100-Seiten-Bücher – Teil 169
Salwa Bakr: »Atijas Schrein« (1986)

München, 3. Oktober 2019, 09:45 | von Josik

Ich lese ja völlig wahllos so ziemlich alles, aber Science-Fiction rauscht irgendwie fast komplett an mir vorbei. Von Science-Fiction habe ich einfach überhaupt keine Ahnung, und ich bin darauf weiß Gott nicht stolz, sondern bedaure es sehr, denn ich wäre ja liebend gerne ein totaler Science-Fiction-Crack, aber ich habe eben diese angeborene Science-Fiction-Uninformiert­heit. Umso mehr freue ich mich aber immer wie Bolle, wenn ich ganz zufällig auf etwas Science-Fiction-artiges stoße, so wie hier: »So verstiegen sich einige gar zu der Aussage, die alten Ägypter seien von einem anderen Planeten gekommen, dessen Kultur derjenigen der Erde um Jahrtausende voraus sei. Sie seien im Niltal niedergegangen und hätten dort die grossartige Pharaonenkultur gegründet« (S. 16).

Usw.

Länge des Buches: ca. 105.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Salwa Bakr: Atijas Schrein. Roman aus Ägypten. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Basel: Lenos 1992. S. 5–121 (= 117 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100-Seiten-Bücher – Teil 168
Rosario Castellanos: »Die Tugend der Frauen von Comitán« (1964)

München, 2. Oktober 2019, 09:35 | von Josik

Allein in den letzten paar Monaten war ich bereits auf vier Beerdigungen, sodass man wohl mit Fug und Recht behaupten kann: Die nachhaltigste Investition, die ich in jüngster Zeit getätigt habe, war, dass ich mir einen schwarzen Anzug gekauft habe. Und der sitzt dermaßen tadellos, dass ich seitdem auf jeder Beerdigung der bestangezogene Gast bin. Darüber so unselfconsciously zu sprechen, hätte ich noch vor Kurzem für unschicklich gehalten, aber mein Leben hat mittlerweile eine entscheidende Wendung genommen – es teilt sich nun in die Zeit vor und in die Zeit nach der Lektüre von Rosario Castellanos’ Erzählung »Die Tugend der Frauen von Comitán«. Dort sagt nämlich der Arzt Don Carlos Román zum Priester Don Evaristo: »Wenn Sie sich vielleicht noch an ein Ereignis erinnern, das schon lange zurückliegt […], ich meine den Tod meiner Frau, werden Sie auch nicht vergessen haben, daß ich dabei gar keine schlechte Figur gemacht habe« (S. 34).

Länge des Buches: ca. 160.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Rosario Castellanos: Die Tugend der Frauen von Comitán. Erzählung. Aus dem Spanischen von Petra Strien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. S. 3–114 (= 112 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 167
Aminata Sow Fall: »Die wundersame Verwandlung des Bakar Diop« (1976)

München, 1. Oktober 2019, 09:30 | von Josik

Bakar Diop ist der absolut netteste Mensch, den man sich vorstellen kann, extremst sympathisch, super Typ, wir alle lieben ihn sehr. Aber dann passiert etwas: »Bakar wurde wegen Urkundenfälschung, Betrug und der Unterschlagung einer Summe von zwölf Millionen Francs verurteilt« (S. 49), und weil er von seiner Umgebung dafür ganz schön geächtet wird, rächt er sich sozusagen mit einer unspoilerbaren Schlusspointe. Nun fragt Ihr Heuchler Euch natürlich, huch, wie konnte denn das passieren, dass ausgerechnet unser lieber Bakar betrogen, Urkunden gefälscht und zwölf Millionen Francs unterschlagen hat. Die plausible Erklärung dafür besteht aus vier Worten, die in einem langen, verschachtelten Satz auf Seite 56 versteckt sind, und weil man diese Stelle so leicht überliest, greife ich sie hier extra heraus: Bakar hat – ich zitiere die besagten vier Worte nun in voller Länge – »einer plötzlichen Schwäche nachgegeben«. Wirklich, Leute, wer von Euch noch nie zwölf Millionen Francs unterschlagen hätte, wenn die Gelegenheit günstig gewesen wäre, werfe den ersten Stein!

