Was vom Tage 13 übrig blieb:
Café Kofje, Wandsbek

Hamburg, 13. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:00 Uhr.

Heute ins …

Café Kofje
Walddörferstr. 12
(Wandsbek)

Kofje ist nicht etwa die Transliteration des russischen кофе, sondern das friesische Wort für Kaffee. Das Café ist umgeben von feinsten roten hamburgischen Backsteinbauten und möchte laut Homepage »unseren Stadtteil attraktiver & lebensfroher machen« und das haben sie auf jeden Fall genailed.

Espresso: €2,00.

Ok, das dritte Café in Folge mit demselben Espresso-Preis.

Seit über zehn Jahren kein Streiflicht mehr gelesen, heute fiel es mir aber ins Auge. Aufgegriffen wird Selenskijs »Без вас«-Rede bzw. -Gedicht. Das Streiflicht findet eine vossianische Antonomasie: »Selenskij hat gute Aussichten, mit diesem Gedicht der ukrainische [Amanda] Gorman zu werden«. In der FAZ wird die Gedichtanalyse von Christian Geyer durchgeführt.

In der SZ zwei Nachrufe auf Javier Marías, in der FAZ nur einer, aber von Paul Ingendaay – schaffe leider nicht, die alle zu lesen. Außerdem in der FAZ eine Rezension von Stephan Speicher zu Friedrich Sieburgs Tagebüchern 1944/45 (erschienen bei Wallstein). Gute Güte, der damalige Sieburg nennt Himmler »eine Art Scharnhorst unserer Zeit«, und noch ein paar weitere Quatschzitate werden aufgelistet. Dabei eigentlich eine interessante Konstellation fürs Schreiben: Ehekrise stellt das Geschehen der letzten Kriegsmonate in den Hintergrund.

Und dann gibt es Neues aus unserem Treppenhaus zu berichten. Vor vier Tagen standen ja ein paar Bücher im Fensterbrett, nun nimmt das Ganze etwas Überhand. Die Bücher stehen fast alle noch da, aber es sind Dinge dazugekommen: Eine Packung mit Anti-Stress-Masken, ein Sparschäler, Neapolitaner-Waffeln der ja!-Hausmarke von Rewe, ein Glas mit Früchten, eine angefangene (!) Flasche Licor Beirão, eine Flasche Glühwein aus Bio-Rotwein, eine Flasche »Grüner Vollbier Hell« und noch ein weiterer Glüchwein im Tetra Pak. Außerdem steht noch eine Lampe da; man könnte meinen, dass sich jemand hier auf dem Fensterbrett häuslich einzurichten beginnt.
 

Was vom Tage 12 übrig blieb:
Café Elisa, Eilbek

Hamburg, 12. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:30 Uhr.

Am frühen Nachmittag ins …

Café Elisa
Conventstraße 21 und 23
(Eilbek)

Espresso: €2,00.

Man spricht Spanisch und ich frage, nach wem das Café benannt ist – »¿Quién es Elisa?« –, und die Antwort ist mit das Schönste, was ich seit langem gehört habe.

Am Nebentisch vier Studierende. Eine von ihnen, offenbar Linguistin, spricht über ihre Abschlussarbeit: Kosenamen von Krankheiten bzw. Krankheitserregern. Dass einige Leute zum Beispiel Coroni sagen statt Corona (oder Krebsi). Interessant, und ich hoffe, dass es diese Arbeit später irgendwo als PDF gibt.

Abends kurz die SZ durchgeblättert. In einer Randspalte hat Hilmar Klute die Novelle »Gewittergäste« von Dirk von Petersdorff rezensiert. Klingt inhaltlich wie ein Nachklapp zur Oschmann-Debatte Anfang Februar und enthält unter anderem diesen Satz: »Der Rauchgeruch von der nahe gelegenen Holzkohlenfabrik lag wie milder Schwachsinn über der Szene.«

