15 Stunden M.M.M.:
Medienkonsum zwischen Montréal und Moskau

Moskau, 19. August 2017, 15:05 | von Paco

Nun bin ich wieder zu Hause, von Tür zu Tür in 15 Stunden, da war genug Zeit, um zwischen einigen Powernaps verschiedenste Medien zu konsumieren.

Im 747er-Bus vom Hotel Bonaventure zum Aéroport Montréal-Trudeau las ich schnell noch den »Spiegel« Nr. 32 zu Ende, wofür in den beiden Wochen davor keine Zeit gewesen war. Check-in und Sicherheitskontrolle reichten dann genau, um die Sommersnippets von »Fest & Flauschig« zu hören, sind ja nicht so viele und jedes nur ein paar Minuten lang.

Kleiner Jumpcut ins Innere des Lufthansafliegers, wo vor dem Start ein Steward lieblos versucht, die FAZ und SZ vom Freitag zu verteilen, aber in ausgeklapptem Zustand riesenhafte Printprodukte will ja niemand mehr wirklich haben, niemand außer mir. Die FAZ war dann in 30 Minuten ausgelesen, Harald Schmidt war darin von Timo Frasch zum 60. gelobhudelt worden, mit einem Seitenhieb gegen Böhmermann und dessen angeblich nur »drittklassigen« Stand-up-Qualitäten, hehe.

Doch nun richtete sich meine Aufmerksamkeit auf den vor mir schwebenden Monitor mit den Medienangeboten der Lufthansa, und als erstes sah ich dort die ziemlich gute Krausser-Verfilmung »Einsamkeit und Sex und Mitleid«, Regie: Lars Montag, ein tiefer sexualkundlicher Blick in unsere breite Gegenwart, thematisch gespickt mit den typischen Krausser-Obsessionen. Nach einem Jahrzehnt extremer Krausser-Müdigkeit kam das eigentlich wieder mal ganz gut. Die Kamera hat mich ein wenig an »Finsterworld« erinnert mit ihrem Interesse an urdeutschen Dingen, einfach mal draufhalten auf das blau-plüschige Interieur eines ICE!

Als nächstes holte ich die letzten beiden »Twin Peaks«-Folgen nach, 3×13 und 3×14, und empfand dabei wieder das große, große Glück, dass es diese neue »Twin Peaks«-Staffel gibt: »Coffee for the great Dougie Jones!«

Dann war der »Spiegel« Nr. 33/2017 dran, denn bei der Zwischenlandung in Frankfurt würde schon die neue Ausgabe erhältlich sein, also sollte die alte noch verarztet sein, bevor der Atlantik überquert war. Und … done! Doch wie nun weiter, vielleicht noch ein Film? Ich entschied mich für »Guardians of the Galaxy Vol. 2« und habe es nicht bereut.

In Frankfurt dann der angekündigte »Spiegel«-Kauf, Nr. 34/2017, für €4,90! Ich las als erstes das Interview mit Frauke Petry und Kurbjuweits Hommage an Lobo Antunes und dessen Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann, schön sind da auch die Abschnitte zum periphrastischen Infinitiv. Nun jedoch widmete ich mich endlich voller Lesedrang dem Stück über den Flughafenmoloch BER: »Made in Germany«. Und na ja, »BER«, das ultimative Airportdesaster – will man nach einem halben Jahrzehnt voller lahmer BER-Witze (pars pro toto »Der Postillon«: »Neue Zeitform Futur III eingeführt, um Gespräche über Flughafen BER zu ermöglichen«) wirklich noch was darüber lesen? Aber ja und unbedingt, und zwar wenn es im »Spiegel« steht »und mit 20 Seiten so lang ist wie kaum eine SPIEGEL-Geschichte zuvor«.