Länge des Buches: ca. 205.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Aminata Sow Fall: Die wundersame Verwandlung des Bakar Diop. Roman. Aus dem Französischen von Cornelia Panzacchi. Göttingen: Lamuv Verlag 1998. S. 3–137 (= 135 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 166
Maryse Condé: »Hugo der Schreckliche« (1991)

München, 30. September 2019, 10:18 | von Josik

Ok, Ihr alle kennt Iwan den Schrecklichen, aber habt Ihr denn auch schon von Hugo dem Schrecklichen gehört? Passt auf, Hugo der Schreckliche ist noch viel, viel schrecklicher, als Iwan der vergleichsweise eigentlich gar nicht soo Schreckliche es jemals war, denn Iwan war ja nur ein Mensch, Hugo hingegen ist eine Naturgewalt, er ist nämlich ein Wirbelsturm oder wie man das nennt, ein Orkan, Taifun, Monsun, Zyklon, sowas in der Art halt, ich kenn mich da mit den genauen Unterschieden jetzt nicht so aus. Hugo der Schreckliche also wird laut Wettervorhersage die Insel Guadeloupe verwüsten, und Maryse Condé, die Trägerin des alternativen Literaturnobelpreises 2018, schildert in diesem supersten Jugendbuch, wie hypercool die Félix-Emmanuels auf den dräuenden Sturm reagieren: »Man flüsterte sich zu, dass die Félix-Emmanuels, die im Haus Nr. 14 wohnten und mit niemandem sprachen, beschlossen hatten, eine Party zu Ehren Hugos zu geben« (S. 69). So now let me tell you just one more thing, you better do what you want und you start this thing! (siehe)

Länge des Buches: ca. 140.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Maryse Condé: Hugo der Schreckliche. Aus dem Französischen von Claudia Stein. Berlin: Elefanten Press 1997. S. 3–110 (= 108 Textseiten).

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Warm und grau

Frankfurt/M., 1. September 2019, 22:33 | von Charlemagne

Man wird halt auch älter, da ist es, fürchte ich, ganz normal, dass die Helden weniger werden. Und es ist ja auch nicht so, dass sie dann für immer weg sind, sie kommen nur anders daher. Dirk von Lowtzow zum Beispiel schreibt jetzt auch Bücher und hat graue Haare, ist aber immer noch der beste und schönste Musiker. Außerdem ist er damit in sprichwörtlich bester Gesellschaft, Rainald Goetz ist ja auch seit Jahren ganz grau, mein Apfelweinhändler Jens Becker ebenso und bei Christian Kracht dauert es bestimmt auch nicht mehr lange.

Genau andersherum verhält es sich hingegen mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die ist heute ganz bunt und überhaupt nicht mehr so schön grau wie früher, als Titelbilder noch selten und eine angenehme Überraschung waren und die Kommentare noch Frakturüberschriften hatten und gelesen wurden. An öffentlich-unglücklich intrigierende Herausgeber kann ich mich auch nicht erinnern.

Aber eigentlich soll dieser Text ganz woanders hin, nämlich, über Umwege, die ich der hiermit ausgerufenen und damit gleichzeitig auch wieder für beendet erklärten Michael-Angele-(auch grau!)-Festwoche zuschreibe, zum »Letzten Zeitungsleser«. Nach dem furiosen Schirrmacherritt (wir berichteten) musste ich das Buch natürlich auch sofort lesen. Es ist mindestens genauso toll, und hat sogar einen hidden bonus track. Denn schon allein bei der äußerlichen Betrachtung des Buches musste ich an so viele »wo kriegen wir hier in der Einöde jetzt noch eine FAZ«-Geschichten aus Familienurlauben denken, dass ich erst mal eine halbe Stunde schmunzeln und dann nur ein kleines bisschen um dieses mittlerweile wie selbstverständlich verlorene Ritual weinen musste. Und da haben wir noch gar nicht über die zweistündige Fahrt durch die staubtrockene Toskana gesprochen, um, überglücklich, eine FAZ vom Vortag zu ergattern, eine Mittwochsausgabe.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 165
Katja Kullmann: »Rasende Ruinen – Wie Detroit sich neu erfindet« (2012)