Oh, noch ein kleines Erlebnis. Als ich vom Café Elisa aus über die ruhigen Nebenstraßen wieder auf eine Hauptverkehrsstraße gelange, rempelt dicht neben mir ein eiliger junger Mann, der im Gehen auf seinem Handy tippt, an ein Verkehrsschild. Das Telefon fällt ihm aus der Hand und scheppert gefährlich nah an einen Gully heran. Das erinnert mich an eine Szene in Pleschinskis Heyse-Roman »Am Götterbaum«. Ein Vorfall in der Brienner Straße, München. Zwei junge Anzugträger, die beide auf dem Handy tippen, rennen ineinander, eines der Handys fällt zu Boden und springt durch einen Gulligrill in die Tiefe. Entsetzte Schreie: »Alles … alles! […] die Kontake … die PINs! … der Chef … Melanie … die Bali-Buchung …« (Seite 45)
 

Was vom Tage 9 übrig blieb:
Café Schwesterherz, Ohlsdorf

Hamburg, 9. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 7:00 Uhr.

Bei meinem täglichen Zickzack durch Hamburg heute mal vorbei am legendär riesigen Ohlsdorfer Friedhof (der sogar einen, ja nun, eigenen Podcast hat). Durch den Haupteingang sieht man den orangefarbenen Schriftzug herüberschimmern: »EINGÄNGE SIND ÜBERGÄNGE«.

Ganz in der Nähe das …

Café Schwesterherz
Alsterdorfer Straße 572
(Ohlsdorf)

Espresso: €2,00.

In der SZ Christine Dössel über Dominique Horwitz (den Obergefreiten Reiser in Vilsmaiers »Stalingrad«). Gleich im zweiten Absatz werden die Segelohren – »sein Markenzeichen« – erwähnt. Neben seiner Rolle in Mauricio Kagels Einpersonenhörspiel »Der Tribun«, das gerade für das Kunstfest Weimar inszeniert wurde, geht es auch um Privates: »Der Liebe wegen lebt er in Weimar«, steht schon im Teasertext, und im Haupttext pullt er noch einen Kraftklub: »Für kein Geld der Welt würde ich in Berlin leben wollen«. Überhaupt wird der Text gegen Ende hin immer persönlicher, illustriertenhaft, liest sich schnell weg.

Als ich vom Zickzack zurück nach Hause komme, gibt es eine Neuerung im Treppenaufgang. Und zwar hat jemand ein paar Bücher ins Fensterbrett gestellt – immer wieder schön, wenn so das Ausmisten zum Verschenken verklärt wird. Ganz vorn prangt das Cover eines Ildikó-von-Kürthy-Buchs, genauer schau ich erst mal nicht hin. Mal sehen, wie sich das entwickelt. In Josiks altem Haus in Schöneberg hatte ich ja vor zehn Jahren mal beschrieben, wie am Ende nur Robert Musil übrig blieb, den niemand geschenkt haben wollte (»Der Mann ohne Abnehmer«).
 

Was vom Tage 8 übrig blieb:
pantarin Café & Bistro, Barmbek

Hamburg, 8. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 5:00 Uhr. (argh)

🎶 Edward Sharpe & The Magnetic Zeros: 40 Day Dream

Am späten Nachmittag hinein ins …

pantarin Café & Bistro
Hartzloh 30
(Barmbek)

Espresso: €2,40.

Zufällig war auch gerade ein Filmteam der IG Fuhle im Laden, um Material für irgendeinen Imagefilme zu schießen. Die Kamera filmte so schräg zwischen den Händen des Baristas und Inhabers hindurch für das ultimative Symbolbild zum Thema Kaffeezubereitung.

In der ZEIT von heute (Ausgabe 37/2022) Nina Pauer über @DailyMann.

Dann gleich das Interview mit der geschassten RBB-Chefin Patricia Schlesinger gelesen: »Ich habe gesagt, ich möchte gern Holzboden haben. Dass das italienisches Eichenparkett sein würde und wie teuer es würde, wusste ich nicht.«

In other news: THE QUEEN.

🎶 Albrecht Schrader: Die Zukunft liegt verborgen

Und eigentlich ist damit mein Zeitkonto für heute schon überzogen, aber spät nachts lese ich noch schnell in der FAZ Katharina Teutschs Rezension von Jan Faktors Roman »Trottel«, für den sich der Autor »zwölf Jahre Zeit gelassen hat«.
 

Was vom Tage 7 übrig blieb:
Café Gnosa, St. Georg

Hamburg, 7. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 7:00 Uhr.