Bitte lest alle diesen Artikel, er ist supergut, auch wenn ich eine widersprüchliche Stelle gefunden habe, die mich sicher noch lange beschäftigen wird. Und zwar steht in der Hausmitteilung auf Seite 9, dass die »Spiegel«-Leute »sieben Monate lang für ihre Recherchen benötigten«, und dann habe aber laut Seite 66 »[e]in Team von SPIEGEL-Redakteuren […] acht Monate lang recherchiert«. Was stimmt nun? Sieben oder acht?

Hoch über Weißrussland war der neuste »Spiegel« schließlich ausgelesen, aber ich hatte noch die Season-Premiere-Folge der fünften und letzten Staffel von »Episodes« im Gepäck, und die schaute ich auch noch an, sehr gut, wie immer, Tamsin Greig, Stephen Mangan und Matt »How you doin’?« LeBlanc. In einem offenen Browserfenster wartete auch noch das Interview, das Michele d’Angelo vom »Freitag« mit Ellen Kositza geführt hat, und ich war jedenfalls dermaßen im Leserausch, dass ich auch noch alle anderen geöffneten Browserfenster runterlas, meist Artikel von »heise online« und »Ars Technica«, die da seit Wochen herumlagen.

Aber noch mal zum »Spiegel«. Alle sagen ja immer: Der Spiegel, Der Spiegel. Wer lese den denn noch. Der habe doch an Bedeutung usw. verloren. Aber ich sage euch: Ich lese den noch, und habe seit schätzungsweise 2004 keine einzige Ausgabe verpasst. Ich wäre auch bereit, mich dazu einmal interviewen zu lassen, um über meine Gefühle beim wöchentlichen Lesen dieses herrlichen alten Wurschtblattes zu sprechen, denn es ist schon immer wieder eine hübsche Achterbahnfahrt, Motion Sickness inklusive, aber man muss doch den »Spiegel« lesen, denke ich immer, und ich bin damit auch nicht ganz allein, wenn ihr mal an Diques unfassbare »Spiegel«-Eloge denkt, die seinen gerade erschienenen Feuilletonband »Abenteuer im Kaffeehaus« beschließt: Diese Eloge ist, natürlich unter gänzlich anderen Voraussetzungen, der würdige Nachfolger von Enzensbergers »Die Sprache des Spiegel«, und Zeit wurde es, denn das Enzensberger-Ding ist ja schon 1957 erschienen, aber wie auch immer, ich bin jetzt wieder zu Hause in Moskau und sah grad vor ein paar Minuten noch, wie unten in der Metro Kurskaja, beim Übergang zur blauen Linie, wie dort ein Mitarbeiter in Monteurskluft ein wuchtiges Reliefbild mit dem Stationsnamen putzte, doch nun, Jetlag und so, werde ich eine Runde schlafen, »sieben, acht / gute Nacht«.
 

Eine Reaktion zu “15 Stunden M.M.M.:
Medienkonsum zwischen Montréal und Moskau”

  1. Monsieur Charlemagne

    Ganz genau, man muss den SPIEGEL immer weiter lesen, schon allein, weil der SOUND so großartig einzigartig SPIEGELig ist, immer noch und immer wieder, denn wer kann schon dagegen halten? Und das Format erst, immer noch so praktisch und handlebar (fucking kursiv yeah!), da hat die ZEIT einfach weiterhin keine Chance. Großer Vorteil weiterhin: Kurbujweit statt Bernd „ich bin besorgt“ Ulrich, das Kollektiv (bis zu sieben Autoren für zwei Seiten Artikel über einen Lokaltermin irgendwo in Braunschweig, wie sonst?) statt Giovanni „ich hab das Hemd auf bei 3nach9 und bin besorgt“ di Lorenzo usw. usf.
    Liest man da immer alles? Neee. Schon gar nicht die Titel, die klingen, wie outtakes aus der unsäglichen SZ vom Samstag, die sind aber meist auch nicht länger als die sonderbaren Artikel aus dem Bereich „Kultur“, die dann doch wieder von Volker Weidermann vollgeschwärmt werden (für alle SPIEGEL-Leser das große setback, warum darf der da alles vollschreiben, ohne je das vorliegende Buch zu besprechen?) etc. pp.

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