Düsseldorf, 23. August 2019, 13:16 | von Charlemagne

Das Buch von Katja Kullmann hat 90 Seiten und das passt natürlich ganz ausgezeichnet, da ich in den Neunzigern des letzten Jahrtausends in einem schmucken, im Gegensatz zu Detroit natürlich sehr sicheren, plüschig manikürten Vorort der Motor City in den Kindergarten ging. So viel zur Einleitung, oder, um den bekanntesten noch lebenden Sohn der Stadt zu zitieren: Welcome to Detroit.

Die zeitlose Idee, dass aus Ruinen irgendwann auch wieder etwas Neues aufersteht, lässt sich an Detroit tatsächlich sehr schön durchdeklinieren, und Katja Kullmann hat darüber ein schlaues kleines Buch geschrieben, trust me on that one (für interessierte Leser sei hierzu auch Jeffrey Eugenides‘ Roman »Middlesex« empfohlen, da werden die Geschichte der Stadt, der »white flight« und der Detroit Riot von 1967 sehr eindrücklich erzählt).

Die These allerdings, dass das bei Detroit irgendwann berlineske Züge annimmt, well, da war ich dann doch etwas skeptisch. Also hin, nachschauen, ohne Hoodie. Das war 2014, ich war zu Besuch aus der Windy City, und da sah downtown tatsächlich sehr nett aus, da saßen Menschen unter freiem Himmel und tranken überteuerten Kaffee, sehr zur Verwunderung meiner Mutter, die die Gegend von damals nur als forbidden inner city warzone kannte. Tja, was das ganze Geld von Dan Gilbert & Co. so angerichtet hat, Bilderbuchgentrifizierung halt.

Beim Verlassen der Stadt, vorbei am leuchtenden Comerica Park und auf dem Weg hinter die Fassade, denkt man dann aber doch rasend schnell wieder an den unsäglichen Begriff des »ruin porns«, der bringt das leider immer noch ganz gut auf den Punkt: die Stadt als ausgebranntes, trauriges Paradebeispiel für den Niedergang des American Dream, jetzt aber mit paar bunten Bildern an den Hauswänden.
 

Länge des Buches: ca. 160.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Katja Kullmann: Rasende Ruinen. Wie Detroit sich neu erfindet. Berlin: Suhrkamp 2012. S. 7–93 (= 87 Textseiten).

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»Once Upon a Time in Hollywood«

Hamburg, 18. August 2019, 14:37 | von San Andreas

… war diese Woche gleich zur Premiere … (Achtung, Spoilers. →)

… und fand den schon gut, all in all. Aber als Tarantino-Skeptiker freue ich mich, dass ich einer bleiben kann. Zwei Stunden Reenactment diverser Serien und Westernfilme (schön gemacht, granted) ist ein bissel dünn, Hommage hin oder her. 10 Sekunden Manson eingestreut, zu wenig, die Dynamik der Sekte hätte einen wunderbaren creepy Film abgegeben, stattdessen kriegen wir eine weitere Viertelstunde fiktives Saloongeschwafel. Und dann noch eine. Die Szene auf der Ranch mit Pitt und den Hippies indes sehr gut.

Viele loben Pitt, aber ich sah immer nur Pitt, DiCaprios Vorstellung hingegen ziemlich grandios, das leichte Stottern und seine Realisierung, ein has-been zu sein, fantastisch. Dagegen Pitt ein never-was, no Entwicklung there. Sharon Tate kriegt keine echte Dialogszene, auch schade.