Neben den täglich durchschnittlich etwa eindreiviertel Feuilletonartikeln lese ich zusammengenommen sicher mehrere Stunden die Feeds der OSINT-Community um den Russo-Ukrainian War. Davon aber hier nichts, obwohl seit Monaten natürlich nichts interessanter und wichtiger ist, und bei so einem Teaser (von einem twitternden ukrainischen Offizier) bleibt man auch den ganzen Tag dran:

»Today is a good day already. We will see in the news.« (@kms_d4k)

Na ja, nun jedenfalls ab ins …

Café Gnosa
Lange Reihe 93
(St. Georg)

Espresso: €1,90.

Die Zeitkapsel, die sich heute in der Karenzzeit auftut, reicht genau für Jürgen Kaubes Rezension der dreibändigen Biografie zum bislang einzigen deutschen Schachweltmeister Emanuel Lasker in der FAZ (»Man glaubt nach der Lektüre, Bridge und die Grundzüge der höheren Algebra zu verstehen oder wenigstens zu ahnen, worum es sich handelt.«). Mehr war leider nicht drin, die SZ nur schnell durchgeblättert.
 

Was vom Tage 6 übrig blieb:
Albatros Cafe, Barmbek

Hamburg, 6. September 2022, 23:00 | von Paco

Ich habe heute einem Briefträger eine Windel geschenkt, doch dazu später.

Aufwach: 6:00 Uhr.

Zunächst erst mal ins …

Albatros Cafe
Wagnerstr. 5
(Barmbek)

Infrastrukturell super gelegen zwischen U-Bahn Hamburger Straße und der Hamburger Meile, viel Laufkundschaft, aber auch abgelegen genug, um in Ruhe ein Buch zu lesen. So wie am Nebentisch der sympathische Dude mit einem T-Shirt der »Antifaschistischen Seenotrettung« (die weiße Ausführung). Und zwar liest er Hildegard Knefs Autobiografie »Der geschenkte Gaul«.

Espresso: €2,20.

Was vom Tage übrig blieb, siehe Kazuo Ishiguro: meist nicht viel.

Aber dann doch die Sache mit der Windel und dem Briefträger. Direkt vor der Haustür kommt nämlich von schräg her ein Mann in Gelb hastig auf mich zu. Er hält mir seine Hand entgegen, triefend vor Blut, und fragt mich, ob ich vielleicht ein Taschentuch habe. Finde keins auf die Schnelle, aber was ich dabei habe, sind Windeln, und so verarzten wir die Briefträgerhand erst mal notdürftig mit einer Windel der Budni-Hausmarke »Hallo Welt«.
 

Was vom Tage 5 übrig blieb:
Eclair au Café, Winterhude

Hamburg, 5. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 7:00 Uhr.

In der aktuellen »Hinz & Kunzt« (Ausgabe 355, September 2022) ein Artikel über den Sachsenwald, geschrieben von Frank Keil. Kronzeuge mit viel Waldwissen ist der Diplompädagoge und freiberufliche Kulturwissenschaftler Nikolaj Müller-Wusterwitz, super. Einer der Fun Facts: Bismarcks Ururenkel Gregor Fürst von Bismarck hat sich »jüngst zum Waldtherapeuten ausbilden« lassen, ok.

Neue Woche, die dunkelblaue Artipoppe-Trage geschultert, meist auch den Teutonia dabei, Modell BeYou 12, beides mit Dank an eBay Kleinanzeigen.

Zickzack durch den Stadtpark Richtung Winterhude. An einem Kiosk am Lattenstieg kauf ich den SPIEGEL (Ausgabe 36/2022). In einem kleinen Seitenweg ist eine Filiale der Boulangerie …

Eclair au Café
Lattenstieg 4
(Winterhude)

Espresso: €2,50.

