur, selbst ohne Drei Wetter Taft. Nach dem alten Samurai-Code sprang in diesem Moment Furu-Koga geistesgegenwärtig ein und säbelte erst Mishima und dann Morita die Rübe ab. Sich auf diese Weise zu töten bzw. töten zu lassen, ist in Japan eigentlich seit 1868 verboten, und ihr alle könnt, da eure Rübe Euch noch nicht abgehauen wurde, euch nun gerne den Kopf über die Frage zerbrechen, welche gerechte Strafe der Staat verhängen sollte über jemanden, der sich trotz des Verbots auf diese Weise um die Ecke gebracht hat.

Zwei Jahre vor seinem seppuku hatte Mishimas Kumpel Yasunari Kawabata den Literaturnobelpreis erhalten, sodass ziemlich klar war, dass Mishima ihn nicht mehr erhalten würde, und manche mutmaßten, eben dies sei der Grund für seinen Suizid gewesen. Das ist aber ganz offensichtlicher Quatsch mit ganz offensichtlicher Soße, zumal ja auch ein Literaturnobelpreis nicht vor Suizid schützt, oder wie Marguerite Yourcenar schreibt: Zwei Jahre nach Mishimas rituellem Suizid »beging Kawabata Selbstmord, ohne heroisches Ritual (er begnügte sich damit, den Gashahn aufzudrehen)« (S. 112).

Länge des Buches: ca. 190.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Marguerite Yourcenar: Mishima oder die Vision der Leere. Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen. München: dtv 2005. S. 3–113 (= 111 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 144
Clarice Lispector: »Die Sternstunde« (1977)

Eutin, 14. Februar 2019, 14:01 | von Josik

Der Plot um die Figur Macabéa (und am Rande auch um Olímpico und Glória) wäre schnell umrissen, aber worauf es ankommt, ist, wie Clarice Lispector hier den Swag aufdreht. So heißt es beispielsweise, dass diese Story »unter der Schirmherrschaft des beliebtesten Erfrischungsgetränks der Welt niedergeschrieben wird, das mir aber deshalb noch lange nichts bezahlt – dieses in allen Ländern vertriebene Erfrischungsgetränk«, das »nach dem Geruch von Nagellack, nach Aristolino-Seife und zerkautem Kunststoff schmeckt« (S. 28). Ja gut, und bald darauf wird Coca-Cola also tatsächlich auch noch namentlich genannt: »Ich bin Stenotypistin und Jungfrau, und ich mag Coca-Cola« (S. 46).

Schon nach ca. 30 Seiten jedenfalls ist dieses Buch, dieses Durch- und Neben­einander von Storyklötzen, Weisheitssplittern und Selbstreflexionsbrocken, einfach extrem superst zu lesen. Wobei offen eingestanden wird: »Ich sehe, daß es mir nicht gelingt, diese Geschichte zu vertiefen. Beschreiben ermüdet mich« (S. 96). Eine ähnliche Bemerkung findet sich auch in Elfriede Jelineks Tausendseiterin »Neid«: »Ich kann nicht erzählen, ich kann einfach nicht sagen, was passiert, ich kann es nicht so sagen, daß Sie verstehen, daß es hintereinander passiert, ich reite mich beim Aufsteigen auf meine Handlung nur immer tiefer hinein, ich kann nicht, ich kann nicht, ich lebe ja nicht in Hamburg-Eppendorf oder in Berlin-Mitte, wo man wirklich etwas zu erzählen hätte«.

Clarice Lispectors »Sternstunde« spielt demzufolge auch weder in Eppendorf noch in Mitte, sondern im Nordosten Brasiliens.

Länge des Buches: ca. 140.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Clarice Lispector: Die Sternstunde. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Curt Meyer-Clason. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. S. 5–115 (= 111 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 143
Jo Kyung Ran: »Zeit zum Toastbacken« (1996)

Eutin, 13. Februar 2019, 13:35 | von Josik

Die Autorin Jo Kyung Ran (sprich: Tscho Kjong-Nan; Jo ist der Nachname) erzählte in ihrer Dankesrede für den Literaturpreis Munhak Dongnae Sang, wie sie zu der Zeit, als sie an diesem Roman arbeitete, von Seoul aus für zwei Monate nach Jeju flog. Die Insel Jeju im Süden Südkoreas wird von der Tourismusindustrie als »das koreanische Hawaii« vermarktet. Ich kann mir gut vorstellen, dass Jo Kyung Ran auf Jeju ziemlich abgelenkt war, denn dort sind, wie ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, unaufzählbar viele Sehenswürdigkeiten zu bestaunen.

Um wahllos irgendeine herauszugreifen: Auf Jeju gibt es z. B. das beste Museum der Welt, nämlich das Teddybärmuseum. In diesem Museum werden die wichtigsten Ereignisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts von Teddybären nachgestellt. Neben der Mondlandung, dem Fall der Berliner Mauer und vielen weiteren historischen Events wird auch der D-Day von Teddybären rekonstruiert, und es ist sooo niedlich mitanzusehen, wie die Teddybären sich da gegenseitig abschlachten und zerfetzen. Zu Ende geschrieben hat Jo Kyung Ran ihren supersten, hochoriginellen, tiefgründigen Roman dann logischerweise nicht auf Jeju, sondern in Seoul.

Besonders gut finde ich die Szene, in der ein Taxifahrer über seine Wehwehchen klagt und daraufhin der Fahrgast zu ihm sagt: »Sie müssen einfach vegetarisch leben« (S. 36f.). Wie man bei den imposanten Fleischbergen, die in Südkorea wirklich immer und wirklich überall serviert werden, einfach vegetarisch leben soll, ist ein fast metaphysisches Rätsel. Also, Leute, wenn ihr in Korea wohnt und Euch ausschließlich von Restaurantbesuchen ernährt und hundertprozentige Vegetarier*innen seid, dann schreibt dazu hier unten in die Kommentare, checkt die Infobox und gebt mir unbedingt einen Daumen nach oben. Peace!

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Jo Kyung Ran: Zeit zum Toastbacken. Roman. Übersetzt und mit einem Nachwort von Jung Young-Sun und Herbert Jaumann. Bielefeld: Pendragon Verlag 2005. S. 9–132 (= 124 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)