Die Gewaltorgie am Ende passt nicht zum Rest, aber im Saal war sofort Stimmung: Endlich passiert mal was. Das war aber nicht die carefully aufgebaute Spannung, die sich entlädt (cos it wasn’t, so it couldn’t), sondern die Freude darüber, endlich die erwarteten eingedrückten Schädel zu sehen. Tarantinos poetic-licence-Kniff ist freilich genial, ähnlich wie in »Basterds«, nur besser.

Aber my biggest gripe ist der Erzähler, der nach zwei Stunden auf einmal auftritt und uns erzählt, was wir auf dem Screen sehen (Ach, die gehen ins Restaurant? Seh ich selbst, but thanks.) bzw. Dinge zusammenfasst, die Mr. T plötzlich keine Lust hat, filmisch zu erzählen. Da sage ich nur WTF. Selbiges war in »Hateful Eight« der Fall: Ach so, was ich vergessen hatte: Die Tussi hat eben den Kaffee vergiftet, hihi, sorry.

Anyhow, that said, »Hollywood« zu sehen hab ich auf keinen Fall bereut. Aber wenn ich die 10/10-Reviews von den Fanboys auf IMDb lese, denke ich nur ›Ach Du je, wie schrecklich: Diese Leute haben nie einen sehr sehr guten Film gesehen.‹ … 4/5
 

Richard D. – Das letzte Opernhaus

Hamburg, 1. August 2019, 10:10 | von Dique

Natürlich ist Richard Deiss nicht müde geworden und statistikt sich frisch und frei durch die Welt. Und natürlich beobachten wir weiter sein Treiben und sind immer mal wieder teilnehmend-beobachtend dabei. Das Projekt Opernbesuche ist abgeschlossen und wurde mit einem weiteren seiner rausgeschossenen Books on Demand manifestiert: »Kein Opernhaus in Oberhausen«.

Das Buch ist ein tollkühner Ritt durch ALLE Opernhäuser Deutschlands. So abgeschlossen wie das Projekt sein mag, noch gibt es unbesuchte Opern im Ausland und auf diese will sich Richard nun konzentrieren, aber wohl nicht in der gleichen Blitzgeschwindigkeit, in der er sich durch die ca. 99 Opern-Spielstätten Deutschlands gesessen hat. Er war ja nicht nur kurz da, wie sonst gern seine Art, er nahm ja immer auch eine Vorstellung mit – nach sechs Mal »Fidelio« in kurzer Spanne hat sogar er dann auch mal ein bisschen aufgestöhnt.

Vor ein paar Wochen habe ich Richard noch beim Besuch seiner letzten noch offenen Opernspielstätte begleitet, der Kammeroper im Allee Theater in Altona. Gegeben wurde in dem kuschligen, kleinen Haus »Offenbachs Traum«. Wir sitzen in der dritten Reihe und sind so nah dran wie selten. Die kleine Bühne hat sogar einen Orchestergraben und die Sänger schreiten ständig gefährlich nah am Bühnenrand und am Rande des Orchestergrabens herum. Eine ältere Dame, die direkt vor uns sitzt, gesteht in der Pause, dass sie sich nicht auf das Stück konzentrieren könne, aus Angst, einer der Sänger würde in die Tiefe des kleinen Orchestergrabens abrauschen. Diese Horrorvision beeinträchtigt nun wieder meine eigene Wahrnehmung im letzten Akt.