Im SPIEGEL erst das Interview mit Lilly Blaudszun. Dann das Carsten-Schneider-Porträt von Markus Feldenkirchen. Schneider, geb. 1976 in Erfurt, war ja 1998 der jüngste Bundestagsabgeordnete ever, mittlerweile unter anderem Ostbeauftragter der Bundesregierung, »einer von 16 Millionen Ostdeutschen«, wie Feldenkirchen, einer von ich weiß nicht wie vielen Westdeutschen schreibt. Die Reise führt Schneider und Reporter auch ins Erfurter Neubaugebiet Herrenberg, wo Schneider aufgewachsen ist und wo er nun »die Unterschiede der einzelnen Plattenbauweisen« erklärt. Siehe dazu auch Peter G. Richters Dissertation, betreut von Martin Warnke.

Passend zum Wald-Special der »Hinz & Kunzt« schaukeln auf dem Waldspielplatz im Stadtpark. Beim Weiterlaufen fallen mir zum ersten Mal die Warnschilder auf:

»Vorsicht! Allergiegefahr durch EICHENPROZESSIONSSPINNER! Bitte Raupen und Nester nicht berühren.«

Daneben die Hundeauslaufzone, dort eine Weile zuschauen.
 

Was vom Tage 2 übrig blieb:
Café Bohne, Osdorf

Hamburg, 2. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:15 Uhr.

🎶 Maria Antonietta: Abitudini

Sachen abholen bei der Reinigung um die Ecke, Zeitungen, danach erster Tagesschlaf.

Weiter in der ZEIT, auf Seite 32 den Artikel von Sophie Neukam über Biber. Wahnsinnig gern lese ich Artikel über den Biber und wie er in seinem sogenannten Wohnkessel wirtschaftet. Der »nasse Held« ist »das einzige Tier, das im Wasser lebt und das Geräusch von fließendem, platschendem Wasser nicht erträgt. Es löst immer wieder in ihm den Reiz aus, ein Leck zu finden und zu stopfen. Seine Mission ist es, eine volle Badewanne zu haben und keine, bei der der Stöpsel fehlt. Das Plätschern ist für ihn das Signal, dass sein Plan, Wasser zu stauen, schiefgegangen ist.«

🦫

In der SZ von heute Felix Stephan über den Streit von Elke Heidenreich mit der Redaktion des »Buchreports«, die für die Bestsellerliste ihr neuestes Buch von der Belletristik in die Kategorie Sachbuch umsortiert hatte. Zwei der Gründe: Heidenreich »habe ihre Texte um private Fotos ergänzt, was den nicht-literarischen Charakter des Buches unterstreiche« (haha), und sie habe »im Falle eines Textes über Bologna historische Fakten erwähnt, ›wie sie auch in einem Reiseführer stehen könnten‹, etwa das Gründungsdatum der Universität oder den Umstand, dass dort die Tortellini erfunden wurden« (hahahahaha).

Auf derselben Seite Lothar Müller über Friedrich Christian Laukhards Bericht der Kampagne in Frankreich, über das »Schicksal einer Invasionsarmee«: »Das Heer, dem er angehört, verbraucht beim Vormarsch wie beim Rückzug einen Großteil seiner Energie für die Selbsterhaltung.«

Baustellengraben vor der Haustür, »im Zuge der Stromhausanschluss-Erneuerung« (Aushang). Ich werfe den Kinderwagen sachte auf die andere Seite des Grabens und es kann losgehen:

Café Bohne
Rugenbarg 8
(Osdorf)

Espresso: €2,20.

Ich stelle die Tasse auf die Rückseite einer Hamburger Morgenpost und lese um die Tasse herum, wie Sky du Mont seine neue Freundin kennenlernte: »Beim Online-Interview hat es einfach Zoom gemacht«.
 

Was vom Tage 1 übrig blieb:
MalinaStories, Barmbek

Hamburg, 1. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:30 Uhr.

Los geht’s.

🎶 Maria Antonietta: Abitudini

Wer Malina heißt, muss natürlich hier gewesen sein:

MalinaStories
Hellbrookstraße 61
(Barmbek)

Dort viele Karenzkolleg*innen mit noch kleineren Babys bei relativ üppigen Donnerstagsfrühstücks.

Espresso: €2,30.

Alles hyggelig vintage, mit der Tasse kommt ein kleiner güldener Löffel.