Richard kommt natürlich nicht einfach mal so irgendwohin, trifft sich mit dir und dann geht’s in die Vorstellung. Er würde ja vorher gern noch und man könnte ja zusammen und so weiter und so weiter. Wir wollen uns also in Buchholz treffen und von dort aus soll die Bossard Kunststätte besucht werden, von der ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Johann Michael Bossard betrieb in der Nähe von Jesteburg, mehr oder weniger mitten im Wald, eine Art Künstlerenklave à la Worpswede. Dort steht nun ein Gesamtkunstwerk aus Architektur, Skulptur und Malerei, das von seinem großzügigen Atelierhaus und dem sogenannten Kunsttempel dominiert wird. Der Kunsttempel ist eines der wenigen expressionistischen Gebäude im nordischen Backsteinstil und einfach ziemlich der Wahnsinn, wie diese ganze Kunststätte überhaupt.

Kurz vorher habe ich noch kleine Zweifel am Timing angemeldet. Die Kunststätte befindet sich eben nicht direkt in Buchholz, sondern irgendwo im Wald bei Jesteburg. Wie kommt man hin und wie kommt man wieder weg, und dann müssen wir ja auch wieder zurück nach Hamburg in die Oper? Laut Richard alles kein Problem, Taxi sei schon bestellt und auch für die Besichtigung habe man genug Zeit. Ich gewinne sogar noch eine halbe Stunde, denn ob meiner Zweifel kommt Richard dann nämlich doch etwas früher nach Buchholz. Er knapst die Zeit bei vorherigen Besichtigungen ab, die letzte Station vor Buchholz war Schneverdingen, der Eine-Erde-Altar in der Eine-Welt-Kirche. Der Altar versammelt Erd- und Sandproben aus aller Welt. Als Geologe ist Richard davon natürlich begeistert und kommt in entsprechender Hochstimmung in Buchholz an. Das Taxi ist dann auch schon da und alles läuft wie geschmiert.

Mit dem Zug geht es schließlich zurück nach Hamburg und wir treffen pünktlich in der Kammeroper in Altona ein, da reicht die Zeit sogar noch für eine Limo auf der kleinen Veranda im Hinterhof, bevor es losgeht. Bzw. – wie es so schön heißt in »Lazy Sunday«, der SNL-Performance von Andy Samberg und Chris Parnell aus dem Jahr 2005: »Now quiet in the theater or it’s gonna get tragic, / We’re about to get taken to a dream world of magic«, in diesem Fall aber nicht in die Traumwelt von Narnia, sondern die nicht weniger spektakuläre von E.T.A. Hoffmann.

Das Ende des wunderbaren Stücks, auf dieser schönen kleinen Bühne, sehe ich allerdings ganz allein, Richard muss weiterziehen, es geht nach Berlin und er will den letzten Zug nicht verpassen. Die alte Dame vor mir wirft mir am Ende noch einen wissenden Blick zu, wir sind beide erleichtert, dass keiner der Sänger im Orchestergraben verschwunden ist.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 164
Mayra Montero: »Bolero der Leidenschaft« (1991)

München, 31. Juli 2019, 16:55 | von Josik

Es ist doch eine schöne Idee, im Titel eines Romans einen bestimmten Tanz aufzuführen, der sich gleichzeitig auf den Namen der Autorin oder des Autors reimt, so wie hier »Montero / Bolero«, oder in voller Länge eben: »Mayra Montero: Bolero der Leidenschaft«. Eigentlich sollte man daraus mal ne ganze Reihe machen, z. B.: »Stephen King: Swing der Sinnlichkeit«, »Martin Walser: Salsa des Begehrens«, »Jens Balzer: Walzer der Wollust«, »Paula Fox: Discofox der Begierde« usw.

Mayra Montero ist eine kubanisch/puerto-ricanische Schriftstellerin, also gilt für sie wohl jene Devise, die einmal in der österreichischen Tageszeitung »Die Presse« zu lesen war, nämlich »dass in hispanoamerikanischer Tradition Pornografie nicht im zehnten, sondern im achten Kapitel stattzufinden hat«. Ich zählte natürlich sofort nach, und tatsächlich hat »Bolero der Leidenschaft« insgesamt acht Kapitel. Hier ist das achte auch gleichzeitig das letzte und mit nur drei Seiten sogar das kürzeste Kapitel. Aber ausgerechnet in diesem Schlusskapitel findet nun eigentlich so gut wie mehr oder weniger überhaupt gar keine Pornografie statt! Da ist man natürlich schön angeschmiert; offenbar wünscht die Autorin, dass man auch die vorhergehenden sieben Kapitel lesen soll.