Ich hab 30 Minuten und lese erst mal das Exklusivinterview mit Franca Lehfeldt in der heute erschienenen ZEIT (Ausgabe 36/2022), nicht aus Interesse, sondern weil ich die ZEIT mal wieder von vorn nach hinten durchblättern möchte, und das Interview steht auf Seite 3.

Auf einer Schaukel am Schwalbenplatz schläfrig geschwungen.

Auf dem Wochenmarkt Hartzloh lachen knackfrische Delbarestivale in alle Richtungen.

Mittagsschlafphase eingeläutet mit der Arie »Schafe können sicher weiden« aus Bachs Jagdkantate, uraufgeführt 1713 im Jägerhof zu Weißenfels.

Schnell weiter lesen. In der heutigen SZ ein Interview mit Theresia zu ihrem neuen Roman »Auf See«, darin die interessante Frage: »Was ist denn eigentlich der Weltuntergang? […] Wo findet er statt und vor allem für wen?«

17:30 Essen kochen, im Hintergrund »Kultur heute«, ein paar Fetzen zur Donatello-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie schaffen es durch das Küchengeklimper. Donatello, Erschaffer des Gattamelata! »The uncrowned king of the equestrian statue«, wie man in BBC-Englisch hinzufügen könnte.

🎶 Albrecht Schrader: Die Zukunft liegt verborgen

Dann White Noise und Schlafen, das ist erst mal alles.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 232
Christa Kożik: »Moritz in der Litfaßsäule« (1980)

Lindau-Insel, 29. August 2022, 18:50 | von Josik

In Christa Kożiks Kinderbuch »Moritz in der Litfaßsäule« heißt es über Moritz‘ drei Schwestern Suse, Salome und Sina: »Für irgendwas schwärmten sie immer, mal für Frank Schöbel, mal für einen Hosenanzug, mal für ein Häkelmuster« (S. 19). Nun wissen viele Kinder heutzutage vielleicht gar nicht mehr, dass Frank Schöbel keine erfundene Figur ist, sondern dass es sich bei Frank Schöbel, einem bedeutenden Schlagersänger, dem die meistverkaufte Platte der DDR zu verdanken ist, um eine Person der Zeitgeschichte handelt. Davon kann man sich u. a. in Frank Schöbels Autobiografie »Frank und frei« überzeugen, die 1998 im Verlag Das Neue Berlin erschienen ist (die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Buchausgabe).

Man wird in diese Autobiografie sofort hineingezogen, weil Frank Schöbel uns alle duzt. Und da er so gut wie nichts weggeschmissen hat, sondern seine sämtlichen persönlichen Dokumente, Fotos und Terminkalender sowie sämtliche Kritiken seiner Konzerte fein säuberlich aufgehoben und abgeheftet hat, kann er seine Lebensgeschichte praktisch lückenlos dokumentieren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Schöbel in Leipzig in der Tschaikowskistraße 23. Zur selben Zeit wohnte in diesem Haus auch der berühmte Literaturkritiker und Germanistikprofessor Hans Mayer, dem Schöbel einige Streiche spielte, »die von der Stinkbombenherstellung aus altem Film-Zelluloid bis zu dem Trick reichten, gefüllte Tonnen mit Küchenabfällen schräg an die Wohnungstür des Opfers zu lehnen und dann den Klingelknopf zu drücken« (S. 11).

Dass Schöbel Schlagerlieder nicht nur gesungen, sondern auch selber getextet hat, dürfte nicht zuletzt auf seine Lektüre des Autors Johannes R. Becher zurückzuführen sein, den er gleich eingangs zitiert. Der persönliche Zugang zu einem anderen Autor wird ihm später allerdings verwehrt: Er geht zu DDR-Offiziellen, Abteilung Kultur, um ihnen ein paar Anliegen vorzutragen, »[u]nd schließlich fragte ich noch so ganz naiv, schwejkhaft, ob sie mir ein Gespräch mit Stefan Heym ausmachen könnten. Der Mann interessierte mich kolossal. ›Würde ich Ihnen von abraten‹, meinte man leicht süffisant« (S. 399).

Klavier spielen lernt Schöbel bei Frau Jutta Grimm, zweite Pianistin an der Thomas-Kirche in Leipzig: »Dabei war Bach für sie alles, und Mozart kam ihr schon wie Jazz vor« (S. 40). Von Jazz zu Rock ist es ein kurzer Weg, daher gehört zu den ersten pfiffigen Liedern, die Schöbel schreibt, »Wipp-Wapp-Rock«, aber »[w]eil Anglizismen wie das Wort Rock nicht erlaubt waren, meinte ich den Rock mit dem Petticoat drunter, und schon ging’s« (S. 58). Seinen größten Hit überhaupt landet Schöbel später mit dem Lied »Wie ein Stern«. Bei der Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 singt er vor Hunderten Millionen Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern. Aber noch stolzer als auf diese Episode ist Schöbel auf seine mit großer Sorgfalt vorbereitete, hervorragende Platte »Komm, wir malen eine Sonne«, die erste Kinderpop-LP der DDR mit dem zeitlos gute Laune machenden Titelsong.

Frank Schöbels Karriere ist wahrhaft atemberaubend. Schon zu DDR-Zeiten trat er nicht nur in der DDR, in der Sowjetunion und in Kuba auf, sondern auch in vergleichbaren Ländern wie z. B. Irak, Libanon, Japan und Norwegen. Seine Autobiografie liest sich wie ein Who’s Who der Showbusinessbranche, er kennt oder kannte sie wirklich alle persönlich: Nina Hagen, Eva-Maria Hagen, Udo Jürgens, Abi Ofarim, Paul Dessau, Harald Juhnke, Karat, die Puhdys, Arndt Bause, Dieter Thomas Heck, Achim Menzel, Roger Willemsen, Helga Hahnemann, Silly, Thomas Gottschalk, Dagmar Frederic, Otto Waalkes, Caterina Valente, Peter Ensikat, Egon Krenz, Wolfgang Lippert, Armin Mueller-Stahl, Gerhard Schöne, Leonid Breschnew, Drafi Deutscher jr., unzählige andere sowie Frank Elstner (S. 321: »Wir hatten sofort einen Draht, unter anderem auch deswegen, weil ich in Köpenick wohnte und da seine Tante auf’m Friedhof begraben liegt«). Auf ein Personenverzeichnis am Ende des 700 Seiten langen Buches hat der Verlag sicherlich deswegen verzichtet, weil das Buch sonst wohl nochmal 700 Seiten länger geworden wäre.

Als Frank Schöbel und seine erste Frau, die Schlagersängerin Chris Doerk, sich scheiden lassen wollen, überlegen sie, wie sie das ihren Fans beibringen sollen, ohne dass für diese eine Welt zusammenbricht (was dann natürlich trotzdem passiert): »Ich dachte immerzu, wie würden die Leute reagieren, wenn die Scheidung publik wird. In Briefen standen Sätze wie: ›Die Beatles sind tot, die Stones sind krank, es leben die Fans von Chris und Frank‹« (S. 227). Und so sehr es den Fans selbstverständlich gegönnt sei, dass sie leben, so merkwürdig mutet dieser Zweizeiler aber doch an, da nicht recht ersichtlich ist, warum die Fans eben sich selbst und nicht Chris und Frank dafür feiern, dass sie leben.

Zum Glück hat Schöbel immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Wenn er gefragt wird, wer an der Scheidung nun schuld sei, kommt die Antwort: »Na, schuld war nur der Bossanova. Das sagte ich immer, wenn es um politische Dinge ging, das mußte auch privat gehen« (S. 241). Kleine Gags, Epigramme und Aperçus verstreut Schöbel ohnehin großflächig über das ganze Buch: »Du kennst den Spruch ›Paris sehen und sterben‹ – ersteres machte ich ausgiebig« (S. 353). Die Gabe, solche Jokes zu machen, scheint in seiner Verwandtschaft verbreitet zu sein, jedenfalls wünschte sich Schöbels Onkel Theo, der von Beruf Schornsteinfeger war, für seinen Grabstein die Aufschrift: »Er kehrt nie wieder« (S. 37). Und den lieben Gott nennt Frank Schöbel nicht »Gott«, sondern »Chef«.