Beispielsweise im zweiten Kapitel ist die Rede von einer Frau, die sich »den Rock zwischen die Beine schob und sich vor aller Augen masturbierte« (S. 32). Wahrhaftig, ich sage Euch, da steht nicht, dass sie masturbierte, sondern da steht, dass sie »sich« masturbierte! Und es ist doch wirklich skandalös, dass ein derart auf Masturbationsliteratur spezialisierter Verlag wie der Goldmann Verlag, der die deutsche Ausgabe dieses Monterobolero herausgebracht hat, nicht weiß, dass masturbieren im Deutschen kein reflexives Verb ist. Aber gut, Übersetzungsskandale passieren halt. Also, Leute, konzentriert Euch weniger auf den einen Übersetzungsfehler und mehr auf den Inhalt dieses Buchs, den wiederzugeben hier nun leider kein Platz mehr ist.

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Mayra Montero: Bolero der Leidenschaft. Roman. Aus dem Spanischen von Marion Lütke. München: Goldmann [1992]. S. 3–141 (= 139 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 163
Lya Luft: »Die Frau auf der Klippe« (1980)

München, 30. Juli 2019, 10:25 | von Josik

Leider kann ich kein Portugiesisch, aber wenn der Algorithmus von Google Translate mich nicht veräppelt hat, dann bedeutet »As parceiras«, wie der Originaltitel dieses ziemlich heftigen Romans lautet, übersetzt: »Die Partner«. Dass die deutsche Ausgabe den Titel »Die Frau auf der Klippe« trägt, ist schon ok, denn tatsächlich taucht am Anfang des Buches auf der Klippe eine Frau auf, und auch zwischendrin taucht sie ein paar Mal auf, und am Ende sind es eben sogar zwei Frauen auf der Klippe. Wunderlich hingegen ist das Cover der deutschen Ausgabe: Ein weißer Krug und ein schwarzer Krug stehen auf einer blauen Tischdecke mit roten Klecksen oder vielleicht auch Riesenmohnblumen. Im Roman selbst kommen weder ein weißer Krug noch ein schwarzer Krug noch eine blaue Tischdecke mit roten Klecksen oder Riesenmohnblumen vor. Wahrscheinlich soll das Bild symbolisch für irgendwas stehen, ich habe nur leider keine Ahnung, wofür.

Zum Vergleich habe ich mir im Internet die anderen Cover angekuckt, die diesem Buch etwa von brasilianischen Verlagen verpasst wurden, und war sehr überrascht, denn es ist wirklich ein bisschen irre, wie die Grafikleute sich in diesem Fall weltweit ausgetobt haben: Auf dem Cover der einen Ausgabe sind psychedelische Grünstreifen zu sehen, auf dem Cover einer anderen eine Blondine mit zwei Theatermasken, des Weiteren gibt es eine Ausgabe mit irgendwelchen ausgedachten Spielkarten auf dem Cover, und es gibt beispielsweise auch noch eine Ausgabe mit zwei Schemen vorne drauf, die gleichzeitig Schach spielen. Das alles hat mit dem Roman einfach überhaupt nichts zu tun, und es wäre interessant zu erfahren, wie es zu diesem globalen Coverpallawatsch gekommen ist.

Ich rate jedenfalls dazu, dieses Buch ganz unvoreingenommen nur ohne Cover zu lesen.

Länge des Buches: ca. 200.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Lya Luft: Die Frau auf der Klippe. Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner. Stuttgart: Klett-Cotta 2013. S. 3–128 (= 126 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)