Zugegebenermaßen hatte Schöbel nicht nur Fans, sondern auch Neider. Er berichtet von einem Nachbarn, der eines Abends mit einer Axt vor Schöbels Wohnungstür aufgewartet habe: »Er fuchtelte mit der Axt rum […], aber er hat sie nicht geworfen, rief nur: ›Schöbel […], [w]eißte, was du bist? Du bist ein Westberliner.‹ Das war für ihn wahrscheinlich das allerschlimmste Schimpfwort« (S. 152). Schöbel sieht ganz nüchtern die Vorzüge der DDR ebenso wie ihre Nachteile. Als er einmal eine Trommel braucht, fährt er nach Weißenfels, meldet sich bei einem Werkdirektor und sagt ihm: »›Ich brauch ’ne große Trommel, die so richtig beschissen klingt.‹ Sichtlich erleichtert sprudelte es aus ihm heraus: ›Frank, ham wa. Kein Problem‹« (S. 384). Den Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen macht Schöbel ganz konkret deutlich, wenn er beschreibt, dass es für seine Einkünfte aus den Plattenverkäufen ein oberes Limit gab: »nämlich 500 Mark, minus 20 Prozent Steuern, also 400 Mark auf die Hand. Egal ob die Platte millionenmal verkauft wurde oder nur einmal. Das war natürlich nicht vorstellbar für Menschen, die aus einer Welt kamen, wo von früh bis spät Monopoly gespielt wird« (S. 191).

Schöbel ist absolut nicht unpolitisch. Die Stagnation in der DDR der späten 1970er- und 1980er-Jahre, die sinnlosen unendlichen Komiteesitzungen missfallen ihm zunehmend. Er macht sich lustig über den offiziellen Jargon, wie er etwa in einem Referat zum Ausdruck kam, das nach dem VIII. Parteitag im Komitee für Unterhaltungskunst gehalten wurde: »Um der Differenziertheit der Ansprüche und der Vielfalt der Funktionen, die Tanzmusik im Rahmen der Freizeittätigkeiten der Werktätigen erfüllt, gerecht werden zu können, benötigen wir das Stimmungs- oder Tanzlied wie den Schlager oder den Beattitel, der Alltägliches erlebbar macht, der Partei ergreift in den Klassenauseinandersetzungen unserer Zeit« (S. 297). Schöbel kommentiert: »Ich stellte mir einen Sänger vor, der singt: ›Bis zum Horizont ist alles blond‹, oder ein anderer etwa ›Alles im Eimer, Christina Marie‹, wie die Partei ergreifen in den Massenauseinandersetzungen unserer Zeit« (S. 297). Als eine Zeitung ihre Leserinnen und Leser auffordert, die Frage zu beantworten, was sie vom Schlagertext und von der Schlagermusik fordern und inwiefern ihr Lebensgefühl in einer qualitätsvollen Schlagermusik, die der sozialistischen Lebensweise würdig ist, zum Ausdruck komme, ereifert sich Schöbel: »Plötzlich war Demokratie angesagt. Jeder durfte zum Schlager seine Meinung sagen; kein Mensch ging zum Bäcker und zettelte eine Diskussion an, kleine Brötchen, große Brötchen, mehr Mehl, weniger Mehl, sozialistische Brötchen oder … beim Schlager aber konnte endlich jeder mitreden« (S. 174).

1989 schließlich, vor dem Mauerfall, singt Schöbel ein Lied mit dem anspielungsreichen Titel: »Wir brauchen keine Lügen mehr«. Einmal wird es im Radio direkt nach einer Ansprache von Margot Honecker gespielt: »Das gab Ärger« (S. 538). Großen Ärger gibt es später dann auch mit der »Bild«-Zeitung. Einmal soll Schöbel für sie an die 60 Fragen beantworten. »Eine hieß: Wen würden Sie als Bundeskanzler wählen? Ich ironisch: ›Meinen Nachbarn Siegfried Lehmann.‹ Ich habe gar keinen Nachbarn, der so heißt« (S. 638).

Hiermit möchte ich meine kleine Rezension von Christa Kożiks Buch »Moritz in der Litfaßsäule« gerne beenden.

Länge des Buches: ca. 165.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Christa Kożik: Moritz in der Litfaßsäule. Illustrationen von Günter
Wongel. Berlin: Der Kinderbuchverlag 1980. S. 3–116 (= 114 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)